Der Begriff Clinical Reasoning wird in der einschlägigen Literatur in der Regel nicht wortwörtlich übersetzt, sondern eher umschrieben. Nach Jones (1997, in Klemme/Siegmann 2006) wird Clinical Reasoning wie folgt verstanden: „Unter Clinical Reasoning sind die Denkvorgänge und die Entscheidungsfindungen des Therapeuten während der Untersuchung und Behandlung eines Klienten zu verstehen.“ Burtchen (2006a) zitiert diese Definition ähnlich und ergänzt, dass es sich beim Clinical Reaso-ning nicht ausschließlich um einen kognitiven Prozess handelt, sondern zusätzlich ist die Interaktion mit dem Betroffenen zu gestalten.
In der Erklärung von Wikipdia® (03.06.2011) werden die am therapeutischen Prozess von Erkrankten beteiligte Berufsgruppen ergänzend aufgeführt:„…klinisches Argumentieren, Schlussfolgerung, Beweisführung. Gemeint sind damit Denk-, Handlungs- und Entscheidungsprozesse, welche klinisch tätige Personen (Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten u. a.) entweder alleine oder in der Auseinandersetzung mit Berufskollegen und/oder dem betroffenen Klienten treffen…“
Clinical Reasoning ist damit ein Werkzeug, um therapeutischem Handeln eine Struktur zu geben und inter- und multidisziplinär mit der gleichen wissenschaftlichen Systematik vorzugehen. Ziel ist es, gemeinsam mit dem Klienten die bestmögliche Vorgehensweise und Begleitung im Rahmen seiner Möglichkeiten heraus zu finden. Der Klient steht somit im Mittelpunkt und wird ganzheitlich betrachtet.
In einem Mind Map (Anlage 20) wurde dargestellt, welche Kompetenzbereiche in das Clinical Reasoning eingebunden sind. Es sind umfassende Kenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen notwendig, dazu gehören beispielhaft die Psychologie, Soziologie und Kommunikation.
In der deutschsprachigen Literatur finden sich, wie in der Einleitung dargestellt, überwiegend Veröffentlichungen zum Clinical Reasoning, für die angrenzenden therapeutischen Berufe. Diätassistenten stehen hier noch am Anfang, erste Veröffentlichungen gab es im Jahr 2011 (Buchholz/Ohlrich 2011b, Pohl 2011b).
Auf der Ebene des VDD werden seit langem Bestrebungen zur Veränderung des Berufsstatus betrieben. Eine Akademisierung der Ausbildung und/oder die Einordnung der Diättherapie in die Heilmittelrichtlinie sind zwei beispielhafte Möglichkeiten um den Beruf des Diätassistenten in einem stärkeren wissenschaftlichen Kontext zu stellen. Dabei wirkt eine festgelegte und anerkannte wissenschaftlich therapeutische Vorgehensweise wie im Clinical Reasoning unterstützend für die Durchsetzung der vom VDD angestrebten Ziele.
Die bundesweite Einführung von dualen Studiengängen und die Modellklausel zur Erprobung von akademischen Ausbildungsgängen von Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten hat bewirkt, dass diese Berufe einen wissenschaftlichen Vorsprung gewinnen konnten. Diätassistenten können daran nur eingeschränkt, über für examinierte Diätassistenten offene Studiengänge, teilnehmen (www.vdd.de). Diese sind in der Regel eher berufsübergreifend als auf die speziellen Bedürfnisse von Diätassistenten ausgerichtet. Es wird somit zunehmend dringender die Professionalisierung von Diätassistenten im Rahmen monoprofessioneller Studiengänge zu forcieren.
Andere Berufsgruppen, wie Oecotrophologen, möchten den Bereich der Ernährungstherapie und –beratung ebenfalls für sich offen halten (VDOe 2011).
Clinical Reasoning setzt sich, wie in Anlage 20 dargestellt, aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen (Anlage 20). Für die Ausbildung sind zusätzlich unterschiedlicher Wissensbereiche und deren Vernetzung im Gehirn wichtig. Beushausen/Walther (2010) zählen vier Wissensbereiche für den therapeutischen Kontext von Logopäden auf, die miteinander verknüpft sind und zwischen denen eine Interaktion stattfindet.
Diese Auflistung wurde in Teilen für Diätassistenten modifiziert und sieht wie folgt aus:
Fachwissen/kognitive Ebene
- Physiologie, Pathophysiologie
- Diagnostik
- Psychologie
- Metawissen
- Soziologie
- Kommunikation
Handwerkliches Wissen, “Wissen wie“
- Praktisches Umsetzen der Lehrbuchinhalte
- Erfahrungen aus der praktischen Arbeit
- Implizites und explizites Wissen
Persönliches Wissen, aus der persönlichen Biografie
- Über sich und seine Person
o Eigene Stärken und Schwächen
- Bewusstsein für individuelle Denkstile
Stilles Wissen, impliziertes Wissen
- Kenntnisse und Fähigkeiten, die nicht explizit formuliert sind
- Durch Analyse des therapeutischen Denk- und Entscheidungsprozesses wird es verbalisierbar
Klemme/Siegmann (2006) haben für Physiotherapeuten eine ähnliche Wissensstruktur beschriebenen wie Beushausen/Walter. Die Bezeichnungen weichen in den Ausführungen von Klemme/Siegmann etwas von einander ab und werden zusammengefasst dargestellt.
- Biomedizinisches und klinisches Wissen
Erkenntnisse und Vermutungen der Grundlagenforschung
Abgespeicherte klinische Muster und Regeln, die Therapeuten in ihrer täglichen Praxis anwenden
- Deklaratives und prozedurales Wissen
Deklariertes Wissen bedeutet Faktenwissen, das gespeichert ist und abgerufen werden kann
Prozedurales Wissen bezeichnet das „Wissen wie“
- Explizites und implizites Wissen
Explizites Wissen ist eindeutig kodiert und dadurch eindeutig kommuni-zierbar
Impliziertes Wissen ist nicht oder nicht vollständig verbalisierbares und darstellbares Wissen; Handlungen, die gewissermaßen automatisch oder unbewusst ablaufen
- Persönliches Wissen
Persönliche Werte und Überzeugungen
- Erfahrungswissen
Alle Wissensarten werden für die Entscheidungsfindung herangezogen
Zusätzlich ist es wichtig zu wissen, wie die einzelnen Wissensarten entstehen bzw. im Gehirn abgespeichert werden. Im expliziten Gedächtnis sind Informationen gespeichert, die bewusst gelernt wurden und über das Nachdenken wieder abgerufen werden können (Abbildung 7). Dies findet sich in den beschriebenen Begriffen, wie explizites und implizites Wissen wieder. Das prozedurale Gedächtnis funktioniert, ohne dass wir uns bewusst an das Gelernte erinnern, ohne darüber Nachzudenken, es sind Automatismen entstanden. Dies können motorische Abfolgen oder die Anwendung wissenschaftlicher Verfahren, wie der Clinical Reasoning Prozess, sein. Beiden gemeinsam ist, dass ein Weg zu diesen automatischen Handlungen das Wiederholen bzw. Üben ist (Gerrig/Zimbardo 2008, Sprenger 2011).
Abbildung 7: Funktionen des Langzeitgedächtnisses; Sprenger 2011:161
Das neu erworbene Wissen soll nicht neben älterem Wissen abgespeichert werden, Ziel ist eine Vernetzung zwischen neuem und altem Wissen. Über Clinical Reasoning wird die Bildung dieser Strukturen, auch neuronale Netzwerke, geschaffen.
Im Rahmen der Ausbildung von Diätassistenten lässt sich die Verknüpfung der verschiedenen Wissensarten sowie der Prozess der „Automatisierung“ von Vorgehensweisen über das Individuelle Krankheitsskript und Übungen zum Clinical Reasoning Prozess anstoßen (siehe Punkt 11.2ff). Zu erwarten wäre dann eine schnellere Professionalisierung im Bereich des diättherapeutischen Handelns und ein schnelleres Erreichen des Kompetenz Stadiums (siehe Punkt 7.5 und Anlage 21).
Als Strategien im Entscheidungsfindungsprozess des Clinical Reasoning nennt Siegmann (2010) die Musterkennung (pattern regognition) und eine hypothetisch-deduktive...