Einleitung
„Wir alle schöpfen einen großen Teil unserer Lebenskraft über die Erinnerung und Vorstellungskraft aus dem Brunnen, der durch liebevollen Kontakt geschaffen wurde.“
Barbara Wanderer, Körperpsychotherapeutin
Lernen von Anfang an
Die Bedeutung der ersten drei Lebensjahre für die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen wurde unter Experten lange kontrovers diskutiert. Mittlerweile herrscht Einigkeit, dass alle Erfahrungen der ersten drei Lebensjahre einen prägenden Einfluss auf das weitere Leben ausüben. Das hängt mit den sensiblen Entwicklungsphasen der frühen Kindheit zusammen, in denen eine besondere Empfänglichkeit für Reize aus der Umwelt überlebensnotwendig ist. Die aktuelle neurobiologische Forschung bestätigt, anhand bildgebender Verfahren (MRT), mit deren Hilfe Einblicke in die komplexe Arbeitsweise des Gehirns erst möglich wurden, dass alle Wahrnehmungsreize aus der Umwelt das zentrale Nervensystem eines Kleinkindes formen und ausbilden, je nach individueller Erfahrung. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Prozess des Lernens von Anfang an der enge Körperkontakt des Neugeborenen mit seinen engsten, vertrauten Bezugs- und Beziehungspersonen (vgl. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst).
Unmittelbar nach der Geburt nimmt ein Säugling Kontakt zu seinen wichtigsten Bezugspersonen auf, indem er deren Mimik nachzuahmen versucht. Da das Gehirn zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine mimischen Vorerfahrungen gemacht hat, ist diese früheste Kontaktaufnahme nur möglich, weil der Säugling bereits bei der Geburt über ein Nervenzellsystem im Gehirn verfügt, das ihn zur Kontaktaufnahme befähigt: die Spiegelneuronen im Gehirn. Sie wirken zunächst wie eine unbewusste Brücke zwischen dem „Ich und Du“, indem durch reine Beobachtung einer Bewegung oder einer Emotion (Gesichtsmimik, Körpersprache) bei beiden Personen die gleichen Gehirnareale aktiviert werden. Mit Hilfe der Spiegelneuronen werden Kontaktaufnahme und Beziehungsentwicklung erst möglich. Nur Menschen können die Spiegelneuronen eines Säuglings aktivieren – kein Kuscheltier, keine beruhigenden Spieluhren oder Medien. Wie alle Nervenzellen funktionieren auch die Spiegelneuronen nach dem „Gebrauchs- und Verlust-Prinzip“. Das bedeutet, sie müssen so früh wie möglich durch häufigen Körper- und Blickkontakt aktiviert werden, weil sie das Grundgerüst für jedes weitere Imitationslernen des Säuglings bilden.
Der erste menschliche Dialog
Alle Eltern nehmen in der Regel unbewusst und intuitiv einen richtig gewählten nahen Abstand zum Gesicht des Säuglings ein, um mit animierenden Gesichtsausdrücken die Spiegelneuronen des Babys immer wieder zu aktivieren, und sie ernten eine sehr spontane Antwort: Das Baby ahmt die Zungenbewegung, das Kräuseln der Lippen, den gespitzten Mund von Mutter und Vater nach, obwohl es diese Zungen-Mund-Bewegung noch nicht „gelernt“ hat.
Ihre maßgebliche Bedeutung sowie ihre positive Auswirkung auf das weitere Leben erfahren die Spiegelneuronen eines Babys jedoch erst, wenn ihre Aktivierung an ein echtes Liebes- und dauerhaftes Beziehungsangebot der Eltern gebunden bleibt. Denn es werden im ersten Mienenspiel nicht „nur“ Mundbewegungen eingeübt, die eine erfolgreiche Nahrungsaufnahme garantieren und im Übrigen auch Voraussetzungen für die mundmotorische und neurobiologische Sprachanbahnung schaffen, es entsteht über das wechselseitige Aufnehmen und Zurückgeben von Signalen ein erster menschlicher Dialog, der Beginn einer menschlichen Beziehung.
Der Dialog lebt davon, dass nicht nur wechselseitig imitiert wird, sondern dass immer neue Signale im Wechsel ausgesendet werden, die immer neue Anreize und Varianten für das Baby schaffen, zum einen um seine Aufmerksamkeit durch Neues zu wecken, aber auch, um den Dialog lebendig zu halten. Das Mienenspiel wird sehr schnell durch nachgeahmte Lautäußerungen des Babys angereichert und motiviert die Eltern, sich ebenfalls imitierend der „Babysprache“ zu bedienen. Eltern, die mit ihren Babys in der „Babysprache“ kommunizieren (in der Regel auch mit höherer Stimmlage), sind sehr nah mit ihren Babys verbunden, was sich auf den weiteren Bindungsaufbau positiv auswirkt.
Sie denken sich immer neue Varianten der Kommunikation im spielerischen Kontakt aus und entwickeln eine Kommunikationsstufe, die auf Körpersprache basiert und ein Verstehen ohne viele Worte ermöglicht. Gelingt diese erste emotionale Form des Kontakts, kann sich Urvertrauen entwickeln. Das Baby fühlt sich sicher, weil es verstanden wird und die Eltern auf seine Körpersprache angemessen und verständnisvoll reagieren.
Die Hirnstromkurve im EEG eines Babys verändert sich messbar, wenn es sogenannte „zärtliche Imitationen“ (Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, S. 61) erfährt. Auch der vermehrte Ausstoß körpereigener Opioide durch menschliche Zuwendung, der mit einer Reduzierung des Schmerzempfindens einhergeht, ist in wissenschaftlichen Studien sowohl bei Babys, als auch bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mehrfach belegt worden.
Der Aufbau einer sicheren Bindung
Die frühen Spiegelungen ebnen den Weg für den Aufbau einer „sicheren Bindung“ (Bowlby, Bindung) und für die Entwicklung von „emotionaler Intelligenz“ (Goleman, Emotionale Intelligenz). In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass eine regungslose Mimik, die von einer erwachsenen Bezugsperson ausgeht, ein Baby so verunsichern kann, dass es unruhig wird und sich vom regungslosen Gesicht aktiv abwendet. Wiederholt man die regungslose Mimik ein paar Mal, führt dies zum emotionalen Rückzug des Babys.
Ein Baby sendet von Geburt an Körpersignale aus, damit es umsorgt, gefüttert und geschützt wird. Diese Verhaltensweisen des Babys werden als „Bindungsverhalten“ bezeichnet und sollen sein Überleben sichern. Das Bindungsverhaltenssystem wird daher auch als Schutzsystem bezeichnet. Das ‚Kuschelhormon‘ Oxytocin spielt für den Bindungsaufbau und eine befriedigende Kommunikation eine wichtige Rolle.
Bindungsverhalten äußert sich zuallererst in Schreien und Weinen und weitet sich immer zielgerichteter aus: z. B. Anlächeln, Ärmchen entgegenstrecken, Anschmiegen, Festklammern usw. Alle Signale, die vom Kind geäußert werden (d. h. Bindungsverhaltensweisen des Kindes), sind an die Bindungsperson gerichtet und veranlassen die Bindungspersonen dazu, sich intensiv um das Kind zu kümmern, seine Bedürfnisse zu befriedigen und Sicherheit zu vermitteln. Das Bindungsverhalten eines Babys hält so lange an, bis es sich sicher gebunden fühlt, sein Hunger gestillt und sein Wunsch nach Körperkontakt und Kuscheln befriedigt ist. Erst dann kann sich das Baby entspannen und für interessante Sinnesreize in seiner Umwelt öffnen (Aktivierung des Explorations- bzw. Lernsystems). Lernen und eine umfassende Sinnesschulung gelingen nur in einer entspannten körperlichen und seelischen Verfassung des Kleinkindes.
Da Babys sich selbst noch nicht kennen bzw. erkennen können, sind sie auf „zärtliche Imitationen“ dringend angewiesen, um den geistigen Prozess der Selbsterkenntnis anzubahnen und aufzubauen. Die Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen (Beginn der Selbstwahrnehmung /„Ich bin Ich“) beginnt sich erst zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat auszubilden. In der Zeit davor erlebt das Baby die Welt, Objekte und Spielzeuge ausschließlich in interaktiven Beziehungen.
Der Weg zum Ich-Bewusstsein
Der Weg zum Ich-Bewusstsein geschieht, nach Beobachtungen von Säuglingsforschern, in vielen kleinen Etappen:
- Bereits in den ersten Lebensmonaten erkennt und unterscheidet das Baby an Geruch, Stimme und Aussehen fremde von vertrauten Personen.
- Bereits mit 2 Monaten ist das Baby bemüht, eine gefühlsmäßige Übereinstimmung mit der Mutter zu erreichen.
- Mit dem 3. Monat erlebt das Baby seine Selbstwirksamkeit, indem es Verhaltensänderungen seiner Bezugspersonen durch eigene Äußerungen (z. B. lachen, weinen) erreicht. Es beginnt mit seinem Blick dem Blick der engen Bezugspersonen in eine bestimmte Richtung zu folgen.
- Ab dem 6. Monat lässt sich das Baby von den Gefühlen anderer anstecken. Es lacht und weint mit anderen und imitiert deren Gefühlsäußerungen. Es beginnt ebenfalls, den Ablauf einer zielgerichteten Bewegung abzuspeichern (z. B. ein Löffel wird vom Teller zum Mund geführt).
- Zwischen dem 4. und 9. Lebensmonat erforscht das Baby aktiv seine Umwelt durch Lutschen, Lecken, Greifen, Fühlen, Tasten. Es macht die Erfahrung, dass es mit seinen Händen und Füßen etwas in Bewegung bringen kann und zielgerichtete Handlungen möglich sind. Neugier und Forscherdrang sind noch eng an die Sicherheit vermittelnden Bindungspersonen gebunden.
- Die Trennungsangst, die sich ab dem 8. Lebensmonat als „Fremdeln“ oder „Achtmonats-Angst“ äußert, fällt von Kind zu Kind unterschiedlich aus, sollte als Stressfaktor für das Kleinkind aber immer ernst genommen werden. Je sicherer gebunden sich das Kleinkind fühlt, umso schneller wird es seine Trennungsangst überwunden haben, um sich erneut für seine Umwelt zu öffnen und neue...