Denkt man die dargestellte Entwicklung konsequent weiter, so besteht die Gefahr, dass sich die Auslegungsergebnisse zukünftig noch stärker voneinander entfernen werden. Dann droht ein Mehr an Qualifikationskonflikten und Doppelbesteuerungen. Demgegenüber steht ein Weniger an Rechtssicherheit und Praktikabilität. Es ist daher an der Zeit die derzeitige Betriebsstättenauslegung kritisch zu hinterfragen: Ist einer der beiden Betriebsstättenbegriffe „richtiger“ als der andere? Vermag überhaupt eine der dargestellten Interpretationen zu überzeugen? Oder ist die Betriebsstätte im 21. Jahrhundert womöglich gar kein geeigneter Anknüpfungspunkt mehr für die Abgrenzung der Besteuerungsrechte? Diese Fragen sollen im Rahmen einer Gesamtdiskussion beantwortet werden. Hierzu werden sowohl das Auslegungsverständnis der OECD (dazu 1.) sowie das nationale Begriffsverständnis (dazu 2.) hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen untersucht. Abschließend werden mögliche Lösungswege aufgezeigt. Im Fokus steht dabei insbesondere die Frage nach der Zukunft des Verfügungsmachtkriteriums.
Unternehmen streben nach größtmöglicher Rechtssicherheit. Dieses Bedürfnis hat sich vor dem Hintergrund stetig evolvierender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen noch weiter verstärkt. Bei grenzüberschreitenden Aktivitäten muss für Unternehmen klar erkennbar sein, wo und unter welchen Voraussetzungen ihre Gewinne besteuert werden. Zentrale Aufgabe des Betriebsstättentatbestandes ist es, den Unternehmen die hierfür erforderliche Klarheit und Bestimmtheit zu gewährleisten.[187]
Die Entwicklung hin zu einer interpretativ geschaffenen „unechten“ Dienstleistungsbetriebsstätte wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
Es ist augenfällig, dass bislang sämtliche Anpassungen des Betriebsstättenbegriffs im OECD-MK vorgenommen wurden, während das OECD-MA selbst unberührt blieb.[188] Der OECD-MK wird von den Vertragsstaaten zwar als Auslegungshilfe zum OECD-MA herangezogen. Er entfaltet jedoch keine rechtliche Bindungswirkung.[189] Dennoch haben die unverbindlichen Ausführungen des OECD-MK die traditionelle Auslegung der Betriebsstätte quasi „durch die Hintertür“ verändert. Mit der Aufnahme des Anstreicherbeispiels in den Kommentar wurde insbesondere das Verständnis der Verfügungsmacht schlagartig aufgeweicht. Das Merkmal sollte nunmehr bereits dann erfüllt sein, wenn die Tätigkeit an einem Ort ausgeübt wurde, der dem Unternehmen zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurde. Dies trifft faktisch auf alle Dienstleistungen, die über einen nicht unerheblichen Zeitraum hinweg erbracht werden zu. Eine solche Auslegung steht jedoch im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 OECD-MA.[190] Danach muss die Unternehmenstätigkeit im Quellenstaat „durch“ eine Geschäftseinrichtung ausgeübt werden. Die Geschäftseinrichtung muss dem Unternehmen dabei gerade als Mittel zum Zweck der Ausübung der Unternehmenstätigkeit dienen. Das angestrichene Gebäude aus Rz. 4.5 OECD-MK ist somit richtigerweise als bloßes Tätigkeitsobjekt und keineswegs als Geschäftseinrichtung anzusehen. Über diese terminologische Differenzierung setzt sich der OECD-MK hinweg. Er lässt für die Betriebsstättenbegründung bereits genügen, dass die Tätigkeit „an“ einer Geschäftseinrichtung oder in den Räumen des Auftraggebers ausgeübt wird. Eine solche Auslegung überdehnt jedoch die Wortlautgrenze des Art. 5 OECD-MA. Die Missachtung der natürlichen Auslegungsgrenzen wirkt sich zum einen negativ auf die Rechtssicherheit aus. Zum anderen stellt sie die Akzeptanz des OECD-MK als Auslegungsquelle in Frage.[191]
1.1.2 Bestimmtheit
Darüber hinaus konterkariert das Modell der „unechten“ Dienstleistungsbetriebsstätte anderweitige Ausführungen des OECD-MK. Gemäß den Rz. 2 und 4 OECD-MK setzt die Existenz einer Betriebsstätte eine feste Geschäftseinrichtung sowie eine faktische Verfügungsmacht hierüber voraus.[192] Diese Randziffern existieren seit 1977 in unveränderter Form. In der 2003 neu aufgenommenen Rz. 4.5 OECD-MK genügt hingegen schon die Anwesenheit am Tätigkeitsort über einen längeren Zeitraum hinweg.[193] Im Ergebnis beinhaltet der OECD-MK damit zwei divergierende Auffassungen zur Betriebsstättenbegründung. Diese können im Einzelfall zu diametral entgegengesetzten Auslegungsergebnissen führen.[194] Das wiederum verstößt sowohl gegen das Bestimmtheitsgebot als auch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit.[195]
Die Einführung der Rz. 42.23 OECD-MK im Jahr 2008 hat die wachsende Bedeutungslosigkeit des Kriteriums der Verfügungsmacht auf internationaler Ebene nochmals verstärkt. Der Formulierungsvorschlag lässt für die Begründung einer Betriebsstätte im Wesentlichen schon eine gewisse Beständigkeit der Tätigkeit im Quellenstaat genügen. Auch die echte Dienstleistungsbetriebsstätte bietet jedoch Raum für Kritik. Etliche Einzelfragen sind noch immer ungeklärt.[196]
Die echte Dienstleistungsbetriebsstätte verzichtet gänzlich auf das Vorliegen einer festen Geschäftseinrichtung. Die Ausführungen des OECD-MK dürfen das OECD-MA grundsätzlich nur innerhalb der Grenzen des traditionellen Auslegungskanons konkretisieren. Die Auslegungsgrenze ist erreicht, wenn der natürliche Wortsinn ad absurdum geführt wird.[197] Eine Betriebsstätte ohne feste Geschäftseinrichtung ist mit dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 OECD-MA nicht vereinbar.[198] Die Kommentarausführungen stehen damit im Widerspruch zum Abkommenstext. Die Grenzen der zulässigen Auslegung sind überschritten. Dies wäre vermeidbar gewesen. Statt im OECD-MK hätte die Dienstleistungsbetriebsstätte auch direkt im Abkommenstext selbst manifestiert werden können.[199] Das Vorgehen der OECD hinsichtlich der Dienstleistungsbetriebsstätte ist damit widersprüchlich. Zum einen soll der Dienstleistungsbetriebsstätte lediglich der Status eines subsidiären Alternativtatbestandes zukommen. Zugleich statuiert der Formulierungsvorschlag eine Betriebsstättenfiktion. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen wird das Unternehmen damit genauso behandelt wie eine klassische Betriebsstätte. Im Ergebnis sind Art. 5 OECD-MA und Rz. 42.23 OECD-MK damit gleichstufige Alternativen. Diese Aufwertung „durch die Hintertür“ stellt wiederum die Rolle des OECD-MA in Frage. Indem die OECD den Vertragsstaaten zusätzliche Handlungsoptionen abseits des eigentlichen Abkommenstexts einräumt, verliert sie ihr selbstgesetztes Ziel zunehmend aus den Augen. Eine einheitliche bzw. sich angleichende Anwendung des OECD-MA lässt sich so nur schwerlich erreichen.[200]
Im Gegensatz zur rein interpretativ geschaffenen unechten Dienstleistungsbetriebsstätte ist die echte Dienstleistungsbetriebsstätte zumindest ausdrücklich im OECD-MK manifestiert.[201] Relativierend ist jedoch anzumerken, dass der OECD-MK den Begriff der „Dienstleistung“ nicht definiert. Dies ist befremdlich, da die Erbringung einer Dienstleistung faktisch der wichtigste Anknüpfungspunkt der Dienstleistungsbetriebsstätte ist.[202] Rz. 42.29 OECD-MK statuiert lediglich ein Negativbeispiel. Danach soll der Fischfang sowie der anschließende Verkauf der Fische keine Dienstleistung darstellen.[203] Hieraus lassen sich jedoch keine allgemeingültigen Rückschlüsse auf die Definition der Dienstleistung ziehen.[204] Eine eindeutige Abgrenzung des Anwendungsbereichs wäre daher wünschenswert gewesen.[205]
Ferner vermag die echte Dienstleistungsbetriebsstätte auch dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und -klarheit nicht hinreichend nachzukommen. Kern der Betriebsstättenbesteuerung ist der Gedanke, dass nur eine intensive geschäftliche Verwurzelung im Quellenstaat ein Besteuerungsrecht desselben begründen soll.[206] Die Anforderungen an diese Bindung sind grundsätzlich hoch. Auf diese Weise sollte ursprünglich ein gewisses Maß an Rechtsklarheit geschaffen sowie der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr gefördert werden.[207] Das „klassische“ Betriebsstättenverständnis erfasst Dienstleistungstätigkeiten in der Regel nicht. In vielen Fällen fehlt es an der festen Geschäftseinrichtung im Quellenstaat. Darüber hinaus werden Dienstleistungen oft mittels Ressourcen aus dem jeweiligen Ansässigkeitsstaat erbracht.[208] Daher mangelt es zumeist an der gem. Art. 5 Abs. 1 OECD-MA erforderlichen...