Eckhart G. Franz
Zur politischen Landeskunde Hessens
Am Beginn einer hessischen Landeskunde stehen fast zwangsläufig die Kapitel 30 und 31 De Chattorum regione der Germania des römischen Geschichtsschreibers Cornelius Tacitus, die mit vollem Titel wohl De origine et situ Germanorum hieß.1 Dass die etymologische Verknüpfung der Chatten mit den erstmals in einem päpstlichen Sendschreiben von 738 an den Missionar Winfrid Bonifatius belegten Hassi nach wie vor strittig ist, hat die späteren Landgrafen von Hessen nie gehindert, sich als Cattorum princeps zu bezeichnen.2 Noch in der latinisierten Promotionsurkunde der Universität Köln aus dem Jahre 1956 erscheint der Herkunftsort des Verfassers mit ex Marpurgo Cattorum.
Der germanische Stamm der Chatten, der sich im Zuge der Völkerwanderung vor der Zeitenwende in der zuvor keltisch besiedelten Berg- und Hügellandschaft des heutigen Niederhessen um die Flüsse Fulda, Eder und Lahn festgesetzt hatte, rückte mit der Eroberung des mit einem Ring von Wallburgen befestigten Hauptorts Mattium (heute: Metze bei Gudensberg) durch das Römerheer des Augustus-Enkels Germanicus im Jahre 15 nach Christi ins Licht der Geschichte. Tacitus vergrößerte das Gewicht dieses militärischen Erfolgs, indem er die besondere Tapferkeit und Disziplin der Chatten hervorhob. Ihr Siedlungsgebiet reichte zwar, wie der lateinische Name des späteren Wiesbaden, der nach einem Teilstamm der Chatten benannten Aquae Mattiacae, belegt, bis in den Rheingau. Doch blieb der Hauptstamm letztlich außerhalb der Befestigungslinie des römischen Limes am Nordrand der Wetterau, die auch nach ihrer Zerstörung durch die in den Rhein-Main-Raum vorgedrungenen Alemannen im 4. Jahrhundert eine bis in die jüngste Zeit nachwirkende Sprach- und Kulturgrenze geblieben ist: Im Süden des Limes spricht man Rheinfränkisch, das, was der heutige Fernsehzuschauer unter Hessisch versteht, nördlich davon Mitteldeutsch, die althessische Mundart, die im Meißner- und Werraland vom Thüringischen abgelöst wird.
Die in mehrere Teilstämme aufgesplitterten Chatten verblieben in ihrem Siedlungsbereich, als sie mit der Vertreibung der Alemannen durch den Frankenkönig Chlodwig um 500 dem fränkischen Großreich eingegliedert wurden. Die Gerichts- und Verwaltungseinheiten der Gaue, zu denen neben dem bereits genannten Hessengau mit dem chattischen Kernland um die Gerichtsstätte Maden bei Gudensberg der Lahngau mit Marburg, die Wettereiba, der Niddagau wie auch der Rhein- und Maingau zählten, reichen wohl noch in die vorfränkische Zeit zurück. Mit der Franken-Herrschaft kam die Christianisierung des Landes, deren symbolischer Höhepunkt die Fällung der heidnischen Donareiche bei Fritzlar-Geismar durch den zum Missionsbischof bestellten Angelsachsen Winfrid/Bonifatius 723 werden sollte. Wirkmächtiger als sein kurzlebiges Bistum Büraburg wurden die Klostergründungen in Fulda, Hersfeld und Lorsch. Unter Karl dem Großen, der 794, wenige Jahre vor der Erneuerung der römischen Kaiserwürde, in der damit erstmals belegten Königspfalz Franconofurd eine große Reichssynode abhielt, wurde das Rhein-Main-Gebiet zum Kernland seines Reiches, während das heutige Nordhessen mit der wichtigen Weinstraße Aufmarschgebiet gegen die widerspenstigen Sachsen war.
Am Widerstand der Sachsen scheiterte der 910 als Nachfolger der Karolinger zum König des fränkischen Ost-Reichs gewählte Konrad aus dem fränkischen Grafengeschlecht der Konradiner, die mit Lahn- und Hessengau in herzogsgleicher Stellung fast den Gesamtraum des heutigen Hessen beherrschten. Unter den ottonischen Sachsenherrschern gewann das nordhessisch-thüringische Grenzgebiet an Bedeutung: Den Königshof in Eschwege schenkte Kaiser Otto II. der Byzantinerin Theophanu, deren Tochter Sophie das Kloster Cyriaxberg gründete; Stift Kaufungen am Hohen Meißner war Witwensitz der letzten Ottonenkaiserin Kunigunde. Der erste Salier-Herrscher Konrad II. berief seinen Bannerträger, den schwäbischen Grafen Werner, zum Herren des Hessengaus, während die Grafen Giso als Erben der Konradiner im Lahngau Erbauer der erst vor einigen Jahren ergrabenen Turmburg wurden, deren Reste sich unter dem Marburger Schloss befinden. Als beide Grafenfamilien zu Beginn des 12. Jahrhunderts in rascher Folge ausstarben, fiel ihr Besitz an die wenig später zu Landgrafen erhobenen Ludowinger in Thüringen. Landgravius Thuringiae et rector Hassiae (Landgraf Thüringens und Beherrscher Hessens) nannte sich Landgraf Ludwig III. in einer Urkunde des Jahres 1189, kurz bevor er mit Friedrich Barbarossa auf dem Kreuzzug zu Tode kam.
Auf dem Kreuzzug starb eine Generation später 1227 auch der gleichnamige Neffe, Landgraf Ludwig IV., dessen junge Witwe Elisabeth von Ungarn zur Stamm-Mutter des Hauses Hessen werden sollte. Regierender Landgraf auf der Wartburg wurde für Elisabeths früh verstorbenen Sohn ihr Schwager Heinrich Raspe, während sie an ihrem Witwensitz Marburg den Ruf einer Heiligen erwarb, der vom Papst schon 1236, wenige Jahre nach ihrem frühen Tod, offiziell bestätigt wurde. Den Schutz der Grablege in der neu errichteten gotischen Elisabethkirche übernahm der Deutsche Orden mit dem zum Hochmeister bestellten Schwager Konrad, dessen Schild mit dem gestreiften Löwen zum künftigen Landeswappen werden sollte. Das hessische Nebenland hatte unter den Ludowingern, denen zahlreiche Stadtgründungen zu verdanken sind, eine gewisse Selbstständigkeit gewahrt. Nach dem Tod des noch im Jahr zuvor zum Gegenkönig Friedrichs II. von Hohenstaufen erhobenen Heinrich Raspe proklamierte Herzogin Sophie von Brabant, Elisabeths Tochter, 1247 ihren erst 3-jährigen Sohn als puer de Hassia (Kind von Hessen) und Enkel der Heiligen zum künftigen Landgrafen von Hessen. Schwieriger als der Ausgleich mit den in Thüringen nachfolgenden Wettinern, die beim offiziellen Regierungsantritt Heinrichs 1264 u.a. die Werra-Städte an Hessen abtraten, erwies sich die Einigung mit dem lange widerstrebenden Erzbistum Mainz, die erst 1290 endgültig besiegelt wurde. Zwei Jahre später verlieh der neu gewählte König Adolf von Nassau Landgraf Heinrich mit dem Reichslehen der Boyneburg den Rang eines Reichsfürsten.
Der Schlachtruf Hessenland, mit dem ein Trupp vom Jung-Landgrafen Otto geführter Ordensritter 1360 gegen die weit entfernten Litauer zu Felde zog, galt allerdings damals nur für die relativ begrenzten althessischen Gebiete. Dem Bemühen um eine Ausweitung der landgräflichen Herrschaft und Beseitigung der räumlichen Trennung von Ober- und Niederhessen widerstrebten die Grafen, Adligen und Städte in den ehemaligen Reichslanden, die sich zunächst im 1373/74 zerschlagenen Sterner-Bund, dann im 1422 begründeten Wetterauer Grafenverein verbanden. Einen Wandel brachte nach der Lehnsauftragung der Grafen von Waldeck und von Sayn wie der Edelherren von Plesse und von der Lippe im Norden des Landes der Anfall der Doppel-Grafschaft Ziegenhain mit dem kinderlosen Tod Graf Johanns II. 1450, der die erstrebte Landbrücke zwischen den Landen zu Hessen und an der Lahn schuf. Im Kloster Spieskappel unweit des gemeinsamen Landtagsorts am Spieß dichtete um diese Zeit ein Prämonstratenser-Mönch: Laudabilis cum gente est terra Hassia (Würdig des Lobes ist mit seinem Stamme das Land Hessen. O tüchtigstes Hessen, weitberühmter, friedlichster Stamm!).
Den Vorstoß zum Rhein und damit in die große Politik ermöglichte die 1457 vereinbarte Heirat des erst 16-jährigen Landgrafen-Sohnes Heinrich (III.) mit der Erbtochter Anna von Katzenelnbogen. Der Besitz des durch die Rheinzölle reich gewordenen Grafenhauses von Katzenelnbogen mit der Niedergrafschaft um Rheinfels/St. Goar und der oberen Grafschaft um Darmstadt fiel durch den Erbfall von 1479 an die hessischen Landgrafen. Der humanistische Versuch, aus dem zu Melibocus latinisierten Malchen im Odenwald einen Chattimelibocus zu machen und damit eine historische Verknüpfung zu Katzenelnbogen zu konstruieren, war kaum überzeugend. Wichtiger für die neugewonnene Bedeutung Hessens war es, dass die vom letzten Katzenelnbogener Grafen Philipp als Mitgift für den Schwiegersohn durchgesetzte Teilung Hessens bereits in der folgenden Generation wieder entfiel. Da der Sohn Landgraf Heinrichs des Reichen, der diesem in den mit Oberhessen verbundenen Katzenelnbogenbesitz nachfolgte, ohne Nachkommen starb, wurde das Landgrafenerbe 1500 in der Hand seines Kasseler Vetters, Landgraf Wilhelms II. des Mittleren zusammengeführt. Kurz zuvor war den Landgrafen auf...