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E-Book

Das Leben geht weiter

AutorWilko Johnson
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641201548
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Als der legendäre Gitarrist Wilko Johnson im Jahr 2012 zum Arzt geht, um einen Knoten im Bauch untersuchen zu lassen, bekommt er folgende Diagnose: »Sie haben diese Masse in ihrem Magen und ihrer Bauchspeicheldrüse. Leider können wir nicht operieren. Sie haben Krebs.« Man sagt ihm, er hätte noch etwa zehn Monate zu leben. Statt in Panik zu verfallen, überkommt Johnson eine innere Ruhe. Und er beschließt, die letzten Monate intensiv zu erleben und all das zu tun, was er schon immer vorhatte. Er geht auf große Abschiedstour, reist an Orte, die er immer schon sehen wollte, nimmt ein Farewell-Album mit Roger Daltrey von The Who auf, das auf Platz 3 der Charts klettert ... und macht einfach immer weiter, ohne zu sterben. Die Autobiografie von Wilko Johnson ist eine unglaubliche Überlebensgeschichte, die Mut und Hoffnung macht.

Wilko Johnson, geboren am 12. Juli 1947als John Peter Wilkinson, ist ein englischer Sänger, Gitarrist, Songwriter und Schauspieler. Bekannt wurde er in den 1970er-Jahren als Gitarrist der einflussreichen Pubrockband Dr. Feelgood, die für viele Punkbands ein Vorbild waren. 2012 wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium festgestellt, woraufhin er sich auf Abschiedstournee begab. 2014 unterzog er sich einer weiteren Operation, in deren Verlauf ihm drei Kilogramm Tumor entfernt wurden. Daraufhin wurde er als krebsfrei erklärt.

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Leseprobe

KAPITEL 1

Mein Name ist Wilko Johnson. Ich wurde 1947 als John Wilkinson auf Canvey Island geboren, einer Insel in der Themsemündung. Ich habe eine drei Jahre ältere Schwester und einen Bruder, Malcolm, der ein Jahr jünger ist. Canvey Island war mal Sumpfgebiet, zur Besiedelung zurückgewonnen von holländischen Pionieren im siebzehnten Jahrhundert. Flaches Land, umgeben von Ufermauern zum Schutz vor Hochwasser – ich prahle gern damit, unter dem Meeresspiegel zur Welt gekommen zu sein.

In meiner Kindheit war die Insel ein Ort voller Bauernhöfe und unbefestigter Straßen. Die Menschen lebten in roh verputzten Bungalows, Wohnwagen, sogar Eisenbahnwaggons. Nach Westen hin waren die ebenen Äcker von Ölförderanlagen begrenzt. Ich kann mich noch an das ständige Pochen der Pfahlrammen erinnern, auch an die Schornsteine und Türme, die in den westlichen Horizont wuchsen, als die Shell-Haven- Ölraffinerie gebaut wurde, gleich hinter dem kleinen Fluss. Meine Mutter erzählte mir damals, der große Turm hieße Cat Cracker, also Katzenzermalmer – und das war schon ein starkes Stück für einen kleinen Jungen.

Die Raffinerie schaute meine gesamte Kindheit lang auf mich herab. Nachts das Schimmern der elektrischen Lichter und großen Flammen, die aus den Schornsteinen leckten. War der Himmel zugezogen, spiegelten die Flammen sich in den Wolken wider und warfen ein flackerndes, Milton’sches Licht auf die Insel, als wäre sie ein entlegener Vorort des Hades. Im Tageslicht aber sahen die Türme in der Ferne blau und ätherisch aus, eine Traumstadt außer Reichweite.

Im Februar 1953 – ich war gerade fünf Jahre alt und in die Schule gekommen – zerstörte eine desaströse Flut Canvey Island. Hohe Springfluten und Sturmwinde erzeugten eine große Welle, die über Ostengland und die Themsemündung hinwegfegte, wo sie auch Canvey Island traf. Inmitten einer frostigen Nacht brach ein Teil der dreihundert Jahre alten Ufermauer ein, und das Meer bahnte sich seinen Weg in die Bungalows und Wohnwagen, bis zu ihren schlafenden Bewohnern. Sechsundfünfzig Menschen verloren ihr Leben.

Da mein Vater als Gasinstallateur auf Abruf arbeitete, hatten wir dieses seltene Gerät: ein Telefon – Canvey 113, Apparat 9 –, verbunden mit der Schaltzentrale der Gasfirma. Deshalb wurden wir vorgewarnt und konnten unsere Flucht vorbereiten. Ich erinnere mich, wie ich am frühen Morgen in Erwartung der Evakuierung aus dem hinteren Küchenfenster sah. Wo sich vorher flache Felder bis zu den Öltanks ausgedehnt hatten, befand sich plötzlich das Meer. Graues Wasser und Wellen, die an unsere Tür schlugen. Unser Haus stand im Meer. Ich verstand vollkommen, was geschehen war, und dennoch faszinierte mich dieser surreale Anblick: böige See statt grüner Felder. (Es hat unser Haus total zerstört. Flutwasser ist nicht einfach nur Wasser, sondern Schlamm. Und Gipskarton und Porenbeton sind nicht wasserdicht.)

Die Insel wurde komplett geräumt – nur die Armee und unersetzliche Arbeiter durften bleiben. Mein Vater wurde gebraucht, um die Gasleitungen instand zu halten. Also blieb er zurück, in tiefem frostigem Wasser watend, um Wartungsarbeiten zu verrichten. Das ruinierte seine Gesundheit. Von da an kämpfte er mit Beschwerden in der Brust, Bronchitis, Pneumonie, Asthma, so ziemlich allem außer Krebs. Und Herbst für Herbst wurde es schlimmer. Zu dieser Jahreszeit war Canvey meist in Dunst und Nebel gehüllt, schön und mysteriös, allerdings nichts für geschädigte Lungen. Er konnte nicht atmen. Schließlich musste er seinen Installateurjob für eine Tätigkeit im Innendienst aufgeben und Geschäfte betreuen. Jedes Jahr, wenn der Nebel kam, wurde seine Lunge schwächer. Nach zehn Wintern, im Alter von sechsundfünfzig Jahren, starb er daran. Und obwohl ihn seine Tätigkeit für die Gasfirma das Leben gekostet hatte, erhielt meine Mutter niemals die volle Witwenrente, weil er ein paar Monate vor der erforderlichen Dienstzeit gestorben war. Dafür adressierten sie noch lange nach seinem Tod Gasrechnungen an seinen Namen.

Ich hatte ihn gehasst – er war dumm, ignorant, ungebildet, böse und unbeherrscht gewesen. Auch gewalttätig. (Einmal schlug er mich in einem Wutanfall mit einer Säge. Ich fiel hin, und die Säge schnitt quer über mein Bein. Da war ich noch ein Kind.) Ich war zwar nie der grausamen Gewalt ausgesetzt, von der man Tag für Tag in der Zeitung liest – nichts dergleichen –, nichts, was in einer Arbeiterklassennachbarschaft Besorgnis hervorrufen würde; aber ich kenne den Schrecken eines Kindes, das gewaltsam von einem Erwachsenen misshandelt wird, noch dazu von gerade dem Erwachsenen, der ihm Schutz und Zuflucht bieten sollte. Ich habe meinen eigenen Kindern niemals auch nur ein Haar gekrümmt.

Die Atmosphäre in unserem Haus war durch ihn vergiftet. Er hatte einige Jahre als Soldat gedient, in Indien an der nordwestlichen Grenze des britischen Herrschaftsgebiets, und später im Zweiten Weltkrieg. Er besaß eine Reihe von Medaillen, die er am Volkstrauertag anlegte, wenn er mit uns zum Kriegerdenkmal ging, um die Zeremonie anzuschauen. Ich weiß nicht, womit er sich diese Medaillen verdient hatte – ich möchte gerne glauben, dass er etwas Tapferes getan hat. Als ich eines Tages im Alter von sechzehn Jahren nach Hause kam, war er tot. Und ich freute mich, fühlte mich frei …

Wie auch immer, nachdem wir vor der Flut gerettet worden waren, kamen wir zu Verwandten nach Sheffield. Als wir dort ankamen, lief gerade eine Radioübertragung aus dem Auffanglager, wo sich die Flüchtlinge von Canvey Island zusammenfanden. Ein Mann namens Wilfred Pickles, damals ein bekannter Radio- und TV-Ansager, befragte die Menschen vor Ort. Er sagte: »Hier haben wir den kleinen Johnny Martin, und er wird jetzt einen Song für uns singen.« Das war echt mein Kumpel Johnny Martin von nebenan. Er sang »Me And My Teddy Bear«. Und so wurde »The Big Figure« zum ersten Dr-Feelgood-Mitglied, das es ins Radio schaffte. Und das sogar landesweit.

Wir blieben eine ganze Weile in Sheffield – Malcolm und ich gingen dort sogar zur Schule, obwohl er dafür zu jung war. Den anderen Kindern wurden wir als Flüchtlinge von Canvey Island vorgestellt. Canvey war damals die Titelstory schlechthin.

Als Brüder standen wir uns sehr nahe, obwohl wir ziemlich unterschiedlich veranlagt waren. Malcolm war schon immer ein äußerst gelassener Typ. Ich habe ihn nie im Zorn erlebt. Er ist ein talentierter Maler und klassischer Gitarrist. Ich bin nichts davon, und gelassen zu sein fällt mir nicht gerade leicht. Aber Malc und ich waren unser ganzes Leben lang richtig gute Freunde.

Da hörten wir nun also unserem Kumpel Johnny Martin beim Singen über das »Drahtlose« zu, und uns blieb die Luft weg. Johnny Martin. The Big Figure.

Figures’ Mum und Dad waren für unsere Working-Class-Nachbarschaft einigermaßen unkonventionell und künstlerisch – sein Vater spielte Gitarre, seine Mutter Akkordeon. Außerdem leitete sie einen Tanzkurs namens »Peggy Martin’s Troupe«. Figure und ich liebten alles, was albern war. Als wir noch zur Grundschule gingen, saßen wir im Unterricht nebeneinander. Ich zeichnete eine große schwarze Spinne ins Innere meines Schreibtisches, und einmal, als wir gerade Puppen bastelten, erfanden wir dieses Ding namens Snitch Snatcher, den »Petzenentführer«. Das war ein Streifen Papier, verdreht zu einem Propeller und auf die Nase der Puppe geklebt. Was der Sinn dahinter war, weiß ich nicht mehr, aber wir taten’s einfach und werden’s auch nie vergessen. Ich bin mir sicher, er könnte euch heute noch einen basteln, würdet ihr ihn darum bitten.

Solche Albernheiten verkörperten unsere Freundschaft in unserer Kindheit und Jugend. Johnny (wir gaben ihm den Spitznamen »The Big Figure« zu Ehren seines amtlichen Körperumfangs während der Teenagerzeit, und er behielt ihn als nom de guerre für Dr Feelgood) war mein Kumpel.

Als wir nach der Flut nach Canvey Island zurückkehrten, war es verwüstet. Auf den Straßen standen Lastwagen der Royal Air Force herum, die heiße Luft in die durchnässten Bungalows pumpten, um sie zu trocknen. Wohltätigkeitsorganisationen hatten brauchbare Möbel, Stühle und Tische geschickt – viele Menschen hatten alles verloren. Eines Tages, nach der Schule, marschierte man mit uns in einen Raum voller gespendeter Spielsachen, und jeder durfte sich etwas aussuchen (die meisten Kinder hatten ihre Weihnachtsgeschenke verloren, auch um so was kümmerten sich die Hilfsorganisationen). Ich erinnere mich an verschiedene Delta-Wing-Flugzeuge mit Friktionsantrieb. Sie faszinierten mich, aber ich habe es nicht geschafft, eins zu ergattern. Ich sehe diese Dinger heute noch vor mir – Aluminium mit blauer Beschriftung und ein heulender Sound, wenn man damit über den Boden fuhr. Ich kann mich nicht erinnern, was ich stattdessen bekam.

Nachdem wir uns unser Spielzeug ausgesucht hatten, führte man uns in einen anderen Raum, in dem es internationale Hilfssendungen gab – Rosinen aus Kalifornien, eine Blechbüchse norwegischer Sardinen, irgendein Käse aus Holland. Und so weiter. Wir waren dankbar für die Päckchen aus aller Welt, so winzig und unzureichend sie auch waren. Die kalifornischen Rosinen kamen in einer hellen farbigen Box und erschienen uns wie ein Geschenk der Götter. Jeder bekam einen »Flutteppich«. Die meisten Teppiche in Canvey waren von der Überschwemmung ruiniert, und so kam ein Flutteppich in nahezu jeden Haushalt. Sie waren offensichtlich aus zweiter Hand, zerschnitten und zerstückelt, um irgendwie in den Raum zu passen. Unser Flutteppich beeindruckte mich mit seinem seltsamen arabischen...

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