9Nørrebro Theater
Da geschah es eines Morgens beim Zeitunglesen – das Zeichen, auf das ich heimlich gewartet hatte, war da: „Das Nørrebro Theater sucht männlichen Sänger – vorzugsweise Tenor – für die Mitwirkung im Chor des Theaters.“ Noch heute spüre ich die Hitze und die Röte, die in meine Wangen schoss. Da war es, das war das Zeichen – dass sich meine heimlichen Theaterträume erfüllen würden! Ich brachte mein Frühstück in Rekordzeit zu Ende, schwang mich aufs Rad und fuhr zur Arbeit. Nachdem ich dort eine halbe Stunde gewesen war, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte meinen Chef, ob ich ein paar Stunden freinehmen dürfe, ich hätte etwas Dringendes zu erledigen, rein privat. Er erlaubte es! Und wieder spurtete ich los mit dem Rad. Das war der 10. Oktober 1946, ein Tag, der für mich zu einem Gedenktag werden sollte.
Im Theater saß eine Handvoll junger Leute. Wir musterten uns alle heimlich. Dann war ich dran. Ich ging fast traumwandlerisch auf die Bühne und reichte dem Pianisten meine Noten. Es war der „Gøngemarchen“ (Göngemarsch). Aus dem Zuschauerraum fragte man mich freundlich nach meinem Leben aus. Dann durfte ich endlich singen. Ich hab immer noch im Ohr, wie ausgetrocknet meine Stimme am Anfang vor lauter Aufregung klang, aber dann war sie gleich wieder da. „Vielen Dank“, kam es von unten aus dem Saal, „Sie hören von uns.“ Wieder runter auf meinen Platz und warten, warten, warten. Ein junger Mann nach dem anderen kam zurück. Und dann hieß es weiter warten.
Endlich ging die Tür auf und ein netter älterer Herr sagte: „Wir danken Ihnen allen, aber (oh, dieses fürchterliche ‚Aber’!) wir brauchen nur einen Mann. Würden Sie (man war damals noch per Sie), würden Sie, Herr Poul Bundgaard, so freundlich sein und mit mir mitkommen?“ Und ob ich wollte! Ich folgte ihm sehr höflich und überglücklich und fand mich bald auf der Bühne wieder. Dort gratulierte man mir zu meinem Platz im Chor und fragte: „Können Sie heute Abend anfangen?“ Mir wurde schwindlig, das war eine wichtige Entscheidung. Ich sagte schnell ja und wir verabredeten, dass ich eine Stunde vor der Vorstellung im Theater sein sollte.
Nun musste ich in der Papierfirma kündigen, aber vorher wollte ich noch den Rat meiner Eltern hören. Ich stürzte nach Hause und hatte Glück, dass mein Vater gerade zum Mittagessen da war. In Windeseile erzählte ich, worum es ging, und fragte, ob ich das Papier zugunsten des Theaters aufgeben dürfe.
Einen Moment waren die beiden stumm, dann sagte mein Vater, indem er meine Mutter ansah: „Du weißt, mein Junge, dass das schon immer mein Traum war, das mit dem Theater, ich kann dich also gut verstehen. Aber die Arbeit, die du jetzt hast, kann eine lebenslange Stellung werden. Kann das Theater das auch?“ Was sollte ich anderes darauf antworten als: „Ja, das glaube ich“? Mein Vater sah meine Mutter lange an, dann nickte sie, und die Sache war entschieden. Überglücklich fuhr ich zum Großhändler zurück, der nun noch die letzte Hürde war. Der freundliche, kluge alte Mann nahm sich mit seinen Ratschlägen viel Zeit. Er sprach von meinem Gehalt bei ihm im Vergleich zur Gage am Theater. Dort hatte man mir nur ein Drittel dessen anbieten können, was ich bei ihm bekam. Er sprach eine halbe Stunde mit mir und sagte dann: „Also gut, aber kommen Sie nicht und sagen, ich hätte Ihnen nicht davon abgeraten!“ Er erlaubte mir also, die Firma vor der Zeit zu verlassen. Jetzt war der Weg frei, jetzt würde ich die Bühne erobern! Ich war vierundzwanzig.
Als es endlich Abend war und ich an meinem neuen Arbeitsplatz, DEM THEATER, beginnen sollte, war ich hellwach.
Nach zweiundvierzig Bühnenjahren gebe ich gern zu, ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Gleichzeitig hatte ich Angst, ob es wirklich die richtige Wahl war. Wie würde es künftig weitergehen? Immerhin hatte ich einen guten und sicheren Platz aufgegeben. Und doch erfüllten mich jugendlicher Glaube und Optimismus, als ich mich um neunzehn Uhr im Theater zum Dienst meldete.
Ich fragte den Bühnenmeister, er wurde später ein guter Freund, wo mein Kostüm sei. Er sah mich kurz an, sagte „Kostüm? Guter Witz!“ und warf mir eine alte, rote Küchengardine zu. Ich bekam meinen Garderobenplatz zugewiesen und kurz darauf trafen die neuen Kollegen ein. Sie erbarmten sich meiner und zeigten mir, wie man sich schminkt. An Farbe sparten sie weiß Gott nicht dabei. Dann rief uns die Klingel zur Bühne, gleich sollte die Vorstellung beginnen.
Nicht weniger als vierundvierzig Leute aus meinem Familien- und Freundeskreis saßen im Zuschauerraum, um ihren Poul zu sehen. Und all diese Menschen fanden sich auch in den darauffolgenden Jahren immer zu meinen Premieren ein, das will ich hier nicht unerwähnt lassen.
Wir verteilten uns schnell auf unsere verschiedenen Bühnenpositionen. Ich hatte im Hintergrund zu sitzen und im Übrigen meinen Mund zu halten. An diesem Abend spielten wir „Styrmand Karlsens flammer“ (Steuermann Karlsens Flammen). Die Hauptrolle hatte mein großer Held, Poul Reichhardt (in der Olsenbande u. a. Polizeichef, Knappe, Hafenwachmann). Während ich gespannt auf den Beginn der Vorstellung wartete, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Reichhardt schon hinter der Bühne bereitstand. Und dann hob sich der Vorhang für meinen ersten Auftritt. Ich hatte das Gefühl, alle sähen nur zu mir. Aber natürlich schaute mich nicht ein einziger an, außer den vierundvierzig. Ich stellte einen Blumenverkäufer in Port Said dar. Dann kam Reichhardt. Er sah, dass ein neuer Mann an den Töpfen saß und ließ sich die Gelegenheit für einen Scherz nicht entgehen. Als er an mir vorbeikam, flüsterte er mir zu: „Da hat man also einen Neuen auf ´n Pott gesetzt!“ Ich errötete sicher bis zu den Haarwurzeln, war aber auch stolz, dass er mich angesprochen hatte. Das war meine erste Begegnung mit dem Mann, der später mein Freund werden sollte. Ich vermisse ihn.
Nachdem ich ein paar Wochen am Theater war, hatten wir mit der „Fledermaus“ Premiere. Da ich in mehreren amerikanischen Filmen gesehen hatte, wie der Held des Stückes plötzlich krank wurde und ein junger Kollege seine Chance bekam, dachte ich: „Das wird hier genauso passieren.“ Optimist, der ich bin, lieh ich mir jeden Abend sämtliche Partituren und das ganze Souffleurbuch aus, um zu Hause zu lernen. Mit der Zeit beherrschte ich alle männlichen Rollen und war bereit für meine Chance. Und – auf einmal war sie da. Eines schönen Vormittags wurde das gesamte Personal einberufen, weil der Sänger des Dr. Falke krank geworden und außerstande war, am Abend zu spielen. Eine Zweitbesetzung hatte man nicht. Guter Rat war teuer.
Auf der Suche nach Ersatz wurde überall herumtelefoniert, sogar bis nach Schweden und Norwegen. Es fand sich niemand. Zum Glück. Kurz bevor man beschließen wollte, die Abendvorstellung abzusagen, wagte ich mich schüchtern vor und sagte, dass ich die Rolle spielen könne. Der Intendant wollte zunächst meinen Namen wissen und fragte dann leicht irritiert: „Weshalb denken Sie, dass Sie das Problem lösen können?“ „Ich weiß, dass ich es kann!“, erwiderte ich. Der Intendant verlangte, dass man umgehend ein Klavier auf die Bühne bringen solle. Danach sang ich alle Lieder von Dr. Falke. Der Intendant schwieg eine Weile und sagte dann: „In fünf Minuten ist Probe!“ Wäre das heute gewesen, hätte ich es mich nicht getraut, aber damals wusste ich noch nicht, wie schwer alles eigentlich ist.
Der Abend war da, das Publikum informiert. Ich guckte durch das Loch im Vorhang und richtig: Da saßen meine Eltern und die anderen zweiundvierzig. Mutter hatte ganz rote Wangen. Der Vorhang ging auf und ich, der sonst nur eine kleine Rolle als Postbote spielte, war bereit, mein Talent unter Beweis zu stellen. Mein Stichwort fiel, ich ging auf die Bühne. Ich hatte das Glück, dass ich gleich mit Poul Reichhardt einen Walzer zu tanzen hatte. Jedes Mal, wenn er mit dem Rücken zum Zuschauerraum gewandt war, flüsterte er: „Lächeln, verdammt, lächeln!“
Als Dr. Falke in „Die Fledermaus“ an der Seite von Gerda Gilboe.
(Foto: Teatermuseet i Hofteatret, Kopenhagen)
Je mehr der Abend voranschritt, desto mehr fiel die Nervosität von allen ab – auch von mir – und im Theater herrschte wieder die gewohnte Atmosphäre. Am Ende der Vorstellung reagierten die Zuschauer sehr freundlich, sie erhoben sich und klatschten. Ich war im siebten Himmel, und als ich zu meinen Eltern sah, heulten sie beide wie die Schlosshunde. Diesen Abend haben wir nie vergessen.
Am nächsten Tag kamen etliche Telegramme für mich – und die Familie war selig. Über ein Telegramm musste ich lachen. Die Vorgeschichte ist, dass ich als Lehrling in der Hauptstädtischen Konsumgenossenschaft im Kirkegårdsvej in Amager gern mal...