Das letzte Echo des Krieges
Wie kann man nach einem langen, blutigen, mit allen Mitteln geführten Krieg zum Frieden übergehen? Der Erste Weltkrieg war durch äußerste Brutalität geprägt gewesen. Alle Ressourcen wurden in den Dienst der Kriegführung gestellt, Regierungen verschuldeten sich bei anderen Staaten und ihren Bürgern. Die Politik nahm Einfluss auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Das Militär übte Druck aus auf die Politik. Zivilisten und Soldaten wurden mobilisiert, um weiterzukämpfen, Opfer hinzunehmen, den Krieg zu finanzieren und vor allem: daran zu glauben, dass sie für eine gerechte Sache kämpften. Wenn die eigene Seite im Recht ist, so die einfache Logik, muss die andere Seite im Unrecht und schuldig sein. Die Propagandastäbe in allen Staaten verteufelten den Gegner und hämmerten den Lesern wie den Kinobesuchern, den Schulkindern, Fabrikarbeitern sowie den Kirchgängern ein, dass es in diesem Kampf um zentrale Werte wie Demokratie, Freiheit und Sicherheit, ja um das Fortbestehen der eigenen Nation gehe.
Außerdem hatten die Regierenden ihren Bürgern bzw. Untertanen Versprechungen gemacht für den Fall eines Sieges: Alle Opfer sollten belohnt werden, sei es durch politische Reformen oder eine bessere und geeinte Gesellschaft. Auch materielle Werte wurden in Aussicht gestellt, etwa Zinsen auf Anleihen oder zumindest finanzielle Wiedergutmachung für Witwen, Waisen und Versehrte. Den Bündnispartnern kündigte man ebenfalls Belohnungen an. Frankreich, Großbritannien und Russland rangen 1915 beispielsweise um die Unterstützung des neutralen Italiens, das vor dem Kriegsausbruch Bündnispartner der Mittelmächte gewesen war. Sie versprachen dem italienischen Außenminister Sonnino Gebiete, die zu Österreich-Ungarn gehörten. Als Sonnino nach dem Krieg in Paris seine Belohnung einforderte, entbrannte ein heftiger Streit, weil der amerikanische Präsident Wilson solche geheimen Absprachen ablehnte.
Ein brutaler Krieg, hohe Opferzahlen, durch Propaganda geschürter Hass, aber auch große Versprechen, hehre Ideale und unterschiedliche Ziele: Unter diesen komplizierten Ausgangsbedingungen trafen nach mehr als vier Jahren des Kampfes Sieger und Besiegte zusammen, um zunächst im November 1918 Waffenstillstandsvereinbarungen zu unterzeichnen und später, im Jahr 1919 in Paris, den Friedensvertrag auszuhandeln. Doch nicht nur das Erbe des rücksichtslos geführten Krieges, auch aktuelle Ereignisse beeinflussten den Friedensprozess. Die kriegsmüden Menschen in der Heimat setzten die von ihnen gewählten Politiker unter Druck, möglichst schnell den Übergang zum Frieden zu vollziehen. Die Erwartungen waren enorm, denn Not, Hunger und Angst sollten schnell der Vergangenheit angehören. Politiker wie der britische First Lord of the Admiralty Eric Geddes versprachen im Wahlkampf im Dezember 1918 selbstbewusst, man werde die besiegten Deutschen ausquetschen wie eine Zitrone. Steuererhöhungen zur Bewältigung der Kriegskosten sollte es für die eigenen Bürger nach Möglichkeit nicht geben. Damit schränkte der Premierminister David Lloyd George jedoch seinen Handlungsspielraum massiv ein: Viele Kompromisse waren für ihn in Paris nicht mehr möglich, weil er an sein Wahlversprechen gebunden war und unter dem Druck der Opposition und der Presse stand. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson wiederum, mit dem die Vereinigten Staaten 1917 in den Krieg eingetreten waren, war beseelt von der Idee, einen Völkerbund zu schaffen, dessen Mitglieder in Zukunft Konflikte gemeinsam und möglichst friedlich lösen sollten. Die damit verbundene Unterordnung staatlicher Aufgaben unter eine internationale Organisation war jedoch für viele Politiker und Bürger ein unerträglicher Souveränitätsverlust, so dass sie Wilsons Vision offen kritisierten oder nur halbherzig unterstützten.
Der Krieg hatte zu radikalen Veränderungen geführt, Monarchen waren gestürzt worden, Staaten untergegangen und neu entstanden. In Polen, der Tschechoslowakei und in Jugoslawien waren die Menschen begierig, endlich ihren eigenen Staat gründen zu können. Sie warteten nicht auf die Zustimmung der Friedensmacher in Paris, wenn sie Gebiete der Besiegten in den eigenen Staat eingliederten und Grenzen neu zogen. Folglich waren einige wichtige Weichen bereits gestellt, als die Staatsmänner im Januar 1919 zusammenkamen. Außerdem erwachte bei vielen Menschen nicht nur die Hoffnung auf Frieden, sondern auf ein gerechteres und selbstbestimmtes Leben. In Paris sahen sich die Politiker unversehens mit vielfältigen Wünschen nach einer besseren Welt konfrontiert.
In Paris begegneten sich die Vertreter verschiedener Staaten, die den Krieg unterschiedlich erlebt und abweichende Visionen für die Zukunft ihrer Länder hegten. So blieb es nicht aus, dass sich auch im Kreis der Sieger Interessenkonflikte entzündeten. Für eine offene Aushandlung der Meinungsverschiedenheiten und Kompromisse blieb oft nur wenig Zeit. Wilson widerstrebte es, wie erwähnt, die Italien versprochenen Gebiete abzutreten. Seinem Ideal des Selbstbestimmungsrechtes der Völker entsprach es nicht, Menschen ungefragt einem anderen Staat zuzuteilen. Doch er fügte sich und konnte im Gegenzug ein Entgegenkommen der anderen erreichen, als er die Monroe-Doktrin in die Völkerbundsatzung aufnehmen wollte.
Am Ende waren es die »Großen Drei«, die die wichtigen Fragen entschieden: Woodrow Wilson, David Lloyd George und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau. Drei grundverschiedene Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Zielen hatten in Paris eine Herkulesaufgabe zu bewältigen, unterstützt von einer großen Zahl von Diplomaten, Juristen, Sachverständigen, Sekretärinnen und Dolmetschern. Dass die drei Männer erfolgreich zusammenarbeiteten, lag nicht zuletzt daran, dass sie sich ohne Dolmetscher verständigen konnten, denn Clemenceau hatte in seiner Jugend einige Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht, beherrschte die Sprache und schätzte das Land. Vor allem aber galt sein Streben dem Schutz Frankreichs: Nie wieder, so sein unumstößlicher Wille, dürfe Deutschland seinen Nachbarn angreifen. Nur ein dauerhaft geschwächtes Deutschland garantiere die Sicherheit seines Landes. Der britische Premierminister hingegen wollte Deutschland dem politischen Interesse Großbritanniens entsprechend als Großmacht erhalten, wenn auch als eine deutlich geschwächte.
Und schließlich waren es grundsätzliche Entscheidungen, die die Arbeit in Paris prägten. In der französischen Hauptstadt kamen nur Vertreter der Siegermächte zusammen. Mit den unterlegenen Staaten wurde nicht diskutiert. Den Deutschen, ebenso wie den Vertretern Österreichs, Ungarns und des zerfallenen Osmanischen Reiches, wurden in jeweils getrennten Verfahren die Friedensbedingungen überreicht. Ihnen blieb eine kurze Frist zur Unterzeichnung und Ratifizierung, doch Verhandlungen fanden nicht statt, sehr zum Entsetzen der deutschen Delegation. Die Sieger wollten vermeiden, dass bei einer Verhandlung mit den besiegten Staaten der Eindruck entstand, es bestehe Spielraum für den Ausgang der Gespräche. Für die Alliierten stand jedoch fest, dass mit dem Waffenstillstand bereits über Sieg, Niederlage und Schuld entschieden worden war. Hinter diese Position konnten und wollten sie auf keinen Fall zurückfallen. »Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren«, entgegnete der französische Ministerpräsident Clemenceau den deutschen Delegierten bei der Übergabe der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919. Die Alliierten befürchteten auch, dass ihre Gegner in mündlichen Verhandlungen versuchen würden, die Sieger gegeneinander auszuspielen und deren ohnehin fragile Einheit zu zerschlagen. Die Quellen zeigen, dass die Deutschen genau dieses Ziel verfolgt haben. Mit Sicherheit hätten Verhandlungen mit den Gegnern sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen. Das wollten die alliierten Politiker, die unter dem Druck ihrer Bürger und Wähler standen, nicht auf sich nehmen.
Selbst die Siegermächte waren nicht vollzählig anwesend. Nachdem in Russland die Revolutionäre 1917 den Zaren gestürzt und in Brest-Litowsk mit den...