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E-Book

Das letzte Jahr der Zukunft

Wie 1999 die Welt veränderte

AutorMichael Laczynski
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783701745999
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Finanzblasen und Schuldenkrisen, Wladimir Putin und Donald Trump, der Aufstieg Chinas und der Niedergang Europas, Castingshows und 'Game of Thrones', Smartphones und soziale Netzwerke, Populisten und Selbstdarsteller, Internet-Milliardäre und Ich-AGs, 9/11 und die Endloskriege im Nahen Osten - viele Entwicklungen, die unsere Zeit der Krisen und Kon?ikte prägen, hatten 1999 ihren Ursprung. Es war eine Zeit, in der die Zukunft zum Greifen nahe und die Hoffnung auf Weltfrieden und Wohlstand für alle nicht naiv, sondern berechtigt schien. 'Das letzte Jahr der Zukunft. Wie 1999 die Welt veränderte' schildert, wie der Karneval des Optimismus zu Ende ging und die Weichen für die Rückkehr einer längst überwundenen Vergangenheit gestellt wurden.

Michael Laczynski, geboren 1973 in Warschau, war bis März 2017 EU-Korrespondent der Tageszeitung 'Die Presse' in Brüssel und berichtet derzeit aus der Wiener 'Presse'-Redaktion über Europa-Themen. Er berichtete für die 'Austria Presse Agentur' aus Japan, war Mitbegründer des Kulturmagazins 'Touristen' und leitete das Osteuroparessort des 'Wirtschaftsblatts'. 2015 wurde er mit dem Europa-Staatspreis der österreichischen Bundesregierung ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: 'Fürchtet euch und folgt uns' (2017), 'Augen auf und durch. Gebrauchsanweisung für unruhige Zeiten' (2018), 'Das letzte Jahr der Zukunft' (2019).

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Leseprobe

Prolog: Erinnerungen an die Zukunft


Es gibt keine Magie der Zahlen. Doch es gibt eine Magie des Zufalls. Es war dieser magische Zufall, der mich 1999 zuerst in den fernen Osten und anschließend in den ebenso fernen Westen verschlug – nach Tokio und nach New York. Um den Abschied vom 20. Jahrhundert gebührend zu feiern, hätte ich mir keine zwei besseren Orte aussuchen können, auch wenn ich damals in vollem Bewusstsein meines eigenen Tuns gewesen wäre. Was ich, rückblickend betrachtet, nicht vollumfänglich behaupten kann. Ich war jung, brauchte kein Geld und hatte mir vorgenommen, 1999 fern der Wiener Heimat zu verbringen.

Wobei – so einfach war die Sache mit dem 20. Jahrhundert und seinem Ende dann auch wieder nicht. Wer 1999 miterlebt hat, kann sich mit Sicherheit an die vielen Gespräche erinnern, die um die alles entscheidende Frage kreisten: Gehen mit dem bevorstehenden Jahreswechsel das 20. Jahrhundert und das zweite Jahrtausend zu Ende oder nicht? Wer sich strikt am Rechenschieber orientieren wollte, musste enttäuscht werden, denn aus der rein mathematischen Perspektive betrachtet fand die große Zeitenwende nicht 1999/2000, sondern erst ein Jahr später statt. Doch angesichts der magischen Jahreszahl mit dem dicken Zweier und den drei Nullen wollte sich niemand von irgendwelchen kleinkarierten Erbsenzählern mit ihren korrekten Kalendern die große Party versauen lassen. Das 20. Jahrhundert musste am 31. Dezember 1999 zu Ende gehen und das 21. Jahrhundert am 1. Januar 2000 beginnen, da fuhr die futuristische Magnetschwebebahn drüber.

Meine frühesten Erinnerungen an 1999 reichen tief in die tiefsten 1970er-Jahre zurück. Damals sah die Zukunft noch anders aus – sie trug Seitenscheitel, Glockenhosen aus graubraunem Spandex, lebte auf dem Mond und hieß John Koenig. Koenig war der Kommandeur der Mondbasis Alpha aus der britisch-italienischen TV-Serie »Space: 1999«, die aufgrund enden wollender Begeisterung seitens des Fernsehpublikums 1977 nach nur zwei Staffeln eingestellt wurde. Es waren vermutlich die schwachen Quoten daheim, die die Produzenten dazu veranlasst hatten, »Space: 1999« hinter dem Eisernen Vorhang zu verramschen. Irgendwann Ende der 1970er-Jahre landete die Mondbasis Alpha in der Volksrepublik Polen – und damit hinter dem Schirm des zentnerschweren, mit braunem Furnier verkleideten Fernsehgeräts vom Typ Rubin 714p, das in unserem Warschauer Wohnzimmer die halbe Möbelwand ausfüllte und dem ich mich nur mit der allergrößten Vorsicht näherte, weil ich die (rückblickend betrachtet etwas irrationale) Angst hatte, es würde eines Tages aus dem Regal kippen und mich erschlagen. Doch für Commander Koenig nahm ich dieses Risiko in Kauf. Ich war begeistert, wollte auch Glockenhosen tragen und ein Raumschiff fliegen, doch bis zum Jahr 1999 waren es noch mehr als zwei Jahrzehnte. Dann kam »Krieg der Sterne«. Grau-brauner Spandex und Seitenscheitel waren out, 1999 war vergessen. Die Zukunft war in Hollywood daheim.

Katzenjammer in Tokio


Mein Aufbruch nach Tokio hatte in gewisser Weise auch etwas mit der Zukunft zu tun. Als ich mich Anfang der 1990er-Jahre dazu entschlossen hatte, Japanisch zu lernen, war Japan zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgerückt und galt als globales Vorbild in Sachen Fortschritt. An den Wirtschaftsunis wurden japanische Management-Techniken seziert, Sachbuchautoren prophezeiten, dass das 21. Jahrhundert den japanischen Industriekonglomeraten gehören würde, und rieten allen Studienanfängern dazu, tunlichst die Sprache der neuen Nummer eins zu lernen – ein Rat, den ich eifrig befolgte.

Dummerweise fiel mein Entschluss ziemlich genau mit dem Beginn der großen japanischen Krise zusammen. Der rasante Aufschwung, der Japan an die wirtschaftliche Weltspitze befördert hatte, wurde von einer gigantischen Spekulationsblase begleitet, Aktienkurse und Immobilienpreise stiegen ins Unermessliche, was bei allen Beteiligten die Illusion ökonomischer Unfehlbarkeit und finanzieller Omnipotenz erzeugte. Am aberwitzigen Höhepunkt dieses Booms war das Areal des kaiserlichen Palasts im Zentrum von Tokio genauso viel wert wie ganz Kalifornien. Kaiser Akihito, der den Chrysanthementhron Anfang 1989 bestiegen hatte, hätte sich also eine goldene Nase verdienen können, wenn er bloß geahnt hätte, dass der Höhenflug bald zu Ende sein würde.

Wie alle Spekulationsblasen musste auch die japanische eines Tages platzen. Wann genau dies passierte, ist nicht überliefert. Fest steht jedenfalls, dass irgendwann Anfang der 1990er-Jahre die Kurse und Preise in Japan zu fallen begannen, dass der Fall nicht mehr aufhörte – und dass die japanische Regierung offensichtlich nicht in der Lage war, irgendetwas gegen den Abschwung zu unternehmen. Die Ehrfurcht der westlichen Beobachter schlug zuerst in Verwunderung, dann in Abschätzigkeit um. »Diese Japaner schaffen es nicht einmal, sich aus der selbst verschuldeten Misere zu befreien. Sie sind zu starrköpfig. So etwas könnte uns nicht passieren«, lautete der Grundtenor jener, die noch wenige Jahre zuvor die japanische Art des Wirtschaftens in den siebenten Himmel gelobt hatten. Die japanische Politik in diesen Jahren ähnelte in der Tat einem monochromen Kaleidoskop, grau melierte ältere Herren in korrekt geknöpften schwarzen Anzügen wechselten sich im Jahrestakt an der Regierungsspitze ab. Die heißen Eisen wurden nicht angefasst, die japanischen Banken blieben auf ihren faulen Krediten sitzen, das reinigende Gewitter blieb aus. Als ich 1998 nach Japan aufbrach, war bereits von einem »verlorenen Jahrzehnt« die Rede.

Das Resultat meiner mehrjährigen – und bis dahin weitgehend erfolglosen – Bemühungen, die vermutlich komplexeste Sprache der Welt zu erlernen, war ein Stipendium an der angesehenen Universität Keio, der Kaderschmiede der Japan-AG. Als ich im September 1998 in Tokio ankam, war Japan am vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Die Wirtschaft schrumpfte, die Preise fielen. Und die Entscheidungsträger, die mit ihrer Fehlentscheidung, die Mehrwertsteuer anzuheben, um das Budget zu sanieren, die Rezession ausgelöst hatten, wussten weder ein noch aus. Doch anders als ich mir das vorgestellt hatte, war in der Agglomeration, zu der Tokio, Yokohama, Chiba und Kawasaki verschmolzen waren, von der Krise weit und breit keine Spur zu sehen. Bekannte versicherten mir zwar, dass die Zahl der Obdachlosen, die nachts vor dem Bahnhof Shibuya, einem der vielen Zentren der Megacity, ihre Zelte aufschlugen, zuletzt spürbar gestiegen war. Doch ich konnte mir davon selbst kein Bild machen, denn die Tokioter Clochards waren so zuvorkommend, dass sie ihre provisorischen Schlafstätten aus Karton und Plastikplanen frühmorgens abbauten, um die Pendler auf ihrem Weg in die Arbeit nicht zu behindern.

Der Himmel über Shibuya leuchtete neonfarben. Durch das Gassenwerk, das das Viertel mit den benachbarten Distrikten Harajuku und Daikanyama verband, schoben sich Konsumenten auf der Suche nach dem letzten Mode-Schrei. Die auf modeaffine Teenager ausgerichtete Kaufhauskette Parco, die allein in Shibuya und Umgebung mehrere Dependancen hatte, platzte aus allen Nähten. Überall gab es alles zu kaufen, und jeder schien über genügend Geld zu verfügen, um sich dieses Alles auch tatsächlich leisten zu können. Fühlt sich so eine Rezession an?, fragte ich mich, während ich mit der Metro-Ringlinie Yamanote zum Campus in Tamachi fuhr, um tagein, tagaus an kanji, den japanischen Schriftzeichen, zu verzweifeln.

Nein, mit einer Wirtschaftskrise im herkömmlichen Sinn hatte die Lage in Japan nichts zu tun. Dafür waren das Land und seine Einwohner zu wohlhabend, die Lebensqualität zu hoch. Was fehlte, war die Vorstellung, dass die Zukunft anders sein könnte als die Gegenwart. Die Japaner hatten es sich in der Stagnation gemütlich gemacht. Doch das merkte ich erst, als mein Studienaufenthalt in Tokio im Sommer 1999 zu Ende ging und ich mich entschloss, nicht gleich nach Wien zurückzukehren, sondern einen Abstecher nach New York zu unternehmen.

New York, New York


Die Gelegenheit dazu bot sich dank eines entfernten Verwandten von Winston Churchill, den ich einige Jahre zuvor im Rahmen eines Ferialpraktikums kennengelernt hatte. Der besagte Herr war ein geschäftstüchtiger Exzentriker aus bestem britischen Hause namens Mark, der statt Manschettenknöpfen gerne Büroklammern verwendete, in Downtown Manhattan ums Eck vom noblen Gramercy Park in einem winzigen Häuschen wohnte, das als Kombination aus Schlafstätte, Gästehaus, Büro und Firmenstammsitz fungierte, und der in der Zwischenzeit von Investmentberater in Osteuropa auf Wirtschaftspionier im Internet umgesattelt hatte. Falls ich gerade Zeit und Lust hätte, könne ich ihm bei einem aufregenden Projekt behilflich sein, sagte er mir am Telefon. Das World Wide Web sei ja das nächste große Ding, und ein befreundeter Hausmeister im Haus nebenan habe gerade ein Zimmer frei, das er mir vermieten könne. Ich packte meine Siebensachen und stieg ins Flugzeug.

Der Hausmeister entpuppte sich als ein frisch eingewanderter Rumäne namens Viorel, der im Rekordtempo zum glühenden US-Patrioten mutiert war, aber...

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