ICH UND BEWUSSTSEIN
Was von der Seele übrig bleibt
ESSENZIALISMUS Besitzt jeder Mensch einen unvergänglichen Wesenskern? Forscher haben diese Idee längst beerdigt – und ergründen, was den Glauben an eine innere Essenz so reizvoll macht.
VON STEVE AYAN
UNSER AUTOR
Steve Ayan ist Psychologe und Redakteur bei »Gehirn&Geist«. Als er an diesem Artikel arbeitete, kaufte er sich bei seinem Lieblingsbäcker regelmäßig eine »Seele«.
Auf einen Blick:
Wer’s glaubt, wird mutig
1 Der Begriff »Seele« ist vieldeutig. Im Kern meinen wir damit eine innere, immaterielle und unsterbliche Essenz des Menschen.
2 Aus der wissenschaftlichen Psychologie ist dieses Konzept zwar weitgehend verschwunden, aber im Alltagsdenken ist es nach wie vor präsent.
3 An die Existenz einer Seele zu glauben, macht Dinge begreifbar, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen, und schmälert die Angst vor dem Tod.
Eine Seele ist etwa 20 Zentimeter lang, kostet 95 Cent und übersteht selten die Mittagspause. Es handelt sich um eine Art kross gebackenes Baguette mit Salz und Kümmel, das besonders im süddeutschen Raum verbreitet ist. Damit hört die empirisch gesicherte Bedeutung dieses Wortes allerdings auch schon auf.
Seele – das klingt nach Geistern und Wiedergeburt, nach Jenseits oder letztem Seinsgrund. Im Alltag bereitet uns das kaum Kopfzerbrechen: »Er ist eine gute Seele«, sagen wir, um die Güte eines anderen zu loben. »In der Seele zerrissen« ist, wer einen Konflikt mit sich ausficht. Und »ein Herz und eine Seele« sind Leute, die sich blendend verstehen. Kaum einen anderen Begriff verwenden wir so selbstverständlich, ohne doch recht zu wissen, was er bedeutet.
In der Forschung ist so viel Vagheit natürlich verpönt, vor allem wenn sie spirituell konnotiert ist. So verschwand die Seele in den vergangenen 100 Jahren nahezu völlig aus der Psychologie, der Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Nach einer Auswertung des Psychologen Ulrich Weger von der Universität Witten/Herdecke enthielten im Jahr 2014 nur 387 Fachartikel in der Datenbank »ISI Web of Knowledge« das Wort »soul« – »brain« (Gehirn) dagegen 37 422. In psychologischen Journalen war von der Seele im gleichen Jahr nur ganze zweimal die Rede. Die Seelenkunde, wie sie manchmal noch genannt wird, hat sich zu einer »Wissenschaft ohne Seele« entwickelt.
Doch nicht nur in der Alltagssprache, auch in unserem vermeintlich so aufgeklärten Denken hält sie sich hartnäckig. Laut einer repräsentativen Umfrage des Onlinedienstes Statista von 2015 glauben 70 Prozent der Deutschen an die Existenz einer Seele – und damit deutlich mehr, als sich ein Leben nach dem Tod (40 Prozent) oder eine Wiedergeburt (18 Prozent) vorstellen können. Von religiösen Überzeugungen im engeren Sinn scheint der Seelenglaube relativ unabhängig zu sein. Ist er nur ein Überbleibsel alter Traditionen, das früher oder später verschwinden wird? Oder entspringt er dem tiefen Bedürfnis des Menschen nach einer dauerhaften, identitätsstiftenden Instanz? Und welchen Unterschied macht es, ob wir an die Seele glauben oder nicht?
Dass wir anderen Wesen ganz intuitiv eine Art geistigen Wesenskern zuschreiben, legt eine originelle Studie von 2012 nahe. Psychologen um Bruce Hood von der University of Bristol machten fünf- bis sechsjährige Kinder zunächst mit einem Hamster vertraut. Die Kleinen spielten mit dem niedlichen Nager und erfuhren erstaunliche Dinge über ihn, etwa dass er ein blaues Herz habe und ihm ein Zahn abgebrochen sei. Im Gegenzug sollten ihm die Kinder ihren Namen verraten und was sie vor dem Spiel gemalt hatten. Nun folgte der witzige Teil des Experiments: Die Forscher taten einfach so, als könnten sie den Hamster duplizieren! Die Frage, ob die Kopie ebenfalls ein blaues Herz und einen lädierten Zahn habe, bejahten gut acht von zehn Kindern. Dass Hamster Nr. 2 zudem ihren Namen kannte und über das Bild Bescheid wusste, glaubten hingegen nur 52 beziehungsweise 39 Prozent. Ganz offenbar lässt sich ein Körper in der kindlichen Vorstellung also leichter vervielfältigen als der Geist.
Hat die tote Maus noch Schmerzen?
Mit einer ähnlichen Methode hatten Jesse Bering und David Björklund bereits 2004 die Seelenvorstellungen von Kindern verschiedenen Alters auf die Probe gestellt. Sie wählten dazu ein Puppentheater, in dem eine Maus die Hauptrolle spielte. Diese war von zu Hause ausgebüxt und hatte sich verlaufen, ehe sie – o Graus! – von einem Krokodil gefressen wurde. Und schon ging die Fragerei der Forscher los … Empfand die tote Maus noch Schmerzen? Hatte sie Durst oder Hunger? Sah sie etwas? Funktionierte ihr Gehirn noch? Musste sie je wieder auf die Toilette? Hatte sie Angst vor dem Krokodil? Wusste sie, dass sie tot war? Hatte sie Heimweh?
Das Ergebnis: Vier- bis Sechsjährige gestanden der Maus ein erstaunliches Maß Unsterblichkeit zu. Zwar diagnostizierten 88 Prozent der Kleinen den Hirntod, doch glaubten gut drei Viertel, dass die tote Maus nach Hause wollte, und sogar 96 Prozent, dass sie ihre Mama immer noch liebte. Unter den ebenfalls befragten Grundschülern meinten das gut die Hälfte (Heimweh) sowie 80 Prozent (Mama). Noch erstaunlicher fielen die Aussagen der Kontrollgruppe aus. Denn auch viele erwachsene Teilnehmer waren der Meinung, der Ausreißer, obwohl biologisch mausetot, wisse über seinen eigenen Tod Bescheid (40 Prozent) und halte Mama für die Beste (64 Prozent).
»Die Seele ist unsterblich und wechselt den Ort, indem sie von einer Art Lebewesen in eine andere übergeht«
Pythagoras, Philosoph und Mystiker (um 570–510 v. Chr.)
Die Annahme, mentale Zustände könnten über den Tod hinaus Bestand haben, bildet laut der Philosophin Manuela di Franco das Zentrum des Seelenbegriffs (siehe Literaturtipp). Demnach verbinden wir damit einen inneren, immateriellen Wesenskern, der dem Menschen, manchmal auch Tieren oder sogar Objekten zugeschrieben wird. Dieser Kern sei unvergänglich, könne aber seine Gestalt oder Hülle wechseln und werde in Mythen und Erzählungen oft als flüchtiger Atem oder »Lebensgeist« dargestellt.
Merkwürdigerweise, so di Franco, attestieren wir der Seele meist räumliche Qualitäten – etwa Tiefe, Zerrissenheit oder örtliche Lokalisierbarkeit. Angesichts ihrer unkörperlichen Natur sei das paradox. Wie ist der Widerspruch zu erklären? Di Franco glaubt: Wir greifen auf Metaphern zurück, um über mentale Zustände zu sprechen, die wir anders als im übertragenen Sinn nicht erfassen können. Der Preis, den wir dafür zahlen, sei ein Kategorienfehler (gefettete Begriffe siehe »Kurz erklärt«), eben die Verdinglichung dessen, was kein Ding ist. »Wir reden zwar Unsinn«, erklärt die Philosophin, »aber wir meinen etwas damit.«
Der Denkfehler des Philosophen
Mit diesem Schnitzer befinden wir uns allerdings in guter Gesellschaft. Schon der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) fiel ihm zum Opfer (siehe »Kurze Geschichte der Seele«). Auch er wies der Seele dingliche Eigenschaften zu, indem er ihren Sitz in der Zirbeldrüse verortete, wo sie sich mit dem Körper verbinde. Descartes’ Idee eines »Seelen-Cockpits« war seine Antwort auf ein bis heute ungelöstes Rätsel: das Körper-Geist-Problem. Wie können sich Materie und Geist, physische und psychische Prozesse überhaupt gegenseitig beeinflussen?
Denn das ist ja ganz offensichtlich der Fall: Eine Hirnverletzung kann Erinnerungen auslöschen oder die Persönlichkeit verändern; umgekehrt jagt uns Angst eine Gänsehaut ein, und Verliebten pocht heftig das Herz. Im Lauf der Zeit sammelten Forscher immer mehr Anhaltspunkte dafür, dass Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Erinnern aus körperlichen Prozessen hervorgehen. Demnach ist Geist das, was das Gehirn macht (oder wie es uns subjektiv erscheint).
Intuitiv sind wir laut vielen Psychologen gleichwohl Dualisten, denn wir leben in einer mentalen Sphäre, die sich von der physischen grundlegend unterscheidet. Von klein auf lernen wir, dass in der Vorstellung vieles möglich ist, was in der realen Welt keinen Platz hat – von fliegenden Teppichen bis zu Feen, die auf Einhörnern reiten. Mehr noch: Was wir tun und lassen, müsse in unserem Denken und nicht in körperlichen Vorgängen gründen, sonst wären wir nichts weiter als Automaten! Folglich sagen wir etwa, wir besitzen ein Gehirn, das wir für dies und jenes benutzen (oder auch nicht).
Der Haken: Wer sollte sich meines Gehirns bedienen, wenn nicht mein Gehirn selbst? Es gibt keinen »unbewegten Beweger«, keinen in meinen Hirnwindungen hausenden...