2. Kapitel
2. Tag in Kathmandu
Ich mache es wie gestern und übergebe dem Taxifahrer mein Handy, damit er Scarletts Anweisungen folgen kann, weil ich vergessen habe, dass gestern nicht dasselbe wie heute ist. Außerdem ist es ein anderer Fahrer. Er hat den Schädel glatt rasiert, nur in der Mitte wächst wie bei einem Mönch ein Stummelchen. Den Weg vom Hotel bis nach Bodnath schafft er mit Gott und weil es nur eine Straße gibt, aber als es mehrere werden, beginnen die Probleme. Die Ferngespräche mit Scarlett scheinen ihm nicht weiterzuhelfen, im Gegenteil, er kurvt nicht rechts, sondern irgendwo links von der Hauptstraße in einem komplett anderen Viertel herum. In Scarletts Gasse gab es kleine Geschäfte und lokale Infrastruktur, hier gibt es nur einstöckige Häuser, die den Eindruck von Hütten machen, und sonst gar nichts. Mein kleiner Taximönch führt inzwischen Dauergespräche mit Scarlett, die zunehmend ungeduldiger wird, denn jedes Mal, wenn er mir mal kurz das Handy gibt, höre ich sie lauter.
»Helge, wo bist du?!«
Woher soll ich das wissen? Und warum braucht es für das Gespräch zwischen zwei in Kathmandu lebenden Menschen, die beide dieselbe Sprache sprechen, einen Dritten, der a) fremd ist und b) einen Kater hat? Keinen schlimmen, kein Kopfweh, keine Vergiftung, keine Depressionen, nur mentale Schwächen und Blähungen.
»Bin ich das Orakel von Delphi?«, frage ich.
»Nein, aber ich dachte, du bist erfahren.«
»Ich gebe dir jetzt besser wieder den Nepali.«
»Nein, nein, nein!«
So geht das noch eine Weile, vielleicht auch länger, dann sind wir am Ziel. Meint der Fahrer. Ich meine das nicht. Ich meine, wir sind ziemlich weit weg von Scarletts Gästetoilette, zu der es mich mittlerweile ernsthaft drängt. Irgendwer wird mich abholen, vermutet der Fahrer in regelmäßigen Intervallen, und dazwischen erhöht sich der Druck. Ich würde jetzt gern auch jede andere Toilette nehmen, aber wir brüten an einer gottverlassenen Kreuzung lehmiger Straßen. Noch zweimal nötige ich ihn, Scarlett anzurufen, dann beschließe ich notgedrungen, endlich aus der Komfortzone der Geführten und Gefütterten herauszutreten, um den Weg selbst zu finden. Und das ist immer ein besonderer Moment.
Die Grenze zwischen Pauschal- und Individualtourismus ist deutlicher definiert als die zwischen einem Alleinreisenden und der autonomen Kampfeinheit. Natürlich geht es grad im Taxi nicht ums Überleben, aber weiß ich, ob meine Jogginghose von Adidas nicht nur schweiß-, sondern auch scheißdurchlässig ist? Deshalb sage ich dem Fahrer, er solle ab sofort nicht mehr auf Scarlett hören, und auch nicht mehr auf sich, sondern auf mich, auf mich ganz allein, und ich sage, wir bleiben hier nicht länger stehen und warten auf irgendwen, sondern fahren jetzt an der Kreuzung nach rechts, und dann werden wir weitersehen. Was sehen wir?
Bewusst sehe ich manchmal nichts von dem, was ich sehe, weil ich in Gedanken woanders bin. In der Vergangenheit, in der Zukunft, in Fantasien, Träumen, Trieben oder Transformationen zu einer Rechenmaschine. Wie viel Geld habe ich, wie viel brauche ich, und wie viel bleibt mir noch, wenn der Tag zu Ende ist. Oft bin ich auch in Texten, halb fertigen Sätzen, stockenden Übergängen und genauso oft in Dialogen mit an- und abwesenden Personen. Oder ich sehe nur Details, die mich faszinieren, auch Details, die mich gruseln, weil sie wie Schlüssel zu den Falltüren meiner Seele funktionieren. Die inneren Straßen haben nicht weniger schlammige Schlaglöcher, Mulden und Querrinnen als die äußeren, und noch dazu sind sie tiefer, die Brunnen des Schreckens, die einen verschlucken, sobald man hineinzuschauen gezwungen wird. Und all das trübt natürlich das bewusste Sehen. Das unbewusste nicht.
Solange sie geöffnet sind, arbeiten Augen wie eine Kamera, die nie abgestellt wird. Ihre Bilder lagern irgendwo in meinem Gehirn. Jede Straße, durch die ich fahre, hinterlässt eine Unzahl von unbewussten Informationen in mir, die mich unbewusst führen, wenn ich ein zweites Mal auf ihr unterwegs bin. Farben, Steine, Kisten, Fenster, irgendwas. So erreichen wir wieder die Bodnath Main Street, und so entscheide ich auch, dass es nun rechts auf ihr weitergeht, da sie nach links einen Hauch unbekannter aussieht. Und weil der Hauch des Unbewussten auch auf einer Mauer liegt, an der die kleine Straße zu Scarletts Haus abzweigt, kommen wir endlich an. Nun aber wird es peinlich. Hier haben wir schon einmal gestanden. Bei dem allerersten Stopp, den der Fahrer machte, um jemanden nach der Adresse zu fragen. Und mir kam die Ecke auch bekannt vor. Hatte mich nicht genau hier gestern dieser supernette nepalesische Freund von Scarlett empfangen? Ist das nicht der Eingang zu ihrem Haus? Und warum stieg ich vorhin nicht aus? Weil viele Ecken in Kathmandu so aussehen? Oder weil ein Bananenverkäufer, den mein Fahrer nach dem Weg fragte, erst geradeaus zeigte und dann mit dem Arm einen großen Bogen machte? Warum habe ich nicht mir vertraut, sondern ihm und der Dummschüssel, die weiterfuhr? Und die Antwort ist mittlerweile immer dieselbe: Ich war vorhin kein Reisender, sondern blowing in the wind.
Und was bin ich jetzt?
Ich stelle die Frage hintan, gehe auf Scarletts Gästetoilette und begleite meine Freundin danach zu ihrem Schneider. Es ist nicht weit, nur die kleine Seitenstraße hinunter und an der Bodnath Main Street ein paar Meter nach rechts. Für diese letzten Schritte setzt Scarlett ihren Mundschutz auf. Beim Schneider nimmt sie ihn wieder ab, obwohl sein Raum keine Außenmauer hat, nur ein großes Tor, das nach Feierabend wieder geschlossen wird. Er sitzt an seiner Nähmaschine quasi direkt an der Straße. Scarlett reicht ihm eine Jeans zur Sofortreparatur, es gibt ein paar Hocker, wir nehmen Platz. Mit uns wartet noch ein älterer Mann auf irgendwas, aber es kann auch sein, dass er auf nichts wartet, sondern einfach nur da ist. Ich beschließe, dasselbe zu tun. Da sein und auf die Straße schauen. Zwei kleine Mädchen spielen mit einem Hund. Eine Frau geht vorbei, bleibt stehen und beginnt, das Tier mit den Fingerspitzen zu streicheln. Die Frau scheint die Mädchen nicht zu kennen. Und keiner kennt den Hund. Kein schöner Hund und auch kein sauberer. Trotzdem sind sie lieb zu ihm. Und lieb zueinander. Ich habe seit meiner Landung eigentlich nur liebe Menschen getroffen. Selbst der Immigrationsoffizier, der die Pässe stempelte, hat dabei ein liebes Gesicht gemacht. Im Flughafen, im Taxi, im Hotel, und auch der Schneider und der Alte, der bei ihm abhängt, alle sind lieb.
Und atmen was?
Es ist kurz vor 18 Uhr. Rushhour in Kathmandu. Dieselwolken, Abgasnebel, Giftschlieren sättigen die Luft. Kann man sich daran gewöhnen? Meine Lunge sagt Nein. Sie will nicht atmen, aber weil sie muss, atmet sie nur das Nötigste und so flach es geht. Ich sehe das trotzdem entspannt. Ich muss ja nicht bleiben. Aber die kleinen Mädchen, die Frau, der Schneider und sein Freund kommen hier nicht raus. Und das sieht nicht gut aus. Ich sagte es ja schon. Die Farben sind weg sowie die Unschuld der Pfützen, in denen Motoröl schwimmt oder andere Flüssigkeiten, die pechschwarz sind. Eine unendliche Karawane verbeulten Blechs zieht vorbei, wer die Straße überqueren will, darf nicht nur nicht atmen, sondern auch ganzheitlich nicht zimperlich sein. Obwohl ich weiß, dass hier alle Opfer und Täter zugleich sind, tun sie mir leid. Die liebsten Menschen der Welt in dem giftigsten Smog, den ich je erlebt habe. Und ich war nicht nur in der Schweiz oder Baden-Baden, ich atmete sehr wohl auch schon in Shanghai und dem Bahnhofsviertel von Neu-Delhi Indiskutables ein, aber das hier, Gott ist mein Zeuge, ist das Ende der Fahnenstange.
Das ist Kali Yuga. Das Zeitalter der Finsternis. Es bringt Verfall und Verderben, weil die Geistesgifte Hass, Gier und Verwirrung das Regiment in den äußeren und inneren Welten übernommen haben. Die gute Nachricht ist, dass nach dem Kali Yuga das Satya Yuga beginnt, das goldene Zeitalter, in dem das Licht, die Liebe und das Wissen wieder gewinnen, aber in dieser Reinkarnation wird das wohl nichts mehr. Buddhisten und Hinduisten sind sich da quasi einig, nur bei der Frage, wie lange das Kali Yuga letztlich währt, machen sie Unterschiede. Die Hindus sagen 350 000 Jahre, die Buddhisten teilen nur 3000 durch vier und kommen so auf etwas weniger deprimierende Zahlen. Weil der Zyklus der Geschichte in vier Zeitaltern verläuft und alle 3000 Jahre ein neuer Buddha erscheint, der wieder mit der Dunkelheit Schluss macht. Gautama wurde 563 v. Christus geboren, das heißt, wir haben nur noch ein halbes Jahrtausend Kali Yuga auf dem Zettel.
Die Jeans ist fertig.
Wir werden herzlich verabschiedet. Vom Schneider, seinem Kumpel, den kleinen Mädchen, dem Hund, eigentlich von allen. Ich weiß nicht, warum. Scarlett weiß es.
»Jeder liebt dich«, sagt sie.
Sie stellte das schon einige Male fest. Auf dem Basar von Haridwar, am Khan-Markt in Neu-Delhi, eigentlich immer, wenn wir durch eine indische Gasse gingen oder in einem kleinen indischen Chaihaus abhingen, jetzt liebt mich also auch jeder in Nepal. Ich registriere das nicht, weil ich es umgekehrt erlebe. Ich liebe jeden hier. Und so ganz stimmt das ja auch alles nicht.
»Ja, Scarlett, jeder liebt mich, bis auf die, denen es schwer auf die Nerven geht, dass mich jeder liebt.«
»Meinst du Kritiker?«
»Auch.«
Scarlett schenkt mir kurz einen Röntgenblick. Und ich weiß genau, was sie gerade denkt. Ist mein bester Freund erfolgreich, aber banal? Ist er ein Unterhaltungsschriftsteller? Dann fängt sie sich wieder. Und setzt sich die Smog-Maske auf, um...