Einleitung
Quellengrundlage für die Übersetzung der Andersschreibungen im Mawangdui-Yijing
Bei der Untersuchung der Andersschreibungen, also der Schriftzeichen, die sich in der Mawangdui-Version vom Textus receptus unterscheiden, lassen sich drei verschiedene Ebenen voneinander differenzieren, die Zeichengestalt, die Aussprache und die Zeichenbedeutung, welche aus einer notwendigen Trennung von Zeichen und Wort im Chinesischen resultiert. Denn ein chinesisches Schriftzeichen ist ja nicht unbedingt mit einem Wort gleichzusetzen, da es nur die graphische Darstellung eines Wortes mit einer ganz bestimmten Bedeutung repräsentiert. Bereits die Tatsache, dass das geschriebene Chinesisch während der Zhou-Zeit dem gesprochenen Chinesisch sehr viel näher stand, als es bereits 1000 Jahre später der Fall war, weist darauf hin, dass eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Schriftzeichen nicht in einem Vergleich zwischen bildhaften oder abstrakten Zeichen besteht, sondern in einem Vergleich von Worten. Der Irrtum, dass ein Schriftzeichen infolge des weitgehend monosyllaben Charakters der chinesischen Sprache immer einem Wort entspricht, zeigt sich demgegenüber in der Möglichkeit, ein Wort, dessen Aussprache immer dieselbe bleibt, mit mehreren Zeichen wiederzugeben, wie es bei den Lehnschreibungen der Fall ist. Ebenso können einzelne Zeichen je nach Kontext unterschiedlich ausgesprochen werden und somit für mehrere Worte stehen.1 Die geringe Silbenanzahl im Chinesischen hat zur Folge, dass eine Lautung theoretisch mehrere Worte wiederzugeben vermag, so dass die jeweilige Bedeutung beim reinen Anhören nur aus dem Sinnzusammenhang erschlossen werden kann. Eventuell daraus resultierende Verständnisschwierigkeiten werden durch die Existenz der Schriftzeichen in gewisser Weise wieder kompensiert.
Bei der Beurteilung, ob die unterschiedlichen Schriftzeichen des Textus receptus und der Mawangdui-Version dieselbe oder eine voneinander unterschiedene Bedeutung haben, d.h., ob hier dasselbe Wort gemeint sein kann, ist die Aussprache der Schriftzeichen der entscheidende Faktor. Da für die Aussprache des alten Chinesisch (8. bis 3. Jahrhundert v. Chr.), im Gegensatz zum Mittelchinesischen (ca. 6. Jahrhundert), keine chinesischen Quellen vorliegen, sind wir auf die Rekonstruktionen chinesischer und westlicher Wissenschaftler angewiesen. Die einzigen existierenden Quellen sind die phonetischen Elemente der Schriftzeichen, wie sie im ersten Wörterbuch - dem Shuowen — wiedergegeben werden, sowie die Kommentare zu den Klassikern und die Reime des »Buches der Lieder« - des Shijing.2 Da jeder, der sich um eine Rekonstruktion des Altchinesischen bemüht hat, auch sein eigenes System entwickelt hat, ist davon auszugehen, dass es sich bei allen Lautwerten nur um approximative, hypothetische Werte handelt. Insofern gibt es auch kaum objektive Kriterien zur Beurteilung der verschiedenen Systeme; eines der wenigen ist die innere Kohärenz einer Rekonstruktion.
Die nicht nur im Westen am weitesten verbreitete Rekonstruktion ist die von Bernhard Karlgren,3 wenngleich sie aufgrund neuer linguistischer Erkenntnisse inzwischen teilweise überholt zu sein scheint.4Unter den chinesischen Gelehrten sind vor allem Dong Tonghe, der mit seiner eigenen Rekonstruktion die Karlgrens kritisiert,5 Zhoufagao und Li Fanggui zu nennen. Die Rekonstruktionen von Li Fanggui haben in letzter Zeit internationale Anerkennung gefunden, doch wurde bisher noch kein entsprechendes Wörterbuch veröffentlicht, sondern Li hat die Prinzipien seiner Rekonstruktion in einem Artikel vorgestellt, anhand derer sich die alte Aussprache einzelner Zeichen rekonstruieren lässt.6
Beim Vergleich der Aussprache der unterschiedlichen Mawangdui- und Textus receptus-Zeichen habe ich mich für das Werk von Zhou Fagao entschieden, der sich sowohl mit den Schriftzeichen selbst wie ihrer Aussprache im klassischen und vorklassischen Chinesisch beschäftigt hat.7 Er hat ein Wörterbuch herausgegeben, welches sowohl seine eigenen Rekonstruktionen enthält, als auch einen sehr guten Überblick über die anderen wichtigsten und umfassendsten Rekonstruktionen bietet. Dort sind drei verschiedene Rekonstruktionen der Aussprache des archaischen Chinesisch (ca. 700 v. Chr.) - die von Dong Tonghe, Bernhard Karlgren und seine eigene - tabellarisch nebeneinander geordnet, und ferner zwei Lautungen des Mittelchinesischen (B. Karlgren und seine eigene) sowie die Aussprache der modernen Hochsprache und des Kantonesischen angeben.8
Zur Definition der Unterschiede bei der Aussprache habe ich vier Kategorien gewählt, in die die voneinander abweichenden Schriftzeichen eingeteilt wurden, und zwar a) dieselbe Aussprache b) Alliteration c) Reim d) unterschiedliche Aussprache. Kategorie a) ist selbstevident, während Kategorie d) nur eintritt, wenn die ersten drei Kategorien ausgeschlossen sind. Da das Ziel des Vergleiches der unterschiedlichen Zeichen darin besteht festzustellen, ob und inwieweit es sich — wie die bisherigen Untersuchungen zum Mawangdui-Yijing größtenteils ermittelt haben wollen - bei den zu vergleichenden Zeichen um Lehnschreibungen handelt,9 habe ich mich, hinsichtlich der Kriterien von Reim und Alliteration denen von Bernhard Karlgren angeschlossen. Denn er har als einziger im Rahmen der Ausspracherekonstruktion des archaischen Chinesisch und des Mittelchinesischen ein geschlossenes System zur Reimlehre, Alliteration und den
Lehnschreibungen entworfen. Alle anderen Rekonstruktionen setzten sich mit der Problematik der Lehnschreibungen nicht auseinander.
Die Kombination der lautlichen und graphischen Beziehung zwischen den Mawangdui- und Textus receptus-Zeichen sind bereits Hinweis auf ihre inhaltliche Beziehung wie auf eine eventuelle Lehnschreibung. Anders als man zunächst vermuten könnte, handelt es sich beispielsweise bei den Zeichen, die graphisch betrachtet dasselbe Phonetikum aufweisen, d.h. sich nur durch das Radikal und eventuell weitere Bestandteile unterscheiden und deswegen zu einem großen Teil ehemals auch dieselbe Aussprache hatten, nicht um eigentliche Lehnschreibungen. In Anlehnung an die Definition von Karlgren und anderen chinesischen Sprachwissenschaftlern besteht die theoretische Möglichkeit einer Lehnschreibung immer dann, wenn zwei Zeichen, die inhaltlich und graphisch nicht miteinander verwandt, sondern homophon sind; ein Schriftzeichen wurde dabei nicht in seiner ursprünglichen, ihm eigenen Bedeutung verwandt, sondern es hat (an dieser Textstelle) die Bedeutung eines anderen Zeichens entliehen. Dies kann sowohl auf Worte zutreffen, die bisher kein eigenes Zeichen hatten, als auch auf Worte, die bereits ein anderes Schriftzeichen für sich in Anspruch nehmen konnten.10 Diese Möglichkeit besteht, wie gesagt, theoretisch für alle die Fälle, in welchen zwei Zeichen nicht verwandt, aber homophon sind, doch in der Praxis ist die Lehnschreibung ausschließlich an der Zeichenbedeutung innerhalb des jeweiligen Kontextes zu belegen, da die geringe Silbenanzahl im Chinesischen ansonsten eine nicht zu überblickende Anzahl von Lehnschreibungen ermöglichen würde. In dem Augenblick, wo zwei Zeichen graphisch und inhaltlich nicht miteinander verwandt sind und lediglich phonetische Ähnlichkeiten im An- oder Auslaut aufweisen, ist eine Lehnschreibung in vielen Fällen strittig und bedarf einer detaillierten Untersuchung.11
In diesem Zusammenhang ist auch die Theorie, dass all die Zeichen, die ein Phonetikum gemeinsam haben, auch in ihrer Bedeutung sinnverwandt sind, zurückzuweisen.12 Es besteht vielmehr die Möglichkeit, dass infolge der noch nicht endgültig fixierten Schreibweise vieler Schriftzeichen Radikale vertauscht, weggelassen oder hinzugefügt wurden. Andererseits bedarf die Hypothese, dass der Mawangdui-Text früher als der Textus receptus niedergeschrieben wurde und seine Schriftzeichen dementsprechend als die »ursprünglichen« betrachtet werden können, ebenso der Überprüfung.
Der Bedeutungsauswahl der einzelnen Schriftzeichen wurden verschiedene Lexika und Kommentare zugrunde gelegt, die ich im folgenden näher darlegen werde. Zunächst gilt es jedoch, zwischen der lexikalischen und der Glossenbedeutung eines Schriftzeichens zu unterscheiden. Während erstere sowohl die ursprüngliche wie die im Regelfall zutreffende Bedeutung angibt, handelt es sich bei letzterer um eine von der eigentlich lexikalischen abweichende Bedeutung, die nur in einem ganz bestimmten Kontext zutrifft und insofern ebenfalls eine Lehnschreibung sein kann. Eine Glossenbedeutung muss in ihrer Verwendung allerdings nicht auf eine Textstelle oder ein Werk beschränkt sein, sondern findet häufig auch in anderen (klassischen) Werken Verbreitung. Quelle für die Glossen sind hauptsächlich die Kommentare zu den Klassikern, in welchen einzelne Zeichen, da sie innerhalb des vorgegebenen Kontextes in einer für den damaligen Sprachgebrauch unüblichen Bedeutung verwandt wurden, einer besonderen Erklärung bedurften. Der Zeitpunkt, zu dem ein Zeichen das erste Mal in der jeweiligen Glossenbedeutung verwandt wurde, ist dabei nur aus der...