Lebensraum Korallenriff
Korallenriffe zählen neben den tropischen Regenwäldern zu den produktivsten, komplexesten und artenreichsten Ökosystemen unserer Erde. Bisher sind mehr als 100.000 Tier- und Pflanzenarten aus den Korallenriffen beschrieben worden. Expertenschätzungen gehen jedoch davon aus, dass die wirkliche Artenzahl deutlich größer ist: 500.000 bis 2.000.000 Arten, vielleicht sogar noch mehr (SPALDING et al. 2001). Die Korallenriffe des Flachwassers bedecken rund 284.300 km2. Das Größte hiervon ist das Große Barriereriff vor der Nordostküste Australiens. Es erstreckt sich über eine Länge von ca. 2.000 km von der Torres Strait im Norden bis zur Capricorn-Bunker-Riff-Gruppe im Süden. Dieses größte von Organismen jemals produzierte Bauwerk ist sogar vom Mond aus zu sehen (NILSEN 2006/2007). Nahezu 3.000 Einzelriffe unterschiedlichster Größe bilden diesen gigantischen pazifischen Riffkomplex.
Das Große Barriereriff vor der Nordostküste Australiens ist auf unserer Erde das größte jemals von Organismen produzierte Bauwerk. Der gesamte Komplex umfasst nahezu 3.000 Einzelriffe, hier das Hastings Reef im nördlichen Teil des Barriereriffs.
Die Anzahl der verschiedenen Lebensräume im Gesamtsystem Korallenriff ist immens. Da haben wir lichtdurchflutete Riffdächer, Riffhänge, Steilriffe, Atolle, Korallenriffe entlang von Küsten, küstenferne Riffe, Lagunen, Seegrasbiotope, Sandböden, Grotten, Höhlen usw. Alle diese Biotope werden in Abhängigkeit von insbesondere der Strömung, der Verfügbarkeit von Licht und Nahrung von den unterschiedlichsten Tieren und Algen besiedelt. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren: Siedlungssubstrat ist knapp im Lebensraum Korallenriff und wird vor allem von den sessilen Wirbellosen mit den verschiedensten Waffen vehement erobert und verteidigt.
Korallenriffe sind von einer ganzen Reihe chemischer, physikalischer und biologischer Faktoren abhängig, die durch ihre geografische Lage ausgeprägt sind.
Im Detail
Wichtige Faktoren, die auf ein Korallenriff einwirken, sind z. B. die hohe Lichtintensität der tropischen Sonne, Temperaturen mit einem Optimum für riffbildende Korallen bei 25–26 °C, die starke Wasserbewegung durch Strömungen und Wellenbewegung, die Verfügbarkeit von Karbonaten und Kalzium, Nahrungsquellen wie Phyto- und Zooplankton und die extrem niedrigen anorganischen Nährstoffkonzentrationen (die Nitrat- und Phosphatkonzentration, siehe auch Seiten 47 und 52), die für Phytoplankton und Algen und damit zahlreiche von ihnen abhängige Nahrungsketten durchaus wachstumslimitierend sein können.
Insbesondere die niedrigen anorganischen Nährstoffkonzentrationen und damit die begrenzenden Nahrungsressourcen machten für Korallen das Entwickeln einer neuen Überlebensstrategie unabdingbar: das Zusammenleben mit symbiotischen Algen, das eine der effektivsten und fantastischsten Symbiosen darstellt, die wir heute kennen.
Siedlungssubstrat ist Mangelware im Biotop Korallenriff und die Korallen kämpfen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Waffen darum. Hier fährt die Kristallkoralle Galaxea fascicularis ihre Kampftentakel aus, um mit deren Nesselgift mögliche Raumkonkurrenten zu verdrängen und abzutöten.
Bei den Zooxanthellen, wie die symbiotischen Algen auch genannt werden, handelt es sich um winzige einzellige Algen, die in großer Zahl im Gewebe vieler Korallen leben. Bis zu 14 Millionen Algenzellen finden sich pro Quadratzentimeter Korallenoberfläche (SOROKIN 1995). Hier fungieren sie als winzige Kraftwerke, die mit Hilfe des Sonnenlichtes organische Verbindungen zur Ernährung der Korallen produzieren.
Im Detail
Als Ausgangsstoffe für die Fotosynthese, wie dieser Prozess genannt wird, verwenden die Zooxanthellen Kohlendioxid und Wasser, die beide im Überfluss vorhanden sind. Die Endprodukte werden dann an den Wirt weitergeleitet, die Koralle. Dazu zählen vor allem Glyzerin, Fettsäuren und einige Aminosäuren (LOYA & KLEIN 1997). Mit den translozierten Verbindungen – so der Fachausdruck – decken die Korallen bis zu 90 % ihres täglichen Energiebedarfs (als Zusammenfassung siehe BROCKMANN 2000).
Solche Korallen, die mit Zooxanthellen in einer Gemeinschaft leben, bezeichnet man als zooxanthellate Korallen. Zwar benötigen sie Licht, darüber hinaus sind sie aber von anderen Energiequellen, die z. B. durch den Fang von Plankton erschlossen werden, weitgehend unabhängig. Nun wird klar, warum Korallenriffe überwiegend in den lichtdurchfluteten oberen Regionen der tropischen Meere zu finden sind. Ihre Baumeister, die zooxanthellaten Korallen, benötigen für ihr Überleben das Licht. Ist es nicht vorhanden, verhungern sie. Darüber hinaus haben zooxanthellate Korallen – praktisch als Sahnehäubchen – weitere Nahrungsquellen erschlossen, wie das Plankton, Bakterien und im Wasser gelöste organische Verbindungen. Alle diese Nahrungsquellen zusammen garantieren den zooxanthellaten Korallen optimale Wachstums- und Vermehrungsbedingungen und ermöglichen damit die Entstehung der üppigen tropischen Korallenriffe.
Die Nutzung der Symbiose als Energiequelle in einem nährstoffarmen Milieu, wie es die Korallenriffe sind, ist aber nur eine Seite der Medaille. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Kalkproduktion, die ebenfalls mehr oder weniger von den Zooxanthellen gesteuert wird. Steinkorallen sind zusammen mit den Kalkalgen die wichtigsten Baumeister der Korallenriffe. Sie besitzen ein Skelett aus Kalk; Leder- und Weichkorallen haben Skelettelemente aus demselben Material. Der Aufbau des Skelettes muss nun aber sehr schnell vor sich gehen, denn nur dann haben die Korallen eine Überlebenschance, können Attacken von Fressfeinden überleben und sich beim Kampf um Siedlungsraum behaupten.
Im Detail
Chemisch lässt sich die Kalksynthese der Korallen nach SCHUHMACHER (1982) recht einfach beschreiben: Aus Kalziumionen (Ca2+) und Hydrogenkarbonat (HCO3-) entstehen über das Zwischenprodukt Kalziumdihydrogenkarbonat (Ca(HCO3)2) Kalk (CaCO3) und Kohlensäure (H2CO3):
Ca2+ + 2 HCO3- ↔ Ca(HCO3)2 ↔ CaCO3 + H2CO3
Die bei dieser Reaktion entstehende Kohlensäure wird von den Zooxanthellen wiederum für die Fotosynthese benutzt. Diese enge Kopplung Fotosynthese und Kalkproduktion macht das schnelle Wachstum der zooxanthellaten Korallen erst möglich. Dadurch, dass die Algen die Kohlensäure aus der Reaktion entnehmen, kommt es zur verstärkten Ausfällung des Kalks und damit zu einem schnellen Skelettwachstum.
Die Menge an Kalzium-Ionen und Kohlendioxid, die für die Kalkbildung jährlich benötigt wird, ist riesig. Ein normal bewachsenens Riffdach produziert etwa 4 +/- 1 kg CaCO3 pro Quadratmeter und Jahr (BARNES & CHALKER 1990). Bei einer geschätzten jährlichen Gesamtproduktion von etwa 900 Millionen Tonnen Kalk sind dies immerhin rund 400 Millionen Tonnen Kohlendioxid und 500 Millionen Tonnen Kalzium, die von den Riffen verarbeitet werden.
So vorteilhaft diese hohe Kalkproduktion für das Überleben der zooxanthellaten Steinkorallen ist, so sehr schränkt sie aber auch die geografische Verbreitung der Riffe ein. Blühende Koral lenriffe findet man nur in den tropischen Breiten innerhalb der sogenannten 20°-Isothermen, wo die durchschnittliche Mindesttemperatur des Oberflächenwassers niemals unter 18 °C sinkt. Denn unterhalb von 18 °C ist die Kalksynthese der zooxanthellaten Korallen deutlich vermindert oder hört gar ganz auf (LOYA & KLEIN 1997). Ein Jahresdurchschnitt von 25–26 °C ist optimal für das Riffwachstum.
Viele Riffkorallen, hier Hydnophora sp., kultivieren symbiotische Algen in ihrem Gewebe. Mit Hilfe des Lichtes produzieren die Algen Nährstoffe, die sie an ihren Wirt – den Korallenpolypen – weiterleiten. Auf diese Weise decken die Korallen einen Großteil ihres täglichen Energiebedarfs. Viele der Korallen, die symbiotische Algen in ihrem Gewebe beherbergen, sind aufgrund dieser Symbiose bei optimalen Wasserwerten und guter Beleuchtung einfach zu pflegen.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit den azooxanthellaten Korallen, also denjenigen Arten, die nicht in einer Gemeinschaft mit Zooxanthellen leben. Aufgrund des Fehlens der Zooxanthellen wachsen sie sehr viel langsamer als ihre zooxanthellaten Verwandten. Außerdem sind sie für ihr Überleben auf den Fang von Planktonorganismen angewiesen. Damit sind sie zwar einerseits unabhängig von einer Lichtquelle, aber andererseits auf Gedeih und Verderb auf eine gute Strömung angewiesen, die ausreichend Nahrungsorganismen heranträgt. Folgerichtig findet man die azooxanthellaten Korallen primär in strömungsstarken Gebieten. Außerdem haben sie sich Biotope des Halbschattens und der Dunkelheit erobert: Sie leben gerne unter...