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E-Book

Das Naturbuch für Neugierige

AutorLoki Schmidt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783644110618
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Loki Schmidt war als leidenschaftliche Naturforscherin bekannt: Pflanzen wurden nach ihr benannt, für ihr Lebenswerk erhielt sie eine Ehrenprofessur der Universität Hamburg. In ihrem «Naturbuch für Neugierige», entstanden in Zusammenarbeit mit dem Biologen Lothar Frenz, lässt sie uns anhand vieler Geschichten und Erlebnisse teilhaben an ihrer Leidenschaft. Sie schildert, wie sie als Arbeiterkind die Natur lieben lernte und wie sie als First Lady für ihren Schutz eintrat; sie berichtet von kühnen Forschungsreisen in ferne Länder und von der Pflanzen- und Tierfülle, die in einer ganz normalen Großstadt zu entdecken ist: vom Frauenmantel bis zur Krausen Glucke, vom Kartoffelkäfer bis zum Bärtierchen.

Loki Schmidt, geboren 1919 in Hamburg, war von 1940 bis 1974 als Lehrerin tätig. Seit 1942 ist sie mit dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt verheiratet. 1976 gründete sie die «Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen», für ihre Forschung und ihr ökologisches Engagement erhielt sie viele Auszeichnungen. 2008 erschien «Erzähl doch mal von früher. Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann». Lothar Frenz, geboren 1964, Biologe und Journalist, dreht Naturfilme für den NDR, schreibt Drehbücher (u. a. für die Sendung «Löwenzahn») und ist Autor der Zeitschrift «Geo». Zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen, zuletzt «W wie Wissen» (2010).

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Leseprobe

Zweites Kapitel

Eisblume oder Krause Glucke


Wer ist die Schönste im ganzen Jahr?

«Was ist denn Ihre Lieblingsblume?» Das wurde ich schon so oft gefragt, besonders gerne von Frauen. Ich habe sie dann immer todernst angeguckt und zurückgefragt: «Zu welcher Jahreszeit denn?» Dann gab es stets verstörte Blicke. Und ich habe gesagt: «Wissen Sie, im Januar, wenn die ersten Schneeglöckchen rauskommen, dann sind die das Schönste, was ich mir vorstellen kann, aber im April oder im August ist wieder etwas ganz anderes für mich das Schönste.» Vielleicht schauen wir also erst mal, was es in den Jahreszeiten alles zu entdecken gibt.

FRÜHLING

Natürlich möchte ich im Vorfrühling anfangen. Das erwartet man ja wohl so. Es hängt aber auch mit meiner Kinderzeit zusammen, dass ich mich auf das Erste, was sich nach dem Winter überhaupt nur rührte, so wahnsinnig gefreut habe. Vielleicht bin ich das typische Großstadthinterhofkind, das uneingestanden Sehnsucht nach Grün und Pflanzen gehabt hat. Und danach, dass es endlich wieder anfängt zu wachsen draußen. Man kann alles so wunderschön miterleben, weil es noch so langsam vorangeht im Vorfrühling: Man kann zugucken bei allem.

Wissen Sie, woran ich als Kind immer das Kommen des Frühlings bemerkt habe? Und dass es jetzt bald wieder wärmer wird? In einem Stück Boden am Straßen- oder Wegesrand, in dem noch gar nichts am Wachsen war, habe ich kleine, kreisförmige Häufchen entdeckt, und mir wurde klar, dass der Boden nicht mehr gefroren sein kann. Die Häufchen sahen aus, als hätte jemand weiche Erde in eine Kuchenspritze getan und die dann auf dem Boden entleert; die Häufchen waren auch so ein bisschen in sich gedreht.

Damals erfuhr ich von meinen Eltern, dass sie von Regenwürmern stammen. Wer einmal ein solches Häufchen gesehen hat, findet natürlich schnell das nächste. Es hat bei mir aber lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass die von unten hochgedrückt worden sind. Und dann hab ich überlegt, was der Regenwurm da unter der Erde macht. Klar, dass ich nachgebuddelt habe.

So waren Regenwürmerhäufchen früher meine ersten Frühjahrsboten. Heute sind es meist die Schneeglöckchen: Das macht doch Spaß im frühesten Frühjahr, dass man zwischen den grünen Blättern schon eine weiße Spitze sieht. Ich kenne einen Ort in Schleswig-Holstein an einem Schloss mit einem kleinen Wald: Die Bäume dort sind nicht besonders alt, höchstens hundert Jahre – für einen Wald ist das jung. Die erste Schlossherrin mochte so gern Schneeglöckchen leiden und hat ganz viele ans Haus gepflanzt. Die haben sich immer weiter ausgebreitet, sodass im Frühjahr der Boden unter diesen Bäumen weiß von Schneeglöckchen ist – es sind Zigtausende. So etwas habe ich seitdem nie wieder gesehen.

Was macht der Regenwurm in der Erde?

Unter einem Quadratmeter Erde können Hunderte von Regenwürmern leben. Dort fressen sie sich kreuz und quer durchs Erdreich und «bauen» so ein System enger Gänge und Röhren, die sie mit Schleimsekreten und ihren Ausscheidungen auskleiden. Auch die geringelten «Wurmhäufchen» auf der Erdoberfläche sind Ausscheidungsprodukte des Wurmes – gefressene und verdaute Erde sozusagen. Die Würmer durchmischen so den Boden. Der Regenwurm kann sich in seinen Röhren sowohl vorwärts als auch rückwärts bewegen. Legt man einen Regenwurm auf ein Stück Papier, dann kann man ein feines Kratzen hören, wenn er sich fortschlängelt: Es entsteht durch die Borsten in seiner Haut, mit denen er sich in den engen Röhren festhaken kann. Durch das Zusammenziehen und Strecken des Körpers bewegt er sich dort vorwärts.

Ausgewachsene Regenwürmer besitzen oft einen verdickten Gürtel am Körper – das «Clitellum». Dieser Gürtel scheidet bei der Paarung Sekrete aus, mit denen sich die Partner aneinanderheften. Bei Regenwürmern gibt es aber keine männlichen und weiblichen Tiere – sie sind Zwitter, die sich gegenseitig befruchten. Immer wieder wird erzählt, man könne einen Regenwurm in zwei Teile schneiden – und aus beiden entstünde ein neuer Wurm. Das stimmt aber nicht – auch ein Regenwurm besteht aus eindeutigem «Vorne» und «Hinten». Wer kann aber schon mit seinem Hinterteil fressen? Bestenfalls kann der vordere Wurmteil mit den lebenswichtigen Organen das Hinterteil nachwachsen lassen; aber viele Würmer sterben danach an einer Infektion.

Hier unten bei uns, am Haus entlang, habe ich ein Beet bepflanzt mit einer richtigen Krokusschar: weißlilagelb, dicht bei dicht – es ist ein wahrer Blütenteppich. Es sind Wildkrokusse, die sind nicht ganz so bunt, die gelben nicht so knallig, die blauen etwas blasser. Und einige glänzen bräunlich, das sind ganz frühe, man muss zweimal gucken, bis man merkt: Ach ja, das ist schon ein frühes Krokusblütchen. Später im Jahr wird erst Gras geschnitten, wenn die Krokusse ausgeblüht haben. Und dann kann man die dicken Samenkapseln zwischen den Blättern entdecken.

Im Botanischen Garten in London gibt es eine abgelegene Ecke voll mit «Bluebells». Da hat schon eine Queen Sowieso einen kleinen Küchengarten gehabt. Diese Ecke leuchtet früh im Jahr: blau, blau, blau! Die Bluebells sehen aus wie auseinandergezogene Hyazinthenblüten, und sie heißen auch «Atlantisches Hasenglöckchen». Sie kommen in England sogar wild vor. Es gibt dort Gebiete, in denen der Walduntergrund blau leuchtet, so wie bei uns an geeigneten Stellen der Wald manchmal weiß von Maiglöckchen ist. Die Bluebells habe ich bei mir im Garten.

Aber auch die gelben Winterlinge sind für mich jedes Jahr etwas Unglaubliches. Die mögen leider den Sandboden nicht so gern. Aber bei unserer früheren Wohnung habe ich sie in einem alten Nachbargarten erlebt: Das war eine gelbe, also wirklich pathetische Blütenpracht – Winterlinge standen dicht an dicht. Diese Blütenteppiche gehören bei mir zum Frühlingsaspekt, der für mich schon zu den Höhepunkten des Jahres zählt. Oder ist es doch eher das Kommen und Sprießen, das mich immer besonders beeindruckt hat?

In vielen Gärten kann ich heute im Vorfrühling eine blühende Zaubernuss entdecken. Ich mag diese «Hamamelis» sehr, weil sie so früh blüht, noch bevor ihre Blätter austreiben. Schon Ende November sieht man, dass die Knospen plötzlich ein bisschen dicker werden. Und im Dezember noch ein wenig mehr, obwohl draußen eigentlich nichts mehr wächst. Bis auf die Hamamelis-Knospen, die wieder etwas dicker geworden sind. Mit dieser Zaubernuss kann ich mir den Frühling früher holen: Ich stelle mir dann Zweige mit dicken Knospen in lauwarmem Wasser im Haus auf. Und die blühen dann zu Weihnachten.

Zaubernuss (Hamamelis virginiana)

Manchmal schon im Januar, aber spätestens im Februar fangen die Hamamelis-Sträucher auch draußen an zu blühen, selbst wenn Schnee liegt: Dann schaut als Erstes ein gelber Faden aus der Knospe heraus, erst kommt einer, dann der zweite. So kann man richtig von Tag zu Tag sehen, wie die gelben Fäden sich zu einem gelben Pompon erweitern. Und wer genau hinguckt, kann beobachten, dass da auch Staubgefäße und Stempel drin sind. Am besten aber nimmt man eine Blüte, bei der diese beiden Organe deutlich zu sehen sind; wunderschön geht das bei einer großen Lilie oder auch bei Tulpen.

 

Bei diesen Pflanzen lassen sich gut und einfach die «Geschlechtsorgane» einer Blüte erkennen: die Staubfäden, die Blütenstaub produzieren, die Pollenkörner also. Das sind die männlichen Teile einer Blüte. Die weiblichen Teile heißen – alle zusammen – der Stempel: An seiner Spitze sitzt die Narbe, auf die bei der Bestäubung die Pollenkörner aufgetragen werden. Über den Griffel gelangen die männlichen Geschlechtszellen aus dem Pollen zum unten in der Blüte sitzenden Fruchtknoten. Darin liegen die Eizellen, aus denen sich später nach der Befruchtung die Samen entwickeln. Viele Pflanzen besitzen gleichzeitig männliche und weibliche Blütenteile – sie sind also zwittrig. Weil beide Geschlechter gemeinsam auf einer Pflanze vorkommen (also in einem Haus leben), nennt man solche Pflanzen die einhäusigen Pflanzen.

 

Im Frühling kommen viele Vögel zurück aus ihren Winterquartieren, nicht nur die kleinen Singvögel. Die Gänse ziehen hier immer in ihrem Keil über uns hinweg, wahrscheinlich mir zu Gefallen, denke ich dann. Oder gelegentlich auch mal die Kraniche. Manchmal höre ich hier den Mäusebussard, sogar wenn ich im Haus bin und keiner sonst Krach macht – der Bussard miaut ja so komisch. Und wenn man dann rausgeht, sieht man ihn, häufig sind es auch zwei. Wie die umeinander rumkurven über uns – der eine fliegt ein bisschen hierhin, der andere sofort hinterher –, das ist wirklich hübsch. Ob das schon ein festes Paar ist oder noch ein turtelndes Liebespärchen, das kann ich dann nicht beurteilen. Aber diese Flugspiele über einer Großstadt sind wahrlich schön.

Später im Frühjahr beobachte ich, wie die kleinen Vögel manchmal Unmengen Futter im Schnabel anschleppen. Die Amseln huschen auf dem Weg zu ihren Jungen ja nicht zielstrebig ins Nest, sondern machen einen Umweg. Die werden dann sehr scheu, fliegen erst mal hierhin, setzen sich dahin, aber stets gibt es diesen vorsichtigen Anmarsch, um Feinde nicht zum Nest zu führen. Ich weiß trotzdem immer genau, wo ihre Nester sind, weil sich dann irgendwo die Zweige bewegen. Unser Efeu etwa ist dafür sehr geeignet, auch die großen Kamelien, weil die auch ihre Blätter nicht verlieren; manchmal auch die Rhododendren. Die Amseln...

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