Grenzen suchen und finden
«Aber warum», so fragen Vater und Mutter in einer Beratung, «muss denn unser Sohn ständig bis an seine Grenzen und natürlich auch unsere gehen?» – Fast bin ich versucht, diese Frage wie ein jüngeres Kind mit «Darum!» zu beantworten.
Ich kenne kaum ein Kind, das zwei Meter vor einer Grenze verwundert stehen bleibt und ausruft: «Oh, eine Grenze!» Kinder überqueren Grenzen, gehen in das Land auf der anderen Seite, weil es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein könnte. Kinder sind Grenzgänger, sind Grenzensucher, sie bewegen sich – so die Psychologin Margrit Erni – «an der äußersten Grenze der Möglichkeiten».
Das Lied «Hänschen klein …» steht dafür ebenso wie das Märchen vom «Hans im Glück».
Jedes Kind will weg aus der symbiotischen Einheit mit den Eltern – und das tut Müttern und Vätern gleichermaßen gut. Da hält man den Säugling noch im Arm, lächelt ihm zu. Er lächelt selig zurück – und man denkt, das bliebe so bis in alle Ewigkeit.
Da beugt sich irgendjemand liebevoll über ihn und hat urplötzlich die Hand des Einjährigen im Gesicht.
Das ist dann – so könnte man es pädagogisch-psychologisch deuten – der Übergang von jener Phase, in der das Kind eins sein will mit der vertrauten Bezugsperson, in der es keine Grenzen kennt, verschmilzt mit Mutter und Vater, in der es nicht genug bekommen kann an Zuwendung, an Halt, in der es sich fallenlässt, bedingungslose Geborgenheit erfahren will, in der sich Urvertrauen aufbaut – und jener Phase, in der das Kind beides ist: Engel und Teufel, gut und böse, aber auch seine Grenzen wie die von anderen austestet. Das Kleinkind formuliert seine ganz eigene Unabhängigkeitserklärung: «Lasst mich los! Aber haltet mich fest!»
Das Kind will eben auch dann angenommen sein, wenn es nicht «lieb» ist. Es kennt mit einem Mal nur noch sich und sonst niemanden! Es ist auf sich fixiert, will alles haben, nichts abgeben. In manchen Augenblicken wirkt es einsichtig und teilhabend, im nächsten Moment schaut es wütend und tobt, weil es seinen Willen nicht bekommt. Aber gerade jetzt möchte das Kind – im übertragenen wie praktischen Sinne – in den Arm genommen, gehalten werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Wenn ein Kleinkind zuschlägt, nutzen keine langen Vorträge und erst recht kein Zurückschlagen. Kinder brauchen in solchen Situationen Klarheit, ein deutliches «Nein!», verstärkt durch Mimik und Gestik und den Klang der Stimme.
Es ist das Vorrecht der Kinder, schon in jüngeren Jahren Grenzen auszutesten, es ist die Pflicht der Eltern, ihrer Erziehungsverantwortung nachzukommen und den Maßlosigkeiten und Grenzüberschreitungen der Kinder bestimmt zu begegnen. Nur indem Eltern Normen und Werte vorleben, können Kinder diese verinnerlichen, können Regeln und Rituale verbindlich werden.
Das Märchen «Hans im Glück» erzählt von Ich-Findung und Selbst-Werdung der Kinder, aber zugleich – wenn auch unausgesprochen – davon, wie Eltern auf das Autonomiestreben des Kindes reagieren. Hans zieht in die Welt, wird reich, macht sich nach sieben Jahren auf den Weg zurück und tauscht sein Gold ein, bis er zum Schluss nur noch einen Felsbrocken hat, und auch der fällt ihm in den Brunnen. So steht er zwar mit leeren Händen vor seinen Eltern, ist aber zu einer autonomen Person geworden, die in der Fremde Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, Einstellungen und Haltungen kennengelernt, Ausdauer bewiesen, Freude an der Auseinandersetzung gewonnen hat. Hans hat vielleicht nicht den geraden Weg gewählt, er hat es aber ständig aufs Neue versucht und damit ein zentrales Prinzip des Lernens verinnerlicht: die Wiederholung, das immer wiederkehrende Ritual, weil man sich nur so Kompetenzen, Haltungen und Werte aneignen kann. Wenn Hans nach Hause kommt, entscheidet sich, ob die Eltern ihn als eigenständige Persönlichkeit annehmen, sich mit ihm über seinen eingeschlagenen Weg freuen. Eltern müssen nicht mit allen Vorhaben ihrer Kinder einverstanden sein. Aber sie sollen ihnen auch nicht die eigenen Vorstellungen vom richtigen Weg aufdrängen.
Kinder brauchen Unterstützung, um Selbstbewusstsein zu entwickeln, sich für neue Aufgaben zu motivieren. Dazu ist es notwendig, an ihrer Leistungsbereitschaft anzuknüpfen, sie zu fordern – ganz im Sinne des großen Pädagogen Pestalozzi: «Alles, was (…) das Kind lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es, alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht, ich kann es, das will es.»
Wird Hans allerdings nach seiner Rückkehr so empfangen: «Endlich bist du wieder da. Wir haben so auf dich gewartet die letzten sieben Jahre! Bleib doch bitte, bitte hier!», dann wird sich Hans vermutlich Vorwürfe machen, die Eltern alleingelassen zu haben, seine Autonomie aufgeben und wieder in jene Abhängigkeit zurückkehren, aus der er einst ausbrach, um Eigenständigkeit zu erproben.
Nun ist die Grenzüberschreitung nicht allein ein Entwicklungs- und Lebensprinzip, Grenzüberschreitungen haben zugleich einen Beziehungsaspekt. Dann ist die Frage: Warum könnten manche Kinder zwar Grenzen respektieren – wollen es aber nicht?
Meist steht beim Kind eines der folgenden Motive hinter andauernden Grenzüberschreitungen: das Streben nach Aufmerksamkeit; der Versuch, mit den Erwachsenen in einen Machtkampf einzutreten; das Gefühl, negativen Vorgaben im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entsprechen zu müssen.
Wenn Kinder Grenzen überschreiten, sollte man nicht gleich bösen Willen oder schlechten Charakter vermuten, vielmehr gibt es vier Momente, die es durch Nachdenken und Handeln zu ergründen gilt: Ist die Grenzüberschreitung
Ausdruck von Charakter und Temperament des Kindes, hat es gar mit neurologischen Defiziten (z. B. Hyperaktivität, Wahrnehmungsstörungen) zu tun?
Ausdruck von Entwicklungsbesonderheiten des Kindes (z. B. Trotzalter, Vorpubertät)?
Ausdruck davon, dass das Kind Macht ausüben, Aufmerksamkeit erlangen will?
Berührt die Grenzüberschreitung die Eltern-Kind-Beziehung?
Um auf Grenzüberschreitungen pädagogisch angemessen eingehen zu können, muss man diese Fragen zuvor beantworten.
Grenzen erfahren und setzen
Wer Kinder ins Leben begleitet, wird tagtäglich mit einer Polarität konfrontiert: einerseits Grenzen zu setzen und andererseits sie immer wieder auch zu erfahren. Es sind die fünf großen «G», die einen dabei begleiten: Geduld, Gelassenheit, Geschicklichkeit, große Gefühle erleben und Grenzen erfahren.
Geduld: Dazu zählt vor allem, den Charakter, das Temperament und die Eigen-Art eines Kindes zu berücksichtigen, und zugleich, sich als Vater und Mutter so anzunehmen, wie man ist: mal nachdenklich, mal fordernd, mal aufbrausend, dann sich zurücknehmend. Man bekommt meist jenes Kind, mit und an dem man noch etwas lernen kann. Die umtriebigen Eltern haben es mit einer bedächtigen Schildkröte zu tun, die «Morgenmuffel» mit einem Fünf-Uhr-Schnellzug. Geduld meint, sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie man ist.
Gelassenheit: Erziehung heißt Verzicht auf Überlegenheit. Gelassenheit bedeutet, Vertrauen zu sich und zum Kind zu haben. Gelassenheit meint nicht völlige innere Ruhe – man darf ruhig einmal die Fassung verlieren, wenn es angebracht ist, ja sogar ausrasten, muss sich aber hinterher dafür beim Kind ehrlich entschuldigen. Zur Gelassenheit gehört, aufrichtig zu seinem Verhalten zu stehen und sich nicht ständig dafür zu rechtfertigen, nur weil man seiner Erziehungsverantwortung als Eltern nachgekommen ist.
Geschicklichkeit: Erziehung ist eine Kunst, und oft entsteht das «Kunstwerk» spontan, aus dem Bauch heraus. Wer unter Zeitdruck steht, kann nicht überlegen, sondern muss reagieren. Aber es gibt eben auch Situationen, auf die kann man sich vorbereiten, um dann im «Ernstfall» gekonnter zu handeln. Geschickte Eltern entwickeln auch ein Gespür für die eigene Grenze, diese Polarität zwischen «Ich werde gebraucht!», «Ich bin unverzichtbar!» und «Ich habe eigene Bedürfnisse!». Eltern haben auch das Recht auf Rückzug – und Kinder können das verstehen und aushalten.
Große Gefühle erleben: Wer Kinder hat, der erlebt sie – häufiger, als man sich das manchmal wünscht. Wer Kinder ins Leben begleitet, der erfährt Höhepunkte und durchlebt Niederlagen – besonders während des Trotzalters und der Pubertät. Jedes Kind durchlebt diesen Entwicklungsabschnitt auf seine Weise: mal still und leise, mal lautstark und provozierend. Erziehung als Beziehung ist dann besonders wichtig, weil die Erziehungstechniken an ihre Grenzen stoßen. Üben Sie sich in Geduld – die großen Gefühlsaufwallungen gehen ganz bestimmt...