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E-Book

Shiva Moon

Eine Reise durch Indien

AutorHelge Timmerberg
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783644102613
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Ganges ist Indiens Schicksalsstrom - heiliger Fluss und Lebenselixier. Helge Timmerberg ist ihm gefolgt, von der Quelle im Himalaya bis zum Delta am Indischen Ozean. Er durchstreift Rishikesh, die Stadt, in die die Beatles pilgerten und wo Autos, Alkohol und Fleisch verboten sind, trifft Sadhus, Bettelmönche, und zwei wahnsinnig schöne Geistheilerinnen. Er besucht das sechstausend Jahre alte Varanasi, die heiligste Stadt der Hindus und die Metropole der Astrologie - Madonna, so heißt es, lässt sich dort regelmäßig die Sterne deuten. Sein Weg führt ihn in die Slums von Kalkutta, das «Haus der Toten» und das schönste Kaffeehaus der Welt. Mit großer Kraft und feinem Humor erzählt Helge Timmerberg von einer Reise, die seinen Blick auf sich und die Welt verändert hat, von ewiger Pilgerschaft und dem Verlust des Glaubens, von Haschischentzug und der Suche nach Klarheit: Es geht um Shiva Moon, den Mond der Zerstörung, und es geht um die Liebesgeschichte zwischen Timmerberg und Indien - dem Land, das er wieder und wieder bereist hat, seit mehr als drei Jahrzehnten.

Helge Timmerberg, geboren 1952 in Dorfitter (Hessen), ist Abenteurer, Journalist und Reiseschriftsteller. Er schreibt Reportagen aus allen Teilen der Welt, unter anderem für «Stern», «Die Zeit», «Merian» und «Playboy». Sibylle Berg über ihn: «Den ersten richtig großen und tiefen Neid empfand ich, als ich Helge Timmerberg kennenlernte. Er war in meiner Generation der beste Schreiber Deutschlands und der freieste Mensch, den ich jemals getroffen habe.»

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Leseprobe

1. Die Maus wohnt im Wasserfilter


Es gibt drei Möglichkeiten, in New Delhi anzukommen: die spottbillige, die superteure und das «La Sagrita». Ich habe alle drei Hotels schon ausprobiert. Jedes hat seine Schwächen. Das spottbillige in der Bahnhofsgegend kostet fünf Dollar die Nacht, und das Zimmer hat einen kleinen Balkon zur Straße, auf der Leute schlafen und Hunde bellen und Katzen streunen. Es ist nicht sauber, aber das Personal ist lieb, und sie organisieren warmes Bier, egal, wann du kommst. Das ist der Haken beim Landen in Delhi. Es ist immer nach Mitternacht, weit nach Mitternacht, aber noch nicht nah genug am Morgen, du landest in einer schlafenden Stadt, das Taxi fährt durch Geisterstraßen. Nur du kannst nicht pennen. Jetlag in einem Loch mit warmem Bier und hoffentlich noch ausreichend Zigaretten, nein, es stehen ein paar widerliche Stunden bevor, wenn man in einem der billigen Hotels am Bahnhof eincheckt. Widerlich im Sinne von widerlichen Gedanken. «Mein Gott, was willst du hier? Was hast du aus deinem Leben gemacht, dass du noch immer auf diesem Niveau reist?» Als Siebzehnjähriger schmeckt das abenteuerlich, mit fünfzig ist es schwer deprimierend.

Die zweite Möglichkeit, in New Delhi anzukommen, ist das «Imperial». Das schönste Hotel der Welt, eine Mischung aus Mogul und Kolonial, Maharadscha und Offizier, Turban und Krone, Schönheit und Macht. Mein letztes Gespräch am Mahagonitresen der Rezeption verlief so:

«How much is the room?»

«Single or double, Sir?»

«Single.»

«Two hundred and eighty US only, Sir.»

Das «only» war nicht ironisch gemeint, das sagen sie immer, nach jedem Preis. Alles in Indien kostet irgendwas «only», außerdem sind zweihundertachtzig Dollar für ein Hotel wie das «Imperial» im internationalen Vergleich tatsächlich «only», aber für mich war das die Hälfte meiner Miete zu Haus. Und für den Jungen an der Rezeption war es ein Monatsgehalt. «Okay», sagte er. «Two hundred US, Sir, last price.»

Ich fragte ihn, ob die Bar noch geöffnet habe, denn ich müsse mich betrinken, um diesen Preis zu akzeptieren, und nachdem ich drei Gin Tonic intus hatte, war ich wieder bei ihm.

«Now you are ready, Sir?»

Er war mir sympathisch. Ich checkte in ein großes Zimmer ein, das wie ein Museum für Agatha Christies Reisen möbliert war, und sogar der Flaschenöffner war da. Kennen Sie das, wenn in den Fünfsternehotels der Flaschenöffner fehlt? Nein, er war da.

Die problematische Seite des «Imperial» ist nicht nur der Preis für das Zimmer, es sind die Folgekosten, die einem auf die Nerven gehen. Selbst die Marlboros sind in dem Tabakshop des Hotels fünfundzwanzig Rupien teurer als überall sonst auf dem Subkontinent. Und praktisch jeder will Trinkgeld. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich liebe es, Trinkgeld zu geben, aber nicht so häufig, wie ich ein- und ausatmen muss. Und nicht für nichts. Dass einer seinen Schnurrbart bis zu den Ohren zwirbeln kann, ohne dabei den Turban zu verlieren, ist für mich noch kein Trinkgeld wert.

Das «La Sagrita», die dritte Möglichkeit, in Delhi anzukommen, begrenzt die Anzahl der zu tippenden Mitarbeiter auf maximal vier Personen, die Preise sind fair (fünfzig bis siebzig Dollar), in direkter Nachbarschaft finden sich kleine Parks und hübsche Villen, das Ganze nennt sich Sunder Nagar und ist New Delhis beste Kolonie. Das städtebauliche Konzept von Kolonien ist einfach. Es gibt eine große Mauer, es gibt Tore mit Wachen, dahinter wohnt die gehobene Mittelklasse in ruhigen Straßen. Die griechische Botschaft, die Asien-Redaktion der ARD, solche Nachbarn hat das «La Sagrita». Und es hat einen großen Garten und grundsätzlich angenehme Gäste, aber leider hat es wenig Zimmer. Und ist immer ausgebucht. Immer. Außerdem sollte man sich an die Ankunftszeiten interkontinentaler Flüge in Delhi erinnern. Plus die Stunde, die man braucht, um das «La Sagrita» zu erreichen. Als ich das letzte Mal dort war, fand ich den Mann an der Rezeption in tiefem Schlaf. Ich riss ihn da heraus. Der schnellste Weg, wieder einzuschlafen, war, mich abzuweisen. Mich einzuchecken hätte zehnmal so lange gedauert, zwanzigmal so lange, wenn ich ehrlich bin.

«Sorry, Sir, fully booked» hatte für seine Ohren einen beruhigenden Klang. Für meine Ohren nicht. Niemand will das hören nach einem Zehnstundenflug und mitten in der Nacht, und als er mich fragte, warum ich nicht reserviert hätte, sagte ich: «Das ist eine gute Frage. Das frage ich mich auch.» Die Antwort ist: Jeder hat eine Macke. Selbst Gandhi hatte eine. Und meine Macke ist, ich kann nicht reservieren. Weil ich keine Kreditkarte habe. Haha, sag mal an der Rezeption, egal wo in der Welt, dass du keine Kreditkarte besitzt. Nicht weil du arm bist, sondern weil du mal eine Bank betrogen hast. Genauso könntest du einem hübschen Mädchen sagen, du hättest zwar Aids, Mundgeruch und paranoide Phantasien, aber wärst ansonsten ein recht häuslicher Typ. «Sorry, Sir, fully booked.»

Ganesha nahte, der Elefantengott, er ist der Schutzpatron der Diebe, Dichter und Händler, deshalb trage ich ihn als Amulett. Er ist aber auch der «Hüter der Schwelle» und der «Überwinder aller Schwierigkeiten», und gerade in der letzten Funktion war er hier gefragt. Ich knöpfte mein Hemd ein bisschen auf, und als der Mann Ganesha sah, kam er sofort hinter dem Tresen hervor, trat auf mich zu und küsste ihn. Erst dann fiel mir auf, dass im Foyer eine mannshohe Ganesha-Statue stand. Der Gott erfreut sich großer Beliebtheit in Indien. Er ist klein, dick, und er hat einen Elefantenkopf. Eine Ratte begleitet ihn. Als «Überwinder aller Schwierigkeiten» arbeitet er folgendermaßen: Entweder er spießt die Hindernisse mit seinen Stoßzähnen auf, oder er drückt sie mit seinem breiten Elefantenschädel zur Seite, oder er schickt seine Ratte los, um Schlupflöcher zu suchen. Ergebnis so oder so: Ich bekam das beste Zimmer. Es war fast so groß wie die Zimmer im «Imperial», aber es hatte eine Dachterrasse mit Blick auf den Mond.

Für welche der drei Möglichkeiten, in Indien anzukommen, werde ich mich dieses Mal entscheiden? Ich weiß es während der Landung noch immer nicht. Jede der drei hat ihre Tücken, ich sagte es bereits. Die Nummer mit Ganesha muss nicht klappen, das «Imperial» bereue ich spätestens beim Auschecken (außerdem verdirbt es einen für alles, was noch kommt), und im Bahnhofsviertel wird bald eine Bombe hochgehen, aber das weiß ich bei der Landung noch nicht. Nein, ich kann mich nicht entscheiden, während ich am Gepäckband stehe, und als ich auf den Schalter für «Prepaid-Taxi» zugehe, kann ich es immer noch nicht. Es gibt eine vierte Möglichkeit, denke ich. Kollegen. Scarlet hat mich x-mal eingeladen, bei ihr zu wohnen, wenn ich in der Stadt bin. Sie wäre sogar beleidigt, wenn ich es nicht tue, und sie wäre es zu Recht. Aber sie hat einen grässlichen, geilen Hund namens Krishna (Gott der Liebe), der Sex mit meinen Beinen haben wollte. Beim letzten Mal.

Ich glaube, es wird deutlich, dass ich öfter in Indien bin. Es ist meine zweite Heimat. Aber nicht eine, die auf die erste folgt, sondern eine für zwischendurch, eine für immer wieder, seit meinem siebzehnten Lebensjahr. Zweimal kam ich über Land, die anderen hundert Mal mit dem Flieger. Und immer Delhi. Da lernt man eben das eine oder andere Mitglied des «Foreign Correspondents’ Club» kennen. Zwei insgesamt. Der eine ist ein amerikanischer Fernsehjournalist, der in Indien seinen Frieden gefunden hat, die andere ist Scarlet. Von dem Amerikaner weiß ich, dass er zurzeit nicht in Delhi ist, sondern beim Dalai Lama in Dharamsala, weil er seinen Frieden inzwischen wieder verloren hat. So ist das Leben. Nichts hat Bestand. Sein Garten war ein kleiner exotischer Platz mit lauschigen Bänken, seine Frau war wunderschön, er hatte immer Haschisch und fast immer fabelhafte Gäste. Ach, Patrick, warum musste das geschehen? Warum musstest du deine Frau verlieren, an einen Australier, der auf Koh Samui lebte, wo sie nach einer Party ertrank? Mohani hatte schon immer Angst vor dem Wasser, jetzt ruht sie auf dem Grund des Pazifischen Ozeans, und du lungerst bei den Lamas rum und versuchst, ihre Schönheit zu vergessen, ihre Gutmütigkeit, ihr Lachen. Sie war eine Lichtgestalt mit pechschwarzen, hüftlangen Locken. Es ist manchmal aber wirklich zum Kotzen.

«Nizamuddin», sage ich, als ich an dem «Prepaid-Taxi»-Schalter stehe. Die Sache mit den Prepaid-Taxis ist folgendermaßen: Als es noch die freien Taxis gab, die man sich vor dem Indira Gandhi Airport selbst besorgte oder besorgen ließ, verschwanden immer mal wieder Touristen, kurz nachdem sie gelandet waren, spurlos. Um das zu beenden, wurde ein Schalter im Flughafengebäude eröffnet, an dem man ein Taxi zugewiesen bekommt. Sie haben deinen Namen, sie kennen dein Ziel, und sie wissen, wer dich fährt.

«Nizamuddin Station, Sir?»

«No, Nizamuddin East.»

«Five hundred rupees only, Sir.»

Die freien Taxis haben nur die Hälfte gekostet, aber was ist schon Geld gegen das relative Gefühl von Sicherheit?

 

Ich habe mich also für Scarlet entschieden. Eine ihrer vielen guten Seiten ist, dass man sie nach sieben Jahren nachts um vier unangemeldet besuchen kann, ohne dass sie dabei sonderlich die Fassung verliert. Sie umarmt mich, sie sagt «unglaublich», sie fragt, ob ich einen Tee will, sie zeigt mir das Gästezimmer und erzählt mir kurz das Wesentliche. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt, ihr Verleger überweist kein Geld, und es gibt Ärger mit ihrem Pressevisum. Wenigstens bei ihr ist alles beim Alten geblieben.

Scarlets Mutter war das schönste Mädchen von Sri Lanka, Scarlets Vater war der...

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