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E-Book

Das Paradies war für uns

Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball

AutorBärbel Reetz
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783458742821
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR


<p>Bärbel Reetz, geb. 1942, Studium der Germanistik und Anglistik lebt als Autorin und freie Journalistin in Berlin; ihre Arbeiten wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, u.a. 1994 Bettina-von-Arnim-Preis für die Erzählung <i>Virginia oder die Gleichzeitigkeit</i>.</p>

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Leseprobe

Unter der Glasglocke


Seemannsgarn und Sehnsucht – Kleine Fluchten – Blütenträume


Flensburg. 17. Januar 1885. 14 Uhr. Ein Kind wird geboren. Im Taufregister der protestantischen St. Marienkirche ist es am 19. April unter dem Namen Emma Maria Cordsen verzeichnet, Tochter des Werftarbeiters Ernst Friedrich Matthias Cordsen und der Anna Dorothea, geb. Zielfeld. Es ist ein spätes, ganz unerwartetes Kind, das die Eltern Emmy rufen werden. Der Vater ist 48, die Mutter 43 Jahre alt. Für beide ist es die zweite Ehe. Cordsen, der um 1877 seine erste Frau in Altona geheiratet hatte, war 1881 nach deren Tod mit der eineinhalbjährigen Tochter Paula in seine Vaterstadt Flensburg zurückgekehrt. Er brauchte eine Mutter für sein Kind, eine Frau, die ihm den Haushalt führte. Und als die kinderlose Witwe Anna Dorothea Lund, deren Mann nach einem Schiffbruch verschollen war, 1882 Hamburg verließ und wieder nach Flensburg zog, lag eine Verbindung nahe. Beide hatten, wie man dort sagt, »gut davon«. Sie heiraten am 30. Mai 1882 in St. Marien, und Cordsen kauft im November desselben Jahres ein Haus in der Steinstraße 5, unweit der Werft, bei der der ehemalige Seemann als Takler eine Anstellung gefunden hat. »Er hatte die Hißtaue an den Schiffsmasten anzubringen und alles zu ordnen, was mit dem Segelwerk und dem Stapellauf eines Schiffes zu tun hatte.«1 Die Seefahrt wird zur Erinnerung. Später, wenn er Emmy davon erzählt, zum aufregenden Abenteuer. Und abenteuerlustig muß der junge Cordsen gewesen sein, dessen Vorfahren die Flensburger Archive als Hufner und Bäcker ausweisen. 1864, im Jahr der für seine Heimat so entscheidenden Schlacht auf den nahen Düppeler Schanzen, hatte er das Steuermannspatent erworben, 1867 einen Reisepaß für das Ausland erhalten, war zur See gefahren. Auf einem Dreimaster um die Welt gesegelt. Mehrmals. Das wissen wir von Emmy, die um den Vater, das Meer und sich selbst einen magischen Bann ziehen und mit ihrer unerschöpflichen Phantasie immer neue Geschichten dazu ersinnen wird. Anders die aus einer Flensburger Handwerker- und Tagelöhnerfamilie stammende Mutter, die ihren ersten Mann, den Schiffskapitän Ludwig Lund, unmittelbar vor ihrer Eheschließung mit Cordsen für tot erklären ließ: »Von Mutter weiß ich, daß sie das Meer fürchtete, doch hatte sie hierfür einen triftigen Grund, da sie ihren Lieblingsbruder und vor allem ihren ersten Gatten schon früh an das Meer verloren hatte.«2

Emmy fürchtet das nahe Meer nicht. Kann von der Steinstraße zur Förde laufen, zum Hafen, wo die Schiffe am Kai liegen, Segel- und Dampfschiffe be- und entladen werden und mit geblähten Segeln, mächtig dampfenden Schornsteinen davonfahren und hinter dem Horizont verschwinden, der Grenze zur aufregenden, geheimnisvollen und gefährlichen Welt. Manchmal ist das Wasser der Förde tiefblau. Meistens jedoch ist es so grau wie die Felduniform der preußischen Soldaten in der Duburg-Kaserne. Denn Flensburg ist nach langem politischen Tauziehen und dem Sieg Österreichs und Preußens über Dänemark preußisch. Und damit nach 1871 Teil des Deutschen Reichs. Aber die Grenze ist nah. Jenseits liegt Dänemark, zu dessen Krone die Herzogtümer Schleswig und Holstein bis 1864 gehört hatten. Bei klarer Sicht sind die dänischen Fördeufer nicht von den reichsdeutschen zu unterscheiden: weißer Strand und grüne Buchenwälder. Danach wird sich Emmy sehnen, wenn sie aufbricht, das Geheimnis der Welt hinter dem Horizont zu ergründen.

Zuvor jedoch sind die Grenzen eng gezogen: »eine kleine ungepflasterte Straße, weit draußen im Vorort der kleinen Hafenstadt. Eigentümlich verschollen wirkt diese Gegend, einsam, als wär hier die Welt zu Ende, oder als wäre sie am Anfang, denn irgendwo muß sie doch beginnen (…) Kinder spielen im Kreis und sagen einander, daß der Himmel heut so niedrig hängt, und daß man vielleicht bald auf Gewölk gehen könnte. (…) Sieht man nach oben, ist alles weich und weiß, fließend und blau.«3

Das Wetter wechselt mit dem Wind. Kommt er von Westen, wird der Himmel grau, hängt tief auf den roten Ziegeldächern der Stadt, auf den reetgedeckten Katen im Land. Wird er zum Sturm, drückt er das graue Wasser aus der Förde, und der Grund des Hafens ist zu sehen. Mit allerlei Unrat, Tauenden, Steinen und Muscheln. Kommt er von Osten, ist der Himmel blau, und das Wasser tanzt in kleinen Wellen. Schaumgekrönt. Und bei scharfem Nordost klatscht es gegen die Ufer und drückt in den Hafen, daß die Schiffe hoch aufragen und mit schwankenden Rümpfen gegen die Kaimauern schaben und krachen.

Im Januar, zur Geburt des Kindes, hängt der Himmel tief. Um 14 Uhr ist es schon dämmrig in den niedrigen Stuben. Reicht das Tageslicht nicht, brennt die Petroleumlampe vom Morgen bis zum Abend. Feuchte, dunkle Winter. Wird es frostig über Nacht, erstarrt die Nässe an den Zweigen. Rauhreif. Die kleine, ungepflasterte Straße, die kleine Hafenstadt ein Märchenland. Das Kind hat Phantasie. Auch ohne Rauhreif verzaubert es seine Welt. Noch ist die enge Umgrenzung ein Vorteil: »Zwei Häuser rechts, und zwei Häuser links, das ist leicht zu überblicken. In jedem Hause wohnen vier Familien, deren Geschichte man kennt, und was man nicht kennt, errät man. Jedes zweistöckige Haus hat an der Vorderfront acht Fenster, während es auf der Rückseite, nach dem Hof und Garten zu, vier Fenster hat, und überall hängen Tüllgardinen mit mehr oder weniger interessanten Mustern. Es waren Wege, die in Wälder führten, in eine Gegend, in der noch kein Mensch gewesen war, nur ich.«4

Alles ist überschaubar: das Haus, der Garten, die Nachbarschaft. Das Haus steht bis heute unverändert. Man hat 1997 eine Tafel neben der niedrigen Haustür befestigt: »Emmy Ball-Hennings – Schriftstellerin, Schauspielerin, Kabarettistin – 1885 Flensburg – 1948 Tessin«. Noch immer hängen Gardinen an den Fenstern. Stores mit Mustern. Und noch immer ist die Neustadt ein Arbeiter- und Industrieviertel. Damals bestimmten Glashütte, Gaswerk und die Werft das Bild, denn im letzten Jahrzehnt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde auch Schleswig-Holstein von der allgemeinen Aufbruchstimmung im Reich erfaßt und nahm, nachdem Wilhelm II. 1888 Kaiser geworden war, einen ungeahnten Aufschwung. Hauptsächlich durch die kaiserliche Marine, die entlang der Küsten ihre Stützpunkte errichtete. Im knapp hundert Kilometer entfernten Kiel wurde am Kaiser-Wilhelm-Kanal, der Verbindung zwischen Nord- und Ostsee, gearbeitet. Der Kaiserbruder, Prinz Heinrich, zog in den Norden, und unter dem Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred von Tirpitz begann der deutsche Flottenbau. 1890 besucht der marinebegeisterte Kaiser erstmals auch Flensburg, Kaiserin Auguste Viktoria kommt im Juli 1899 und am 25. April 1901. Daß die Besuche der Majestäten Eindruck auf die junge Emmy Cordsen machten, lesen wir in ihren Erinnerungen Blume und Flamme: »In den nächsten Tagen hieß es, der Kaiser wolle unsere Stadt besuchen, sich vielleicht die Kaserne ansehen, in der sich das Regiment der Kaiserin befand. Die Straßen sollten beflaggt, die Häuser geschmückt werden, die Wachparade würde aufmarschieren, es würde große Musik geben.«5

Es ist in diesen Apriltagen 1901 die aufgeregte Spannung, die sich dem begeisterungsfähigen jungen Mädchen mitteilt, der Einbruch von Größe und Welt in die engen Grenzen ihres Lebens: »ich wollte zu gern ein einziges Mal den Kaiser sehen, ihn begrüßen, ihm zujubeln. Er war ja der Vater des Landes (…) und ich stellte es mir wunderschön vor, ihn einmal von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können.«6 Helga Lund, Emmys literarisches Pseudonym in Blume und Flamme, für das sie den Namen des verschollenen Stiefvaters Ludwig Lund wählte, das Dienstmädchen Helga Lund kostet das Bejubeln von Kaiser und Kaiserin an einem Vormittag die Stellung. Und der Bittbrief an den Kaiser, den sie nicht die Gelegenheit hatte zu überreichen, wandert ins Feuer. Damit gehen auch die daran geknüpften Hoffnungen Helgas/Emmys in Flammen auf, »nämlich, ob es nicht möglich wäre, falls es keine zu großen Umstände mache, mich gelegentlich auf meine Begabung als Schauspielerin prüfen zu lassen, und falls es sich herausstellte, daß ich Talent habe, meinen Lieblingswunsch doch gütigst bei meinen Eltern schriftlich befürworten zu wollen«7. Undenkbar in der Steinstraße, diesen Wunsch Emmys zu erfüllen. Er gehört ins Reich der unerfüllbaren Träume, die sie in ihrer engen Welt träumt, ins Reich der Phantasie, in dem man tiefhängendes Gewölk besteigen und auf ihm davonsegeln, in dem man ein »Liebling des Volkes«8 werden kann.

Realität ist die kleinbürgerliche Neustadt, sind die Nachbarsfamilien mit ihren zahlreichen Kindern, ist Onkel Erich Jürgensen, der Zimmerpolier im Haus Steinstraße 8, der die jüngere Schwester von Emmys Mutter geheiratet hatte. Mit Cousine Doris, dem jüngsten der zehn Jürgensen-Kinder, drückt Emmy die Schulbank. Gemeinsam werden sie am 19. April 1899 konfirmiert. In St. Marien. Realität sind die zwei Zimmer in der Steinstraße 5, die Familie Cordsen in ihrem Haus bewohnt. Neben den Eltern und Emmy auch die Stiefschwester Paula, »ein schönes Mädchen, hoch und schlank gewachsen, mit schwerem, glatten, streng gescheiteltem Haar und einem sehr fein geschnittenen Gesicht, jedoch mit einem etwas gleichgültigen, manchmal sogar abwehrenden Gesichtsausdruck. Im Typus war sie der vollendete Gegensatz zu mir.«9 Sieben Jahre älter ist sie, scheu bewundert von Emmy, vielleicht ihr auch als...

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