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E-Book

Soziophobie

Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie

AutorCésar Rendueles
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl262 Seiten
ISBN9783518741061
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Früher gab es einen Marktplatz und einen Markttag - mittlerweile haben die Läden immer länger geöffnet, und der Kapitalismus kolonialisiert die letzte Pore der Lebenswelt. In einer von wachsender Ungleichheit geprägten Gegenwart setzen viele Linke ihre letzte Hoffnung in die sozialen Medien, eine Haltung, die César Rendueles als naiven »Cyberfetischismus« kritisiert. Mit einem Gespür für große historische Bögen und einem an Slavoj ?i?ek erinnernden Talent, aus popkulturellen Referenzen theoretische Funken zu schlagen, legt er dar, dass politischer Wandel nur möglich sein wird, wenn wir die »Soziophobie«, die Angst vor der Kooperation mit den anderen, überwinden. »Wenn viele gleichzeitig dasselbe machen«, so Rendueles, »heißt das noch lange nicht, dass sie es gemeinsam tun.«

<p>C&eacute;sar Rendueles, geboren 1975 in Girona, lehrt Soziologie an der Universidad Complutense de Madrid.</p>

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Ground Zero: Soziophobie


 

Postapokalyptischer Kapitalismus


Vater und Sohn irren über verlassene nordamerikanische Autobahnen. Seit Jahren ist hier kein Fahrzeug mehr unterwegs. Die Landschaft ist von einer schweren, schwarzen Ascheschicht überzogen, und hinter der Wolkendecke, aus der eisiger Schneeregen fällt, kaum die Sonne zu erahnen. Die Anstrengungen der beiden Hauptpersonen sind darauf gerichtet, Trinkwasser und Lebensmittel aufzutreiben, der Kälte standzuhalten, nicht krank zu werden. Sie sind allein. In dem wüsten Land überleben nur noch deformierte Reste menschlicher Gemeinschaften. Gelegentlich stoßen die zwei auf andere, kaum noch als Menschen erkennbare Wesen, die in raubenden, vergewaltigenden und mordenden Horden umherziehen. Kannibalismus ist eine stete Gefahr.

Das ist die Story von Die Straße, Cormac McCarthys dystopischem Roman über die Zukunft nach einer nuklearen Katastrophe. Auch wenn es kaum vorstellbar scheint, so herrschte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts doch in weiten Teilen der Welt eine ähnliche Situation. Die zweite Hälfte des viktorianischen Zeitalters war charakterisiert durch das, was der Historiker Mike Davis in einem brillanten Essay als »Krise der globalen Subsistenz« bezeichnet hat: eine Katastrophe, der zwischen dreißig und fünfzig Millionen Menschen zum Opfer fielen und die doch in den meisten Geschichtsbüchern kaum Beachtung findet.

Damals starb in Folge von Jahrhundertdürren, Hungersnöten und anderen im Zusammenhang mit dem Niño-Phänomen stehenden Katastrophen eine gewaltige Zahl Menschen aufgrund von Unterernährung und Seuchen – die meisten von ihnen in Indien, China und Brasilien, aber auch in anderen Weltregionen.[1]

Von Kaschmir bis Shanxi, vom Mato Grosso bis nach Äthiopien verwandelte sich die Welt in einen Albtraum. Missionare – eine wichtige Quelle für Untersuchungen über Ereignisse in abgelegenen Regionen des Globus – schilderten entsetzliche Szenen. Die Menschen versuchten, sich von allem Möglichen zu ernähren: Blättern, Hunden, Ratten, Erde, den Dächern ihrer Häuser. Schließlich verspeisten sie auch Leichen und töteten am Ende gar ihre Nachbarn, um diese zu essen.

Tatsächlich war Anthrophagie nur ein weiterer Schritt und nicht notwendigerweise der letzte in einem Prozess der Zertrümmerung von Gemeinwesen. In ausgedehnten Zonen zerfielen soziale Gefüge, als handele es sich bei ihnen um eine obsolet gewordene Fantasie. Tempelanlagen wurden als Brennholz verfeuert, Menschen verkauften ihre Angehörigen als Sklaven, Banditentum breitete sich aus … Innerhalb weniger Jahre lösten sich jahrtausendealte Institutionen auf, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Selbst die Landschaft schien einem apokalyptischen Szenario zu entstammen: Noch nie dagewesene Trockenheit verwandelte riesige Territorien in Wüsten, Heuschreckenplagen biblischen Ausmaßes vernichteten die wenigen noch nicht zerstörten Pflanzungen. Gelegentlich sorgte die Wüstenbildung für eine Art Ascheregen, der die Dürregebiete überzog.

Ein großer Teil des 19. Jahrhunderts verlief in Europa, zumindest im Vergleich zu der Epoche unmittelbar davor, relativ friedlich. Doch in den vom Westen kolonisierten Ländern stellt sich die Lage weniger erfreulich dar. Zwischen 1885 und 1908 war der sogenannte Kongo-Freistaat – die spätere Demokratische Republik Kongo – wortwörtlich Privateigentum des belgischen Königs Leopold II., dessen Regiment Turbounternehmertum, Sklaverei und extreme Gewalt erbarmungslos miteinander verband. Verschiedenen Schätzungen zufolge forderten diese zwei Jahrzehnte Kolonialherrschaft mindestens fünf, vielleicht sogar zehn Millionen Opfer. Das belgische Modell der Handelsausbeutung beruhte auf einem entfesselten Extraktivismus, im Zuge dessen die natürlichen Reichtümer des Landes geplündert wurden. Leopold II. versklavte die einheimische Bevölkerung per Dekret und unterwarf sie einem auf Massenmord sowie systematischer Folter beruhenden Terrorregime. Eine übliche Bestrafung für zu langsame Arbeiter war die Amputation und Zurschaustellung ihrer Hände.

Das von ökologischen Schwankungen ausgelöste Massensterben, von dem Mike Davis spricht, war keine direkte Folge des Imperialismus, sondern eher Rahmenbedingung und später auch Nebenprodukt von dessen Entfaltung. Die Großmächte des 19. Jahrhunderts nutzten die von den Klimakatastrophen hervorgerufene materielle Not, um die imperiale Expansion zu beschleunigen und zu intensivieren. In einem Großteil der Welt wurde der Kapitalismus mit militärischen Interventionen durchgesetzt. Die Menschheit war niemals zuvor Zeuge einer Kolonisierung diesen Ausmaßes und dieser Geschwindigkeit gewesen. Zwischen 1875 und dem Ersten Weltkrieg wurde ein Viertel der weltweiten Landfläche unter einer Handvoll europäischer Staaten, den USA und Japan aufgeteilt: Großbritannien vergrößerte seinen Besitz um zehn Millionen Quadratkilometer (was der Fläche ganz Europas entspricht), Frankreich um knapp neun Millionen, Deutschland um etwa zweieinhalb.[2]

In den Metropolen wurden umfangreiche Pläne entwickelt, um die lokalen Institutionen in den in Besitz genommenen Gebieten zu eliminieren. Jahrhundertealte Gemeinwesen wurden innerhalb weniger Jahre förmlich in die Luft gesprengt. Dabei handelte es sich um ein unsystematisches und häufig plumpes, letztlich aber effizientes Vorgehen, durch das neue, mithilfe eines modernen ökonomischen, politischen und militärischen Apparats kontrollierbare Abhängigkeitsbeziehungen implementiert werden sollten. Die großen ökologischen Katastrophen verschafften dieser Initiative moralische Rückendeckung. Diese Länder seien, so hieß es unter den kultivierten Europäern, Opfer ihrer Rückständigkeit. Die vom europäischen Vormund erzwungene Modernisierung sei, so schmerzhaft sie sich auch darstellen möge, letztlich zum Nutzen der Kolonisierten. 1853 verteidigte Karl Marx diesen Standpunkt in einem Artikel mit dem Titel »Die britische Herrschaft in Indien« entschieden:

 

Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden […], so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten. […]

Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.

Dann haben wir, so erschütternd das Schauspiel des Zerfalls einer alten Welt für unser persönliches Empfinden auch sein mag, vor der Geschichte das Recht, mit Goethe auszurufen: »Sollte diese Qual uns quälen / Da sie unsre Lust vermehrt; / Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt?«[3]

 

Die Realität jedoch ist weitaus komplizierter. Historisch betrachtet, ist das Alte gewöhnlich nicht Synonym für Fragilität, sondern eher für Robustheit. Den traditionellen Systemen war es in der Vergangenheit oft recht effizient gelungen, die Folgen der in regelmäßigen Abständen vom Niño-Phänomen ausgelösten Wetterereignisse einzudämmen. Es wurden rudimentäre Versorgungssysteme aufgebaut, dank deren die Sterblichkeitsrate erheblich sank. Im schlimmsten Fall trugen sie zum Wiederaufbau der Gemeinschaft nach der Naturkatastrophe bei. Die Zerstörung dieser Schutzmechanismen ließ ganze Kontinente angesichts sozialer und materieller Desaster wehrlos zurück. In den Worten von Mike Davis: »Millionen verstarben nicht außerhalb des ›modernen Weltsystems‹, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus.«[4]

Mit den Großkatastrophen des viktorianischen Zeitalters setzten sich jene globalen Sozialbeziehungen durch, die wir heute kennen. Sie sind das Modell globaler Ungleichheit. Einer relativ begrenzten sozialen Ungleichheit in den Zentren der Weltökonomie (größer in den USA, kleiner in Norwegen) stehen die nur entfernt an menschliches Leben erinnernden Existenzbedingungen eines Drittels der Weltbevölkerung gegenüber.

Im Westen wurde mithilfe eines Ensembles von Institutionen, die wir bezeichnenderweise »soziale Sicherungssysteme« nennen, eine Schutzmauer gegen die Stürme des Marktes errichtet. Die paradoxe Konsequenz hiervon war, dass sich das Zentrum des »modernen Weltsystems« mit derselben Vehemenz gegen seine eigene Eingliederung in dieses System zur Wehr setzte, wie es genau das vom Rest der Welt verlangte. Dabei handelte es sich um einen Prozess, der mit Otto von Bismarck einsetzte, seinen Höhepunkt jedoch während des Kalten Kriegs erreichte. Der Gründungsmythos der sogenannten Wohlfahrtsstaaten besagt, dass sie auf der Grundlage von politischer...

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