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E-Book

Der wunde Punkt

Vom Unbehagen an der Kritik

AutorThomas Edlinger
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783518742068
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Kritik ist Volkssport. Jeder kritisiert jeden - im Wirtshaus, im Internet, an der Universität. Gleichzeitig werden die Defizite der Kritik kritisiert. Sie greife zu kurz oder gehe zu weit, sei autoritär, dekorativ oder schlicht wirkungslos. In Anlehnung an Jean-Luc Godard könnte man sagen: »Kritik ist nicht die Beurteilung der Wirklichkeit. Kritik ist die Wirklichkeit der Beurteilung.« Auf jeden Fall verändert Kritik die Welt - zumindest indirekt: als relativistische Hyperkritik, die Gemeinsamkeiten sabotiert, als Kapitalismuskritik, die den Kapitalismus fit hält, oder als Miserabilismus, der sich am Übel in der Welt ergötzt. Thomas Edlinger spürt der Fetischisierung der Kritik dort nach, wo es wehtut, und zeigt, wie sich der Unmut in postkritische Haltungen übersetzt.

<p>Thomas Edlinger, geboren 1967 in Wien, wirkt dort als Radiomacher (u. a. moderiert er dasKulturmagazin <em>Im Sumpf</em> auf FM4), freier Kulturjournalist und Kurator.</p>

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Leseprobe

Intro


 

 

Amerikakritik ist so beliebt wie eh und je, aber Steaks und Burger machen können sie, die Amis! Wo immer die Veganer- und Bioladendichte hoch ist, haben sich auch Burgerläden ausgebreitet. Und richtige Burger, solche mit Biofleischzertifikat nämlich, dürfen gern auch richtig teuer sein. Denn man kauft nicht nur Qualität, sondern ein Lebensgefühl, mit halbwegs gutem Gewissen inklusive.

Noch teurer, weil noch feiner als selbst Bio-Burgerknetmasse, ist naturgemäß das Steak. Seine Inszenierung in den florierenden neuen Hochglanz-Fleischfanzines soll kein poppiges Retro-Americana-Feeling aus der guten alten Zeit der Diners vermitteln, sondern an animalische Instinkte der »Männer mit Geschmack« appellieren. Das Steak braucht keine Dekoration mehr, keine exaltierten Gewürze, keine Geschmacksverstärker und keine Beilagen. Es ist reine Essenz: saftig, blutig, pur und am liebsten vom Grill. Kein Sternekoch soll es neu interpretieren, kein Molekularküchenguru soll es dekonstruieren, keine Frau soll es verfeinern. Ein Steak ist ein Steak ist ein Steak.

Vor dem Duft eines Dry-Aged Beefs gehen die neuen, richtigen Männer aus Freilandhaltung in die Knie. Dabei zeigen sie nicht ihre Muskeln, sondern ihre Grillwerkzeuge und ihre Schneidezähne. Damit signalisieren sie Genussfähigkeit statt Selbstkasteiung. Essen ist Verschlingen, Einverleiben und Schmatzen. Essen ist Sex. Natürlicher, normaler Sex.

In anderen Kreisen, wo die Veganerdichte größer ist als in der Durchschnittsbevölkerung, heißt der normale Sex heteronormativ. Es sind Kreise, in denen prinzipiell jedes Verhalten einer Kritik unterzogen werden kann. Kreise, in denen es kein normales Verhalten gibt, weil Normalität eine Konstruktion, Natürlichkeit eine Illusion und die Welt ein Klischee ist. Eine Frau ist keine Frau ist keine Frau.

Die inkriminierte Heteronormativität ist die Bezeichnung für ein Zwangsregime, das die Vielfalt der Geschlechter leugnet und ihre sexuellen Orientierungen unterdrückt, heißt es. Und wenn ich in die nächste Buchhandlung gehe, sehe ich mit einem Blick, welche Geschlechternormen nach wie vor bestimmend sind. Das Pochen auf die Neupositionierung der Sexualität anhand der Geschlechterdifferenz wird mitnichten automatisch angenommen. Das Versprechen einer queeren Basisdemokratie ist offensichtlich nur für wenige eine reale Glücksvorstellung. In Michel Houellebecqs »Unterwerfung« macht der gewohnt miesepetrige Ich-Erzähler seinen Frieden mit dem sanften Faschismus eines islamisierten Frankreichs im Jahr 2022 und spekuliert auf die kommenden Wonnen der Polygamie. »Fifty Shades of Grey« ist wohl weniger wegen der heute niemanden mehr groß aufregenden S/M-Stellen zum Bestseller geworden, sondern weil das Buch ein Unbehagen an der neueren Kritik der sexuellen Verhältnisse artikuliert. Ruft der Roman doch heute als skandalös empfundene, auch von Houellebecq thematisierte Bedürfnisse in Erinnerung. In den therapeutischen Narzissmuskraftkammern werden sie als Preisgabe von Autonomie und Gegenteil von psychischer Souveränität problematisiert: die romantische Hingabe, die Lust an der Selbstauflösung und die Ichentlastung des unter dem Liberalismus leidenden Subjekts durch die – schon wieder – »Unterwerfung« unter eine neue, alte Ordnung. Hingabe und Unterwerfung versus Gender-Awareness und Souveränität? Soll das jetzt die Alternative sein? Und darf »ich als Mann« überhaupt über ein »weibliches« Begehren spekulieren, das sich womöglich selbst nicht ganz versteht?

 

Als durchschnittlicher Gegenwartsbewohner mit sogenanntem höherem Bildungsabschluss lebe ich in mindestens zwei Welten. Wenn ich das Privatfernsehen anschalte, sehe ich heteronormative Bachelors und Bachelorettes samt Pop-Starlets in Lack und Leder. Ich zappe weiter. Am Ballermann ist der deutsche Mann noch ein echter Mann. Und auch mit Migrationshintergrund kommt der Machismo in Neukölln oder am Kölner Ring meist ziemlich breitbeinig daher. Ich schalte den Fernseher ab und gehe in die andere Welt, d. ‌h. zum Rechner, der von Büchern und Tonträgern umzingelt ist. Durch alle drei Medien bin ich mit Theorie-, Kunst- und Popzirkeln konfrontiert, die die Genderpolaritäten systematisch verqueeren. Ich weiß von Uni-Seminaren, wo um Transgender-Underscores gerungen wird. Ich lese von Critical-Hetness-Foren, die gegen öffentliches Küssen von heterosexuellen Pärchen wettern, weil damit eine repressive Norm eingeübt werde. Und überall lauert die Kapitalismuskritik!

Als hauptberuflicher Journalist lebe ich von und mit Kritik. Das war nicht immer so. Den jungen Gymnasiasten, der ich einmal war, interessierten, bei Licht betrachtet, vor allem das Sich-gut-Fühlen und Mädchen. Mit beidem klappte es nicht ganz so wie erträumt. Also begann ich mit Gleichgesinnten Discokids zu verachten und mich im Wirtshaus über die Nazipest zu ereifern. Wenn die Nazis mit Verve und Wein erledigt waren, dachte ich an die Disco, die leider heute ohne mich auskommen musste. Oder an eine Party nächstes Wochenende. Oder an den Sommer und die Zukunft. Knapp vor Schulabschluss interessierte ich mich dann primär für coole Welten, die ich nicht kannte. Die Kritik an ihnen war mir egal oder kam nicht an. Kafka war toll, und der Sound von Sonic Youth auch. Später, als Philosophiestudent in Wien, war es weniger der kritische Input, sondern der Sound von Philosophen wie Lyotard, Baudrillard oder Deleuze, der in meinem Kopf widerhallte. Die französische Philosophie kam bei mir zu jener Zeit an wie Pop, die Merve-Bändchen machten sich gut in der Manteltasche. Ich erlebte die letzten Sonnenstunden des »langen Sommers der Theorie«. Bald hatte ich das Gefühl, dass an der Uni ein Wettbewerb um die gewitzteste Kritik an der Macht stattfand. Und zumindest im Seminarraum selbst war diese Machtkritik sehr durchschlagend und exkulpierend. Doch unversehens neigte sich der späte Sommer in den Herbst, aus der Affektmaschine Pop wurde der Diskurs der Poplinken. Noch ein paar Jahre später tauchte ich als Teilzeitkurator und freier Autor in die Welt der Gegenwartskunst und ihrer Gesellschaftsdiagnosen ein. Ohne embedded critic war hier nichts zu holen. Ausstellungskonzepte, die keinen kritischen Einwand formulierten, hatten kaum Chancen auf Beachtung.

Heute kenne ich sowohl den Argwohn gegen die Distinktionsspiele der Hyperkritik als auch den Blick in den Abgrund der Postings, die alles besser wissen als man selbst. Leider haben die Hyperkritiker und Poster mit ihren Einwänden gar nicht so selten Recht. Dagegen hilft nur, sich dickhäutiger zu geben, als man ist. Auch sonst erzieht mein »Leben in Kritik« mich zu gelebten Widersprüchen und Inkonsequenzen. Eine Zeitlang habe ich Amazon boykottiert, nachdem ich von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen dort gehört hatte – und den Boykott alsbald klammheimlich wieder aufgegeben, weil es halt doch bequemer ist. Das klingt nicht nach Gutmensch und auch nicht nach ›guter Mensch‹. Die Spanne zwischen dem tyrannischen Über-Ich und dem schmutzigen Es lässt sich nicht verleugnen. Etwas in mir lacht über Witze, die in bestimmten Öffentlichkeiten zum Problem werden würden. Es gibt ein Lustprinzip, das sich nicht von einem kritischen Bewusstsein maßregeln lassen will. Es sagt Nein zum Nein. Mein kritisches Bewusstsein ist dagegen auf die Reizworte der heutigen Selbstreflexion trainiert. Sicher bin ich privilegiert, aber es ist nicht immer klar, in welchem Ausmaß und wem gegenüber eigentlich. Zugleich will ich mich mit jemandem verständigen, der sich nicht gemeint fühlt, wenn ich »wir« sagen würde.

»Ich und die Kritik« – eine Anmaßung, natürlich. Denn die Kritik ist viel zu groß für mich und mein Bewusstsein. Wahrscheinlich kann man von ihr im emphatischen Singular gar nicht mehr sprechen. Ihre Geschichte, ihre Philosophie, ihre Theorie, ihre Praxis und nicht zuletzt ihre Selbstkritik umfassend zu durchdringen überfordert mein – und vielleicht jedes einzelne – Ich. Womöglich liegt in der Beschränkung auf dieses Ich aber auch eine Chance, sofern dieses Ich immer auch ein Anderer und also nicht mit sich selbst identisch ist. Es ist ein empirisches, von Affekten beeinflusstes Ich mit dem Vorsatz, sich zu relativieren. Es ist ein Ich, das konkrete Ausdrucksformen der Kritik erfährt und diese zu strukturieren versucht. Es ist ein sich abstrahierendes Ich, durch das die gegenwärtigen Sprechweisen der Kritik rattern. Diese kommen dort in unterschiedlicher Vehemenz und Dringlichkeit an. Nicht alles kann dieses Ich mit der gleichen Distanz verarbeiten. In manchen Situationen wird es vor der schieren Masse des Materials oder vor dem spezialisierten akademischen Forschungsstand kapitulieren. Dafür kann es sich in der Rekapitulation bestimmter Beobachtungen der Lebenswelt zu einem literarischen, zitierenden Ich verwandeln, das manches zu veranschaulichen vermag, was die Wissenschaft so kaum auf ihr Radar bekommt. Nicht zuletzt muss dieses Ich etwa mit einem Unbewussten (das von Selbstkritik bekanntlich nicht viel hält) zurande kommen. »Ich und die Kritik« – das ist nicht nur Anmaßung, sondern zugleich der bescheidene Versuch, die eigene, im Guten wie im Schlechten liquide Position in der Welt und damit diese selbst ein bisschen besser zu verstehen.

Dabei interessieren mich im Folgenden vor allem jene Ausdrucksformen und Bereiche von Kritik, wo nicht von vorneherein »alles klar« ist, deren Positionen ich also nicht so einfach gutheißen oder verwerfen kann. Es geht mir um eine Praxis des Einspruchs, die ein wachsendes Unbehagen – weniger hinsichtlich des zu kritisierenden Sachverhalts (wie zum Beispiel der Stadtpolitik gegen...

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