Ups! Druckfehler? Seite vergessen zu bedrucken? Der Versuch, sich auf einer Bühne zu verstecken, ist etwa so erfolgreich, wie den Text im Buch hinter einer leeren Seite zu verstecken. Sie erreichen sogar das Gegenteil. Eine leere Seite ist ausgesprochen auffällig. Je mehr sich jemand auf einer Bühne zu verstecken versucht, umso auffälliger wird er.
Auf einer Bühne kann man sich nicht verstecken. Dennoch versuchen die Leute das ständig und hinter den unglaublichsten Dingen. Das beliebteste Versteckobjekt ist das Papier, auf dem der zu sprechende Text steht. Manchmal merkt der Redner beim Lesen, dass keiner wirklich zuhört, und das ist ihm dann so unangenehm, dass das Papier langsam nach oben wandert. Ich habe schon Redner gesehen, deren Gesicht vollständig hinter dem Papier verschwunden war. Menschen verstecken sich auf Bühnen hinter Flipcharts, Metaplanwänden, den eigenen verschränkten Armen oder hinter sich selbst. Neulich sah ich einen Lehrer tief gebückt und in Schleichstellung über eine riesige Bühne rennen, um einem Schüler ins Ohr zu flüstern, dass er mit seiner Präsentation langsam mal zum Ende kommen sollte, um dann ebenso gebückt und bemüht unscheinbar wieder zurückzuhechten. Niemand im Saal hat nicht ausschließlich auf den unsichtbaren Lehrer geblickt.
Das Rednerpult ist auch ein gern genutztes Versteckobjekt, zumal es neben den hervorragenden Eigenschaften als Versteck auch wunderbar als Bollwerk und Geschützstellung gegen das feindliche Publikum verwendet werden kann. Dazu stützt sich der Redner mit ausgestreckten Armen auf die vorderen Ecken des Pultes und beherrscht von dort seine Zuhörer. Die daraus resultierende Fixierung des Oberkörpers blockiert die Dynamik der Rede, die dann gerne in den Hintern wandert, der rechts und links vom Rednerpult hervorgefahren kommt. Ich habe schon die unglaublichsten Tänze hinter Rednerpulten gesehen. Die Vorstellung, vorne im drehbaren Geschützturm Rednerpult befinde sich ein Maschinengewehr, vollendet die wahre Funktionalität dieser Manuskriptablage (an deren Form sich schon manch ein Objektdesigner vergangen hat).
Spezialfall PowerPoint-Präsentation
Des Redners liebstes Versteckobjekt ist allerdings die PowerPoint-Präsentation. Das Funktionsprinzip ist einfach: Die PowerPoint-Folie wird kurzerhand zum Hauptdarsteller erklärt, und der Redner ist lediglich der Assistent oder Vertoner seiner eigenen Präsentation. Das geht so weit, dass Redner sich hinter das Publikum stellen, damit sie dessen freie Sicht auf das Bild nicht behindern. Unterstützt wird dieses Verhalten von Technikern und Menschen in der Nähe von Lichtschaltern, die trotz der beeindruckenden Lichtstärke moderner Projektoren beim Starten eines Beamers sofort versuchen, maximale Dunkelheit herzustellen. Der Redner wird nur noch als Störer seines eigenen Vortrages empfunden, und das ist offenbar auch seine Selbstwahrnehmung.
PowerPoint-Präsentationen beginnen üblicherweise mit einer Startfolie, auf der sich neben verschiedenen Logos meist der Titel des Vortrages und mindestens ein Untertitel befinden, ferner der Name des Vortragenden, das Datum des Vortrages, der Ort, an dem man sich befindet, die Zahl der Folien der Präsentation und die Ordnerstruktur der Ablage des Computers des Vortragenden. Die meisten Leute wissen, wo sie sich befinden und welches Datum heute ist, die Ordnerstruktur des Computers des Redners ist für die meisten Zuhörer von beschränktem Interesse und die Seitenzahl schlicht eine Bedrohung. In der Regel sind sämtliche Informationen auf diesen Startfolien überflüssig – kurz: Kein Mensch braucht Titelfolien. Mir flößen sie sogar meistens Angst ein. Ich sehe die Folie, und etwas in mir zieht sich zusammen und sagt: »Uuhh – da muss ich jetzt wohl durch.« Wohlgemerkt: Ich denke nicht: »Wow – jetzt bin ich aber mal gespannt!« oder »Herrlich – jetzt eine Stunde zurücklehnen und gut entertaint werden!« Die letztere Haltung meines Publikums brauche ich aber als Vortragender, wenn ich will, dass jemand etwas lernt, behält, mitnimmt und so weiter. Die Angst, die die Titelfolie auslöst, wird dann von der zwanghaft der Titelfolie folgenden Agenda-Folie noch getoppt. Angeblich dienen Agenden der Struktur und dazu, dass das Publikum »orientiert« ist. Spätestens bei Punkt 3.2.4 habe ich aber jede Struktur und Übersicht verloren, und auch der Redner merkt beim Vortragen seiner Agenda schon, dass er das eigentlich alles noch gar nicht sagen wollte, fängt an zu springen, redet schneller, und das ist dann bereits das dramaturgische Ende des Vortrages. Jetzt hört zwar keiner mehr zu, aber nun folgen die Folien mit den Inhalten, die üblicherweise eine Anhäufung von Bulletpoints (auf Deutsch: Spiegelstriche) sind. Ich werde häufig gefragt, wie viele Bulletpoints denn auf eine Folie dürfen. Fünf oder sieben oder zehn? Die richtige Antwort lautet: Keiner! Das menschliche Gehirn ist nicht dafür ausgelegt, sich Listen zu merken. Unser Gehirn funktioniert in Bildern, Strukturen, Geschichten – nicht in Listen. Das wird schmerzlich deutlich, wenn ich versuche, Inhalte einer Nachrichtensendung mit zehn Meldungen wiederzugeben. Mehr als drei bekomme ich ohne Gedächtnistraining nicht zusammen. Gleichzeitig weiß ich die unglaublichsten Dinge über Justin Bieber, obwohl Justin Bieber mich nicht im Geringsten interessiert. Mein Gehirn hat sich dennoch die ganze Geschichte seiner letzten Verhaftung gemerkt. Es hat gelernt, und das ohne Aufwand, weil es eine Story war. Stellen Sie sich diesen Lernerfolg einmal für die zehn Verhaltensregeln für das Durchqueren einer Lagerhalle vor …
Hier ein kleiner Ausflug in die Gehirnphysiologie. Weil ich meine Diplomarbeit als Psychologe über subliminale, also unterschwellige Wahrnehmung verfasst habe, kenne ich mich da ein wenig aus: Bis ein Reiz in unser Bewusstsein vorgedrungen ist, braucht er etwa 300 Millisekunden. Das Bewusstsein befindet sich im Neocortex, also ziemlich genau da, wo man die Hand drauflegt, wenn man »O mein Gott« denkt oder in einer Konferenz der fünften PowerPoint-Präsentation ausgesetzt wird. Alle Reize, die unser Gehirn durch das Sehen, Hören, Fühlen und so weiter erreichen, werden zuerst im Hirnstamm und im Mittelhirn voranalysiert. Der Hirnstamm, auch Reptiliengehirn genannt (im Englischen viel hübscher »Crocodile Brain«, kurz »Croc Brain«), analysiert den hereinkommenden Reiz auf zwei Fragestellungen hin: Ist das gefährlich? Oder: Kann man das essen? Andere Fragestellungen sind dem Krokodilgehirn nicht bekannt. Wenn ich also zu meinem Auto gehe, und plötzlich gibt es ein Geschrei, sagt mein Croc Brain: »Das ist (möglicherweise) gefährlich!« und gibt schon mal eine Information an das limbische System (das sitzt eine Etage höher im Mittelhirn), es solle den Beinen Bescheid sagen, dass die ein bisschen Sauerstoff vorhalten – denn es könnte ja sein, dass wir gleich weglaufen müssen. Dann führt das Mittelhirn eine Art Querschnittsanalyse durch: Woher kommt das Geräusch, wie weit ist das weg, wo steht eigentlich mein Auto, gibt es Fluchtwege und so weiter. Und dann – nach zirka 300 Millisekunden – ist der Neocortex an der Reihe, der feststellt, dass sich dort zwei Leute streiten, das aber mit meinem Auto nichts zu tun hat und sie sich auch in ausreichendem Abstand befinden, sodass ich also entspannt weitergehen kann.
Wenn wir einen Vortrag halten, dann denken wir, unser Neocortex – also unser Denk- und Analyseapparat – würde mit dem Neocortex der Zuhörer sprechen. Das stimmt nur leider nicht: Unser Neocortex spricht mit dem Krokodilgehirn der Zuhörer, und das kennt nur zwei Fragen: »Ist das gefährlich?« oder »Gibt es etwas zu essen?« Bei der Standard-PowerPoint-Folie eines durchschnittlichen deutschen Versicherungsunternehmens denkt zumindest mein Stammhirn: »Ich brauche zur Bewältigung meines Alltags schon so viel Prozessorleistung … sorry.« Ende der Aufnahmebereitschaft. Vorträge, zumindest wenn sie emotionalisieren, hängen bleiben, begeistern sollen, müssen auf der »Es gibt etwas zu essen«-Schiene funktionieren. Titelfolien und Agenden fallen aber grundsätzlich in die Kategorie »Das ist gefährlich!«.
Es gibt drei prinzipielle Missverständnisse zu PowerPoint-Präsentationen:
- Der Vortragende ist lediglich Assistent seiner eigenen Folien (die er leicht verändert vorliest).
- Der Vortragende glaubt, alle Informationen müssten auch auf den Folien zu lesen sein (da diese gleichzeitig als Handout dienen).
- Der Vortragende glaubt, dass etwas, das gleichzeitig gehört und gelesen wird, besser erinnert wird, als wenn es nur gehört oder nur gelesen wird.
Das Problem beginnt bei Punkt 1 mit dem üblichen weißen Hintergrund der Folien. Solche Folien lassen sich zwar leichter ausdrucken und als Handout missbrauchen als Folien mit schwarzem Hintergrund, haben jedoch einen entscheidenden Nachteil: Das Auge wechselt nicht gerne zum Redner, da die Pupille die Blende vergrößern muss, was anstrengend ist und blendet. Im Schnitt blicken Zuhörer bei weißen Hintergründen zu über 70 Prozent auf die Folien, während sie bei schwarzen Hintergründen zu 70 Prozent auf den Redner schauen. Wer ist der Hauptdarsteller, der Redner oder die Folie?
Ich habe schon viele Redner erlebt, die inhaltlich Sklaven ihrer Folien waren, die ihren Punkt, ihre Story, ihren Bogen gar nicht erzählen konnten, weil sie ständig noch sagen mussten, was ja auf den Folien steht. Wird die Folie zum Notizzettel, hat sich der schöne Bogen oder die spannende Dramaturgie erledigt. Das Grundprinzip einer gut erzählten Story ist ja, dass der Erzähler schon weiß, was kommt.
PowerPoint-Folien sind weder als Notizzettel noch als Handouts geeignet. Viele...