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Das Phänomen Scham

Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht

AutorDaniela Haas
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783170264090
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Das Phänomen Scham spielt im Schulkontext eine große Rolle. SchülerInnen sind ebenso wie Lehrkräfte täglich einer Fülle von potenziellen Schamsituationen ausgesetzt: Peter kommt im Sportunterricht als einziger die Kletterstange nicht hoch, Tim soll im Religionsunterricht über seinen Glauben sprechen und Lehrerin Meier bekommt von einer Mutter zu hören, Lehrer seien doch alle nur Halbtagsjobber. Scham ist nicht nur ein Thema für die Religionspsychologie und -soziologie; sie stellt auch den Religionsunterricht vor besondere Herausforderungen. Wird den im Religionsunterricht besonders virulenten Schampotenzialen bewusst und professionell begegnet, kann er zu einem vorbildlichen Ort für eine insgesamt schamsensible Schul- und Unterrichtskultur werden.

Dr. Daniela Haas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitet als Lehrerin im Grundschulbereich.

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Leseprobe

III. Scham aus psychologischer Perspektive


1. Tiefenpsychologisch orientierte Forschung


1.0 Vorbemerkungen


Die tiefenpsychologisch orientierte Forschung ist in der akademischen Psychologie teils heftig umstritten. Inhaltlich basiert sie auf der Annahme des sog. Unterbewusstseins. TiefenpsychologInnen gehen davon aus, dass unterbewusste Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen das psychische Erleben negativ beeinflussen können. In Therapien soll Unbewusstes ins Bewusstsein gebracht, die aktive Auseinandersetzung mit Gründen für psychische Leiden ermöglicht und dadurch Heilung erzielt werden.22 Da die Existenz des Unterbewusstseins objektiv nicht nachgewiesen werden kann, wird die Tiefenpsychologie auch als eine Weltanschauung beschrieben.23

Wissenschaftsmethodisch gründet die tiefenpsychologische Theorie auf der Beobachtung psychopathischer Einzelfälle, die mit dem Anspruch der Beispielhaftigkeit für Phänomene der menschlichen Psyche dargeboten werden. Eine Kategorisierung menschlichen Verhaltens wird dabei explizit abgelehnt und damit jeder empirischen Forschungspraxis eine Absage erteilt.24 Es liegt auf der Hand, dass zwischen der Tiefenpsychologie und experimentell oder empirisch arbeitenden psychologischen Richtungen nicht zuletzt methodisch eine tiefe Kluft besteht. Aber auch seitens hermeneutisch orientierter psychologischer Ansätze, z. B. der verstehenden Psychologie, wurde Kritik an der tiefenpsychologischen Theoriebildung laut. Diese bezog sich auf die Fixierung der Tiefenpsychologie auf psychopathische Fälle, deren Exemplarität als nicht bestätigt angesehen wird.25

Trotz dieser Vorbehalte gibt es mindestens zwei Gründe, warum im Rahmen dieser Arbeit an der tiefenpsychologisch orientierten Forschung nicht vorbeigegangen werden kann: Erstens stammen viele der neueren, zum Teil sehr detaillierten, Veröffentlichungen zum Thema Scham von Tiefenpsychologen. Sie zu ignorieren würde den Stand der Forschung lückenhaft abbilden und der Möglichkeit einer konstruktiven Auseinandersetzung von vorneherein eine Absage erteilen. Zweitens wurde das Phänomen Scham in der Ersten Annäherung als schwer fassbar beschrieben. Diese Charakterisierung legt eine Verortung der Emotion Scham in der von der Tiefenpsychologie als Unterbewusstsein bezeichneten Sphäre mindestens nahe.

Aus diesen Gründen werden im nächsten Punkt drei zwar teils wenig differenzierte, aber theorieprägende historische tiefenpsychologische Positionen zu Scham kurz skizziert. Unter Punkt 1.2 erfolgt eine ausführliche Darstellung des Affekts Scham in aktuellen tiefenpsychologischen Konzepten.

1.1 Historische tiefenpsychologische Positionen zu Scham


1.1.1 Freud (1856–1939) – das Thema Scham, ein „blinder Fleck“ in der Freudschen Theorie26

In der von Freud begründeten Psychoanalyse standen die Affekte Angst und Schuld im Vordergrund. Obwohl sich in seinen Schriften auch Passagen zum Thema Scham finden, können diese nicht als zusammenhängende Theorie bezeichnet werden. Sie weisen eher den Charakter inhaltlich teils inkonsistenter Randbemerkungen auf.27 Verstreut finden sich Hinweise, dass Freud Scham als einen Affekt sah, der im interpersonalen sozialen Kontext zu verorten ist. So schrieb er 1900 in der Traumdeutung: „Ein Selbstvorwurf wird zur Scham, wenn ein anderer ihn zufällig mithört.“28 Dieser Aspekt wurde jedoch nicht weiter verfolgt oder konkretisiert. Etwas ausführlicher beschrieb Freud Scham 1905 in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ – hier jedoch weniger als inter-, denn als intrapersonalen Affekt. Scham ist laut Freuds Ausführungen zur Sexualtheorie eine Reaktion des Menschen auf exhibitionistische und voyeuristische Wünsche. Als „Macht, welche der Schaulust entgegensteht“29 fungiere sie als eine Art Damm, der sich dem Lustprinzip hemmend entgegenstellt.30 Scham hätte damit die positive Funktion, Triebe zu kanalisieren. Im Gegensatz dazu schrieb Freud 1904 in seinem Werk „Zur Einführung des Narzissmus“, dass Scham ein Gefühl sei, dessen man sich entledigen und das „durchgearbeitet werden müsse“, wenn eine Psychoanalyse fruchtbar sein solle.31 Diese radikale Forderung nach einer Entledigung vom Gefühl der Scham scheint vor allem im Zusammenhang mit der vorher beschriebenen Triebhemmungsfunktion nicht angemessen. Freud konkretisiert zudem auch nicht, wie eine „Entledigung von Scham“ vonstatten gehen könnte.

Über den Grund, warum Freud das Phänomen Scham in seiner Theorie nur randständig aufnahm, wurden verschiedene Theorien aufgestellt. Es gibt Spekulationen, Freud habe selbst unter einer erhöhten Schamvulnerabiliät gelitten und das Thema daher gemieden.32 Tatsächlich waren viele Tiefenpsychologen in der von Tabus und Doppelmoral geprägten Wiener Gesellschaft beschämenden Anfeindungen und Herabsetzungen ausgesetzt. So wurde Freud zum Beispiel als „Schmutzfink aus der Berggasse 7“ bezeichnet, weil er die Bedeutung der Sexualität für die psychische Entwicklung betonte. Weiterhin wurde vermutet, die Schamthematik sei für Freud durch den Bruch mit Alfred Adler zu einem Tabuthema geworden. Adler entwickelte mit der Individualpsychologie eine eigene tiefenpsychologische Theorie, in deren Zentrum die eng mit Scham verwandten Minderwertigkeitsgefühle standen.

1.1.2 Adler (1870–1937) – Minderwertigkeitsgefühle als Triebfeder menschlicher Entwicklung

Alfred Adler analysierte vor allem die sozialpsychologischen Aspekte menschlicher Entwicklung. Im Zentrum seiner Theorie steht die Annahme, dass jeder Mensch von Kindheit an unter Minderwertigkeitsgefühlen leidet, die durch tatsächliche oder vermeintliche Hilflosigkeit, Entmutigungen, körperliche Mängel, soziale oder wirtschaftliche Benachteiligung sowie Geringschätzung etc. ausgelöst werden. Diesen Minderwertigkeitsgefühlen versucht der Mensch nach Adler durch Geltungs- und Machtstreben entgegenzuwirken. Adler schreibt „normalen Minderwertigkeitsgefühlen“ dabei entwicklungs- wie autonomiefördernde Funktion zu. Erst ein gesteigertes Minderwertigkeitsgefühl kann zu Überkompensation führen und ist nach Adler die Quelle für Neurosen.33

Ziel einer positiven psychosozialen Entwicklung ist laut VertreterInnen der Individualpsychologie der Aufbau und die Erhaltung von Selbstvertrauen und Kompetenzgefühlen als individuelle Voraussetzung dafür, positiv in Gemeinschaft leben zu können. Obwohl Adler in seiner Theorie nicht explizit auf das Thema Scham eingeht, liegt die Parallele zwischen Scham und Minderwertigkeitsgefühlen auf der Hand: In beiden Fällen handelt es sich um unangenehme Empfindungen, die grundsätzlich eine positive Funktion haben, sich im Fall eines gesteigerten Auftretens aber extrem negativ auswirken können.

1.1.3 Erikson (1902–1994) – Zusammenhang von Autonomie und Scham

Erik Erikson, einer der bekanntesten tiefenpsychologisch orientierten Entwicklungsforscher, beschäftigte sich im Rahmen seiner Theorie zur psychosozialen Entwicklung des Menschen explizit mit dem Thema Scham. Er ging davon aus, dass der Mensch im Laufe seiner Entwicklung acht phasenspezifischen Konflikten ausgesetzt ist. Scham spielt dabei nach Erikson vor allem im zweiten bis dritten Lebensjahr von Kindern, in der so genannten „muskuläranalen Phase“, eine wichtige Rolle. Aufgrund der Reifung des Muskelsystems erwirbt das Kind in diesem Alter die Fähigkeit, Dinge kontrollierter festzuhalten und loszulassen. Besondere Wichtigkeit nehmen dabei die eigenen Ausscheidungen ein, die durch Betätigung der Schließmuskulatur zu kontrollieren gelernt werden. Das Kind ist zwar auch in dieser Phase noch in hohem Maß von seiner Umwelt abhängig. Es beginnt nach Erikson jedoch gesteigerten Wert auf seinen autonomen Willen zu legen.34

Genau diese Konstellation birgt der Theorie Eriksons nach die Gefahr unkonstruktiver Scham. Er weist darauf hin, wie wichtig es sei, dem Kind die Möglichkeit einzuräumen, seine Schließmuskulatur nach eigenem Willen allmählich beherrschen zu lernen. Durch die Empfindung der Selbstbeherrschung wird ein „dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz“35 grundgelegt.

Greifen die Eltern zu sehr ein oder überfordern das Kind durch eine zu strenge Sauberkeitserziehung, kann durch mangelnde Autonomieerfahrung und / oder mangelnde Erfolgserlebnisse ein „dauerndes Gefühl von Zweifel und Scham“36 entstehen. Der Wunsch des Kindes „auf eigenen Füßen zu stehen“ ist in dieser Entwicklungsphase daher besonders zu unterstützen.37 Die Erziehungsmethode einer bewussten Beschämung prangert Erikson an. Er schreibt: „Dies Gefühl [Scham] wird in den Methoden primitiver Erziehungssysteme fleißig ausgenutzt; sie beschämen das Kind und legen damit den Grund für die oft zerstörerischen Schuldgefühle. […] Ein zu starkes Betonen des Schamgefühls erzeugt nicht das Gefühl für Anstand, sondern eher eine geheime Entschlossenheit, die mit einem Tabu belegten Dinge heimlich zu tun. […] Auf diese Weise ist manches trotzige Kind, mancher junge Verbrecher ‚erzogen‘ worden.“38

1.2 Dimensionen des Affekts Scham im Spiegel aktueller tiefenpsychologischer Konzepte


1.2.0 Vorbemerkungen

Da sich die aktuellen tiefenpsychologischen Konzepte zu Scham inhaltlich überschneiden bzw. ergänzen, wird die verfasserbezogene Darstellung im Folgenden auf eine systematische umgestellt. Dabei werden Strukturmerkmale (1.2.1), Auslöser (1.2.2) und Folgen (1.2.3) von Scham...

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