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Das Rätsel des Lammes

Der Genter Altar und sein Vorbild

AutorKlaus Schröer
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783744804028
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Dieses Buch basiert auf einer ungewöhnlichen Entdeckung: Das berühmteste und zugleich geheimnisvollste Kunstwerk des Spätmittelalters, der Genter Altar von van Eyck, zeigt in seiner Komposition den Grundriss einer alten Kirche in Spanien aus der Zeit der Kreuzzüge. Der Autor erläutert allgemein verständlich seine Entdeckung und ihre möglichen Deutungen, sowie das Kunstwerk als solches. Dann lädt er Sie, die Leserinnen und Leser dieses Buches, ein, sich selbst auf die Suche nach dem letzten Stück in diesem Puzzle zu begeben. 168 Seiten, 87 Abbildungen

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Leseprobe

Inhalt und Bedeutung des Genter Altars


Die altniederländische Malerei, zu deren wichtigsten Vertretern neben Jan van Eyck (um 1390-1441) und dessen Schüler Petrus Christus (ca. 1410/1420-1473), Robert Campin (ca. 1375-1444) und dessen Schüler Rogier von der Weyden (1400-1464), sowie Hugo van der Goes (1440-1482), Hans Memling (um 1435-1494) und Hieronymus Bosch (1450-1516) zu zählen sind, entwickelte sich aus der Buchillustration heraus. So werden auch einige Miniaturen zu einem Stundenbuch (eine nach Andachtszeiten geordnete Sammlung von Gebeten) als Jugendwerk Jan van Eycks betrachtet1. Die unglaublich feinen malerischen Strukturierungen der Bildgegenstände in van Eycks erhaltenen Tafelbildern, die zum Teil mit einzelnen Pinselhaaren gemalt worden zu sein scheinen, läßt noch den geübten Miniaturmaler erkennen.

Der Genter Altar als sein ältestes erhaltenes und datiertes großformatiges Werk ist im besonderen Maße als Illustration religiöser Texte zu verstehen, wenngleich das für die Kunst dieser Zeit ohnehin zu gelten scheint. Die Konzeption eines solch komplexen Gegenstandes war hauptsächlich eine theologische Aufgabe und nicht selten wurde sie, wie beim Isenheimer Altar des Mathis Grünewald bezeugt, nicht vom Maler selbst, sondern von einem belesenen Geistlichen, im genannten Fall Guido Guersi2, vollzogen. Beim Genter Altar gibt es keine konkreten Hinweise auf einen solchen Berater. Auch wenn Jan van Eyck höchst gebildet war, worauf seine noch näher zu beleuchtenden diplomatischen Tätigkeiten schließen lassen, dürfte er wohl inhaltliche Unterstützung erfahren haben.

Als Quellen dienten dabei nicht nur das Alte und Neue Testament als solche, sondern der gesamte damit im Zusammenhang stehende theologische Überbau, wie z.B. die Werke der Kirchenväter und die Heiligengeschichte. Ferner floßen historische, politische und zeitgeschichtliche Bezüge ein.

Die Zugehörigkeit zur Bibel der für den Genter Altar wesentlichen Offenbarung des Johannes war lange fraglich und in den Gottesdiensten der Ostkirchen wird sie bis auf den heutigen Tag gemieden3. Noch Martin Luther hatte Bedenken4, sie in seine deutsche Übersetzung aufzunehmen.

Abb. 10: Johannes, der Apokalyptiker, Ausschnitt Werktagsseite

Die Werktagsseite

Der Autor des also nicht unumstrittenen, aber seit seiner Entstehung Ende des 1. Jhd zugleich höchst populären Textes ist auf der Werktagsseite (Abb. 9) in der untersten Reihe neben der Stifterfrau Elisabeth Boorluut als steinerne Figur abgebildet.

Er hält einen durch Schlangen gekennzeichneten Giftkelch in der Hand, der seine visionäre Kraft verkörpert (Abb. 10). Direkt links neben dem Apokalyptiker, in dem man zu dieser Zeit auch den Evangelisten Johannes und somit den Namenspatron des Stifters Jodocus Vijd sah5, und in gleicher Darstellungsweise findet sich Johannes der Täufer, der sich durch das Lamm in seinen Armen ausweist (Abb. 9). Als Namensgeber der Kirche St. Jan (und als Patron der Stadt Gent)6 durfte seine Darstellung wohl nicht fehlen. Beide Figuren sind auf ihren gemalten Sockeln nochmals namentlich genannt. Die unterste Reihe der Werktagsseite würdigt somit die Stifter, den Stiftungsnehmer und den Schöpfer der wesentlichen Thematik des Altars und man kann sie als eine Art gemaltes Impressum betrachten.

Die vier Bildfelder der mittleren Reihe zeigen eine zusammenhängende Szene (Abb. 9), so daß die Rahmenleisten wie Fenstergitter wirken. Es handelt sich bei dieser zentralen Darstellung der Werktagsseite um die Verkündigung, also den Beginn der Menschwerdung Gottes. Der Erzengel Gabriel erscheint Maria und grüßt sie mit den in lateinischer Sprache auf den zwei linken Tafeln wiedergegeben Worten: „Gegrüßet seist du, Holdselige! Der HERR ist mit dir, du Gebenedeite unter den Weibern!“ (Lk 1,28). Im Lukasevangelium folgt nun der Dialog, in dem der Erzengel ihr die Geburt ihres Sohnes Jesus verkündet und mitteilt, daß Gott der Herr ihm den Stuhl (Thron) seines Vaters David geben wird, was bereits auf das Himmlische Jerusalem (auf der Sonntagsseite des Genter Altars dargestellt) am Ende aller Zeit anspielt und somit auf die endgültige Erlösung eines jeden Christen. Van Eyck begnügt sich damit, Marias abschließende Bemerkung in dem rechten äußeren Bildfeld gekürzt wiederzugeben, mit der sie ihr Schicksal ausdrücklich bejaht: „Siehe ich bin des HERRN Magd ...“ (LK 1,38). In der gesamten Verkündigungsszene verteilt finden sich diverse Symbole mit Bezug zur Thematik. So demonstriert z.B. die weiße Kleidung Marias Jungfräulichkeit. Ihr Haupt krönt der Hl. Geist in Gestalt einer Taube. Selbst die romanischen und gotischen Säulen in der Architektur sollen auf den alten und neuen Bund anspielen7. Über der Verkündigung sind in der obersten Reihe in den vier sogenannten Lynetten Propheten bzw. Prophetinnen aus alttestamentarischer Zeit mit lateinischen Spruchbändern dargestellt (Abb. 9). Sie fungieren gleichsam als roter Teppich für die Verkündigungsszene, da alle vier das Kommen des Heilands vorhersagten. Links und rechts außen sind Zacharias und Micha zu sehen und in der Mitte mit der erythräischen und cumäischen Sibylle bemerkenswerterweise zwei heidnische Prophetinnen. Norbert Schneider begründet ihre Verwendung u. a. mit der Tatsache, daß schon frühe Kirchenväter diese als quasi-christliche Propheten betrachteten8.

Die in der Art eines offenen Hauses strukturierte Werktagsseite hat eine insgesamt intimere Ausstrahlung als die Sonntagsseite mit ihren unzähligen Figuren, ausschweifenden Landschaften und der das ganze Spektrum ausschöpfenden Farbenpracht. Sie ist aber mehr als ein schützender Deckel für die Innenseite, die hauptsächlich den Ruhm des Altars begründete. Vielmehr verhalten sich Außen- und Innenseite wie die Grenzen eines Intervalls: Was mit der Verkündigung begann, erfüllt sich im großen Finale der Ankunft des Himmlischen Jerusalems, das die Sonntagsseite zeigt.

Die Sonntagsseite

Im Gegensatz zur Werktagsseite sind die Bildfelder der Sonntagsseite (Abb. 11, 12) in nur zwei statt drei Reihen und auch vertikal anders gegliedert, wobei die mittlere Teilung der Höhe bei den Mitteltafeln etwas von der der Flügel abweicht. Auf den ersten Blick fällt auf, daß die obere Reihe einen deutlich anderen Maßstab der Darstellung hat, als die untere. Dies führte Erwin Panofsky zu der heute nur noch wenig geteilten Vermutung, der Genter Altar sei zum Teil aus vorhandenen Bildtafeln zusammengestückelt worden, sei also eine Art Collage9. Was die unterschiedliche Dimensionierung der Figuren betrifft, erklärt sich diese hinreichend aus der Darstellung ihres unterschiedlichen religiösen Ranges, wie man sie auch in älteren Darstellungen antrifft10. Die vier Mitteltafeln zeigen oben Jesus bzw. Gottvater auf dem Thron, flankiert von Maria und Johannes dem Täufer, und darunter die Anbetung des Lammes. Auf den Flügeln sind in der oberen Reihe ganz außen Adam und Eva und innen musizierende Engel zu sehen. In der unteren Reihe nähern sich von beiden Seiten verschiedene Personengruppen zu Pferde und zu Fuß dem Bildzentrum und bilden mit diesem eine breite kontinuierliche Panoramalandschaft.

Abb. 11: van Eyck, Genter Altar: Linker und rechter Flügel der Sonntagssseite

Abb. 12: van Eyck, Genter Altar: Mitteltafeln der Sonntagsseite

Abb. 13: Weltgerichtsdarstellung mit dem thronenden Christus („Maiestas Domini“-Motiv), Notre Dame, Paris

Die Ankunft des Himmlischen Jerusalems folgt dem göttlichen Strafgericht am Ende der Zeit, in dessen Zuge die alte Welt und der alte Himmel vernichtet und neu geschaffen werden. Wer eine romanische oder gotische Kirche betritt, wird nicht selten schon am Eingang über diesen Sachverhalt durch eine Weltgerichtsdarstellung über dem Portal aufgeklärt (Abb. 13)11. Die Sonntagsseite und der Genter Altar insgesamt zeigen diese nicht. Auch wenn man davon ausgeht, daß die Predella mit der Höllendarstellung tatsächlich existierte, fehlt z.B. der die Seelen der Auferstandenen wiegende Erzengel Michael. Ferner kann man die Landschaft mit ihrer unglaublichen Pracht nur als Darstellung der bereits neugeschaffenen Welt verstehen. Entsprechend erblickt man jene Szenerie, in der Gute und Böse, letztere ggf. auf der Predella, bereits getrennt sind und sich zumindest die Auserwählten des angenehmen Teils des Weltendes erfreuen dürfen.

Sehr wohl befinden sich Maria und Johannes der Täufer aber noch an jenem Platz, an dem man sie nach mittelalterlicher und ursprünglich byzantinischer Vorstellung während des Weltgerichtes erwartete: als Fürsprecher der abzuurteilenden Menschheit links und rechts vom thronenden Gottvater12. Den flehenden Gestus, wie er z.B. in Roger van der Weydens Weltgerichtsdarstellung (Abb. 14) vorzufinden ist, haben sie jedoch bereits abgelegt und widmen sich dem Studium der Heiligen Schrift13. Der thronende...

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