Schmerz ist lästig, quälend, entnervend – unnötig wie ein Kropf ist er deshalb noch lange nicht. Er warnt uns vielmehr davor, unserem Körper Schaden zuzufügen. Dieser Warnschmerz ist ausgesprochen sinnvoll. Doch was ist mit chronischen Schmerzen, die uns mürbe machen und unser ganzes Leben beeinträchtigen? Hier lesen Sie, was genau bei Schmerzen geschieht und warum das Schmerzempfinden individuell verschieden ist.
„Schmerz ist nicht der Feind, sondern der loyale Gefährte, der den Feind ankündigt.“
Paul Brand, Philip Yancy
Es gibt kaum etwas Schlimmeres als starke Schmerzen. Am liebsten würden wir sie ganz aus unserem Leben verbannen, wenn wir nur könnten. Aber das wäre zu kurz gedacht. Denken Sie nur einmal daran, was passieren würde, wenn wir keinen Schmerz empfinden könnten: Wir würden uns ständig stoßen, verletzen, stechen, verbrennen ... Schmerzen halten uns also davon ab, Dinge zu tun, die unserem Körper schaden, oder sie zeigen uns, dass im Körper etwas nicht in Ordnung ist und wir uns darum kümmern müssen. Sie warnen und beschützen uns vor Schlimmerem. Oder, wie Aristoteles sagt: „Wir können ohne Schmerz nicht lernen.“
Akuter Schmerz als Warnsignal ist wichtig fürs Überleben. |
Wer dieses natürliche Schmerzempfinden nicht hat, lebt ausgesprochen gefährlich, wie das folgende Beispiel deutlich macht.
Als der pakistanische Junge während seiner Geburtstagsfeier vom Dach des Elternhauses gesprungen war, um seine Freunde zu beeindrucken, stand er äußerlich unversehrt auf und bekam viel Beifall. In der Stadt verdiente er Geld, indem er sich Messer in die Arme stach und über glühende Kohlen lief. In dem Krankenhaus, in dem regelmäßig die Stichwunden genäht und die Brandblasen verbunden wurden, war er berühmt. Was seine Ärzte jedes Mal erstaunte: Niemals klagte ihr junger Patient über Schmerzen. Die Wunden ließen sich immer ohne örtliche Betäubung oder Narkose versorgen. Doch jetzt war er zu weit gegangen. Einen Tag nach seinem 14. Geburtstag verstarb er an inneren Blutungen.
Forscher fanden sechs weitere Kinder, die mit dem Jungen verwandt waren und die ebenfalls keine Schmerzen wahrnehmen konnten. Allen fehlte die Zungenspitze oder Teile der Lippen, die sie sich in den ersten Lebensjahren versehentlich abgebissen hatten. Alle hatten oft Prellungen, Schnittwunden oder Knochenbrüche erlitten. Sie hatten kein Schmerzempfinden. Die älteren Kinder hatten allerdings gelernt, sich beim Fußballspielen, wenn sie zu Fall gebracht worden waren, so zu verhalten, als ob sie Schmerzen hätten, um damit den Strafstoß zu erhalten.
Wie konnte diese gefährliche Schmerzunempfindlichkeit entstehen? Die Kinder wurden umfassend untersucht. Alle Befunde waren normal. Sie konnten zwischen „spitz“ und „stumpf“, zwischen „kalt“ und „warm“ unterscheiden. Ihre Reflexe waren normal, unter dem Mikroskop zeigten sich die Hautnerven völlig unauffällig. Die Kernspintomografie bildete das Gehirn so ab, wie es sein sollte.
Erst die genetische Untersuchung klärte das Phänomen auf: Eine Genveränderung (SCN9A) verhindert, dass ein bestimmter Natrium-Ionenkanal der Schmerzfasern funktioniert. Ein Schmerzreiz führt nun nicht mehr dazu, dass sich elektrische Impulse bilden, die dem Gehirn das Geschehen melden. Schnittwunden und Verbrennungen werden nur als ein unbedeutendes Gefühl wahrgenommen, aber nicht als unangenehm oder schmerzhaft.
Menschen mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit leben äußerst gefährlich. |
Die Lösung des Rätsels war in doppelter Hinsicht außerordentlich erstaunlich. Wie kann es sein, dass ein so komplexes Phänomen wie Schmerz durch eine einzige Genmutation so stark beeinflusst wird? Und wieso sind die Betroffenen in den übrigen Körperfunktionen nicht beeinträchtigt? Mäuse, denen man diese Genveränderung „eingebaut“ hat, leben nur wenige Tage, weil sie nicht richtig gedeihen.
In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde beschrieben, wie ein Mann – in Shows angekündigt als „das menschliche Nadelkissen“ – sich öffentlich kreuzigen ließ. Dabei fühlte er keinen Schmerz. Da das Berührungsempfinden normal war, dachte man, es fehle an der dazugehörigen Emotion, und nannte das Phänomen „Schmerzasymbolie“, also die Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden, zu erleiden und sprachlich auszudrücken.
Tatsächlich sind Schmerzsignale die notwendige Voraussetzung, auch das dazugehörige Empfinden wahrzunehmen. Ashlyn Blocker, ein Mädchen aus Georgia, das ebenfalls mit dem Gendefekt des Ionenkanals geboren wurde, antwortete auf die Frage „Was bedeutet Schmerz für dich?“ „Ich weiß es nicht“. Als Kleinkind wurden ihr die Hände verbunden, damit sie sich mit den Fingern keine Schäden im Gesicht und an den Augen zufügen konnte, die Wohnung wurde mit weichen Teppichen ausgelegt, spitzkantige Möbel wurden entfernt. Wenn Ashlyn aus der Pause zum Schulunterricht zurückkehrt, prüfen die Lehrkräfte, ob sie irgendwo am Körper Verletzungen aufweist. Sie lebt in einer überfürsorglichen Umgebung. Ihr Arzt sagt: „Schmerz ist ein Geschenk, und sie hat es nicht“. Während sie sich versucht in andere hineinzuversetzen, die Schmerzen verspüren können, ist das bei Ronald Niedermann, dem Bösewicht des Krimiautors Stieg Larsson anders: Seine angeborene Schmerzunempfindlichkeit lässt ihn zum gefühllosen Killer werden.
Ohne Schmerzsignale gibt es kein Schmerzempfinden. |
Es gibt ein Kontinuum der Schmerzempfindlichkeit auch bei Menschen, die keine so gravierende Genveränderung haben. Diese Beobachtung erklärt sich durch den Einfluss verschiedener genetischer Faktoren, aber auch durch Umwelteinflüsse. Hunderte Gene steuern den Schmerz: Es kommt auf das Gemisch an und auf die Aktivität der Gene. Auch das SCN9A-Gen scheint in unterschiedlichen Ausprägungen vorzukommen und mit darüber zu entscheiden, ob wir dazu neigen, Schmerzen stärker oder schwächer zu empfinden.
Ionenkanalblocker – Lizenz zur Schmerzlinderung
Ein Wirkstoff wurde entwickelt (XEN402), der passgenau die Funktion dieses Ionenkanals blockiert. In ersten Untersuchungen an Menschen konnte gezeigt werden, dass die Schmerzintensität reduziert werden kann, allerdings nicht vollständig, denn Schmerz ist auch ein komplexes Erlebnis, das das Gehirn produziert. Trotzdem sind die Erwartungen an den Ionenkanalblocker groß: Die Lizenz für diesen Wirkstoff wurde für 376 Millionen Dollar an einen großen Pharmakonzern verkauft, der das Mittel zur Marktreife bringen will. Auch die Natur scheint solche Wirkstoffe bereit zu halten: In dem chinesischen Rotkopf-Hundertfüßer fand sich ein passgenauer Hemmstoff dieses Ionenkanals, der in Mäusen Schmerzen sehr effektiv linderte.
Auf künstlichen Ionenkanalblockern ruhen große Hoffnungen. |
Unser Körper verfügt über ein kompliziertes System von Nervenzellen und -leitungen, physikalischen Impulsen und biochemischen Botenstoffen, das durch einen Schmerzreiz aktiviert wird. Mithilfe dieses Systems gelangt die Schmerzbotschaft ins Gehirn, wo sie entschlüsselt und eine Reaktion in Gang gesetzt wird.
Nur zwei Typen von Nervenzellen, die sich in der Ausprägung ihrer Nervenfasern unterscheiden, sind auf Schmerzsignale spezialisiert: die schnell leitenden A-Delta-Fasern (Aδ-Fasern) und die langsam leitenden C-Fasern. Aδ-Fasern sind für die Schmerzerkennung mechanischer Reize (z. B. Nadelstiche) und Kälte zuständig, während die C-Fasern Kälte- und Wärmereize sowie chemische Reize erkennen. Diese auf potenziell schmerzhafte Reize spezialisierten Nerven nennt man Nozizeptoren. Auf dem langen Weg vom Gewebe zum Gehirn benutzt der menschliche Organismus nur zwei Nervenzellen mit ihren Fasern: Der Reiz (z. B. ein Nadelstich), der auf die im Gewebe (z. B. in der Haut) verteilten Nervenendigungen der ersten Nervenzelle (Nozizeptor) einwirkt, führt zu Änderungen innerhalb der Zelle, woraus sich elektrische Signale entwickeln. Diesen Vorgang nennt man Transduktion. Ionenkanäle und andere an der Oberfläche der Nervenendigung liegende Verbindungen zum Zellinneren (Rezeptoren) sind dafür verantwortlich. Das elektrische Signal wandert in der Nervenfaser zum Rückenmark. Die Geschwindigkeit beträgt zwischen einem halben Meter (C-Fasern) und 30 Meter (Aδ-Fasern) pro Sekunde. Im Rückenmark wird das elektrische Signal an einer Ausknospung der Nervenfaser, die als Synapse bezeichnet wird, in ein chemisches Signal umgewandelt. Botenstoffe treiben wie Fähren im synaptischen Spalt zur zweiten Nervenzelle. Dort...