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Das schweigende Klassenzimmer

Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg

AutorDietrich Garstka
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783843717298
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
DDR, November 1956: Eine Abiturklasse reagiert auf die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes mit einer Schweigeminute. Die Rädelsführer werden von der Staatssicherheit gesucht, aber nicht gefunden. Gegen alle Drohungen und Erpressungen halten Schüler und Eltern zusammen. Schließlich fliehen die Gymnasiasten geschlossen nach West-Berlin... Ein dramatischer Bericht über die Wirklichkeit der DDR-Diktatur.

Dietrich Garstka, geboren 1939, studierte Germanistik, Soziologie und Geographie in Köln und Bochum und war Gymnasiallehrer in Essen und Krefeld.

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Leseprobe

2. STALIN FÄLLT UM


Wir hören vom Aufstand der Ungarn


Wir waren 1956 die Abiturklasse, die 12. Klasse, 5 Mädchen, 15 Jungen, an der Kurt-Steffelbauer-Oberschule in Storkow, einer kleinen Stadt mit etwa 5000 Einwohnern in der Mark Brandenburg, damals Bezirk Frankfurt (Oder), eine Stunde mit dem Zug oder mit dem Auto von der Berliner Mitte entfernt.

Im Oktober 1956 sendete der verbotene RIAS aufregende Nachrichten, die unseren Schulalltag durcheinanderbrachten. Gespannt hingen wir an den Rundfunkgeräten.

RIAS, 24. 10. 1956, Nachricht:

Tausende und Abertausende Studenten, Arbeiter und Soldaten demonstrieren seit gestern Abend für Freiheit und Unabhängigkeit ihres Landes. Mit (…) der ungarischen Fahne und Spruchbändern, auf denen zu lesen stand, (…): »Schickt die Rote Armee nach Hause« und »Wir fordern freie und geheime Wahlen«, zogen die Demonstranten durch die Straßen. Später stürmten sie Parteibüros und öffentliche Gebäude. Sicherheitstruppen stellten sich ihnen entgegen und verwickelten die Demonstranten in blutige Kämpfe. Regierung und Politbüro der Kommunistischen Partei Ungarns wurden unter dem Druck der Ereignisse umgebildet. Imre Nagy, erst kürzlich von dem Vorwurf des Titoismus rehabilitiert, trat wieder an die Spitze von Partei und Regierung. Über den Rundfunk erließ die Regierung Aufrufe an die Bevölkerung, die zur Ruhe mahnen. Als die Lage sich dennoch zuspitzte, griffen sowjetische Truppen auf Bitte des neuen Ministerpräsidenten in die Kämpfe ein.5

RIAS, 24. 10. 1956, Gespräch:

Der Kampf der Ungarn, der revolutionäre, ist das ein Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit?

Ja, Ungarn war ja jahrhundertelang die Bastei gegen den Osten. Und wird auch immer die Osten-Bastei sein. Schauen Sie, wenn wir nun das nehmen, die Glocken läuten. Warum läuten die Glocken in den Mittagsstunden? Weil, Ungarn hat die türkische Macht damals zurückgeschlagen, und jetzt steht Ungarn auch fest, felsenfest. Und vergessen Sie nicht, damals waren die Russen nach Westen marschiert, in diesem kleinen Budapest waren sie drei Monate. Und jetzt? Sie kennen meine Leute nicht. Die werden jetzt kämpfen bis zu dem letzten Blutstropfen, bis zu dem letzten Mann, weil, die werden das nie vergessen, das geistige Blutbad, was die Russen angerichtet haben und diese ganze Besatzung, was die Russen gemacht haben.

RIAS, 27. 10. 1956, Kommentar:

Mit Phosphor-Granaten schossen die Sowjets gestern in die Arbeiterviertel Budapests. Mit Panzern rückten sie gegen Betriebe vor, in denen die Arbeiter die ungarische Revolution gegen den Angriff der sowjetischen Reaktion verteidigten (…) Die sowjetischen Divisionen, deren Panzer gegen Budapester Arbeiter eingesetzt wurden, eröffneten das Feuer im Namen einer Arbeiterund Bauernmacht, und ihre erste Amtshandlung war die Gründung einer sogenannten Arbeiter- und Bauernregierung.

Auch das ist schon einmal geschehen. Nach 1945, als die sowjetische Armee zum ersten Mal in Ungarn einmarschierte, als die Polit-Offiziere und die Instrukteure mit der Gründung der Volksrepublik Ungarn begann. Es hat keine Arbeiter gegeben, die für die Volksrepublik Ungarn in den Streik oder auf die Straße gingen. Was die Arbeiter für diese sogenannte Volksrepublik empfanden, war Hass und Empörung, sie hassten diesen Staat, der vorgab in ihrem Namen zu regieren (…) Aber als sie es wagten, Forderungen zu stellen, da ließen die sowjetischen Generale ihre Soldaten auf sie schießen. Wo gibt es in sogenannten kapitalistischen Ländern Generale, die im Auftrag einer Partei oder einer Wirtschaftsgruppe so gegen Arbeiter vorgehen könnten?

Es ging um Ungarn. Bewaffneter Aufstand. Gegen das sozialistische Regime, gegen die Diktatur, und dann gegen die Sowjetarmee. Drei Jahre zuvor, am 17. Juni 1953, hatten wir den Aufstand deutscher Arbeiter erlebt, auch in Storkow. In der Schuhfabrik wurde gestreikt. Im Arbeiter- und Bauernstaat war Streiken verboten, weil konterrevolutionär. Arbeiter streiken gegen Kapitalisten, nicht aber gegen Sozialisten, gegen den Staat, in dem der Sozialismus aufgebaut wird, für die Arbeiter und mit den Arbeitern. Wir hatten beobachtet, wie die Polizei und der Staatssicherheitsdienst die Streikführer im Betriebsgelände der Schuhfabrik an der Lebuser Straße festnahmen, durch das Tor in bereitstehende Wagen zerrten, vorbei an den Arbeiterinnen und Arbeitern, die durch Gewehrläufe, die auf sie gerichtet waren, daran gehindert wurden, ihre Kollegen aus den Griffen dieser Ordnungshüter zu befreien.

Und nun, drei Jahre später, Ungarn. Wir verstanden sofort, dort war mehr los als damals bei uns. Die Ungarn kämpften mit Waffen. Es war wie David gegen Goliath, das kleine Ungarn, 500 km von West nach Ost und 300 km von Nord nach Süd, gegen das größte Land der Erde, 9000 km von West nach Ost, 3000 km von Nord nach Süd. So stellten wir uns das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten vor. Wir sahen keine Bilder, Fernsehen gab es nicht. Wir hörten Radio, RIAS. Aus den Worten machten wir Bilder in unseren Köpfen. Wir begeisterten uns für die Ungarn. Hier stand ein ganzes Volk auf. Es entschied sich für den bewaffneten Aufstand. Die Besatzungsmacht sollte raus, das elektrisierte uns.

RIAS, 27. 10. 1956, Interview mit einer geflüchteten Ungarin:

Sie glauben, dass es besser ist, seine Heimat zu verlassen, als unter den Russen zu leben?

Natürlich, es ist ja schwer, die Heimat zu verlassen, mein Herr, nicht wahr!

Es ist entsetzlich, aber unter den Russen zu leben, das ist viel, viel fürchterlicher.

Sie kennen die Russen?

Wir kennen sie. Wir haben das schon mitgemacht, einmal. Haben Sie Angst, dass die Russen eventuell Vergeltung üben könnten?

Wir haben Angst. Wir haben Angst, bitte. Eine Riesenangst haben wir sogar, ja. Denn wir kennen sie.

RIAS, 29. 10. 1956, Reportage:

Es war eine wunderschöne Demonstration. Die jungen Kerle haben den Zug angefangen.

Die Studenten?

Auch die kleinen Buben, die 13-jährigen, die 14-jährigen. Mit denen hat’s angefangen. Sie haben Fackeln (…) getragen, haben die roten Fahnen in die Donau geschmissen. Und sind so gezogen, nicht wahr. Inzwischen ist eine Deputation zum Radio und hat, ich weiß nicht, hat Gerö [Erster Sekretär der kommunistischen Partei der ungarischen Werktätigen] zur Verantwortung ziehen wollen. Der hat inzwischen eine Rede gehalten. Und dort hat man vier Studenten abgeschossen.

Wer hat zuerst geschossen?

Die AVH [Staatssicherheitsdienst]. Als die Demonstranten ins Funkhaus kamen.

Bei dieser Demonstration?

Nicht bei der Demonstration, die ins Radio eingedrungen sind. Man hat sie hineingelassen.

Wer hat zuerst geschossen?

Die AVH.

Die AVH hat zuerst geschossen, als die Demonstranten ins Funkhaus kamen?

Ja, dann sind sie mit Bomben, diesen, no, wie sagt man, Tränenbomben gekommen.

Tränengas?

Tränengas gekommen. Und dann hat’s erst angefangen. Die zweite Provokation war vor Stalin.

Denkmal.

Denkmal, ja. Dort haben sie schon wieder in die Menge hineingeschossen.

In die unbewaffnete Menge?

In die unbewaffnete Menge (…)

Es steht eindeutig fest, dass die AVH zuerst geschossen hat?

Das ist ganz bestimmt, das ist ganz bestimmt. Natürlich war dann die AVH sehr, sehr, wie soll ich sagen, gemein, weil sie am Abend dann auf der Gasse so auf die Leute geschossen haben, dass sie gar nicht gewusst haben, warum. Ganz grundlos.

Wir alle hörten RIAS. Das war der Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin, der Sender der amerikanischen Besatzungsmacht. Noch heute fallen ehemaligen Genossen Abwertungen aus dem Kopf, wenn sie von diesem Sender sprechen: ein schlimmer Sender, ein Hetzsender, ein Falschmelder. Die Initialen des Senders wurden entsprechend anders gefüllt: Rundfunk im Ami-Sold oder: Revolverhelden, Intriganten, Agenten, Saboteure.

RIAS hören war verboten: »Volksverhetzung.« Deshalb funktionierte der Mechanismus des Ausschaltens. Bevor man das Radio ausschaltete, stellte man einen DDR-Sender ein. Wenn undurchsichtiger Besuch aus dem Gespräch heraus erklärte, jetzt einmal eben die Nachrichten hören zu wollen, schaltete er das Radio ein und hörte, welcher Sender eingestellt war. Schnell war man als Westhörer identifiziert. Weil die Funktionäre wussten, dass Millionen den RIAS hörten, legten sie auf seine Frequenz ein nervendes Band von störenden Geräuschen. Wir hörten trotzdem. Wenn wir im Internat RIAS hörten, stellten wir vor der Zimmertür eine Wache auf, wir trauten den jüngeren Schülern nicht.

Es gab eine Kultsendung, nur kurz, aber jeden Tag, abends um 18.00 Uhr, später nur noch jeden Sonntag um 12.00 Uhr. Sie begann mit dem Läuten der Freiheitsglocke. Diese Glocke war ein Geschenk der USA an Berlin, sie hing – und hängt – im Glockenturm des Schöneberger Rathauses, Sitz des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin. Und dann sprach die Stimme:

Ich glaube an die Unantastbarkeit und die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich...

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