Lerne, die Zukunft deines Kindes von deiner Vergangenheit zu trennen.
Viel ist in der letzten Zeit über Kinder diskutiert worden. Über ihre vielseitigen Entwicklungsmöglichkeiten, über ihre Probleme, über die immer größer werdenden Schwierigkeiten mit ihnen und über die Frage, wie das alles in den Griff zu bekommen sei. Experten wurden befragt, Eltern und Erzieher kamen als die sogenannten Betroffenen zu Wort. So vielfältig aber der Hintergrund der Diskutierenden und das Spektrum der möglichen Lösungen auch waren, in einem Punkt gab es erstaunliche Einigkeit: Das Problem liegt an und bei den Kindern. Auffallend selten wurde dabei die Welt der Erwachsenen erwähnt. Vielleicht geschah es ja aus Unverständnis, vielleicht aus Unwissenheit, immer aber geschah es so, als gäbe es darüber nichts zu reden. Sicherlich war es kein Desinteresse. Mehr als einmal statteten Vertreter der Erwachsenenwelt der Welt der Kinder einen Besuch ab, die ihnen so fremd und lebensfeindlich erschienen sein muss wie einem Arktisbewohner die Wüste. Vielleicht gab es aber auch einen ganz anderen Grund: den einfachen Wunsch, zu vergessen, wie sehr diese beiden Welten miteinander verwoben, wie sehr genau die diskutierten Kinder das Produkt und damit der Spiegel ebenjener Erwachsenenwelt sind.
»Lasst unsere Erziehung in Ruhe«, scheinen die Großen zu rufen, »die haben wir schon lange und gut hinter uns gebracht. Sorgen machen uns doch nur die Kleinen.«
Der Blick in den eigenen Spiegel
In den Köpfen vieler Menschen entsteht nun ein sehr eigenartiges Bild. Auf der einen Seite sehen sie die Kinder: abhängig, ungeformt, unangepasst und voller vermeintlicher Fehler. Ihnen gegenüber stehen die Erwachsenen: unabhängig, geformt, angepasst und vermeintlich ohne alle diese Fehler. Schließlich haben sie den Prozess der Erziehung bereits abgeschlossen und treten nun an, ihr Lebenswissen an den unreifen Nachwuchs weiterzugeben, aus diesem sozusagen anständige Menschen zu machen.
Sehen Sie das Bild? Gut. Hier also die Kinder, die noch keine Moral kennen, keine Regeln beachten und die Fähigkeit zum Verzicht als eine der wichtigsten Tugenden erst erwerben müssen. Kinder möchten nämlich alles haben. Hier, jetzt und sofort. Ihnen gegenüber jene, die sie leiten sollen. Voller Reife, Disziplin und der Fähigkeit, zu entsagen. Ach so? Klar. Es sind doch Erwachsene. Niemals kämen diese auf die Idee, ein neues Handy, einen neuen Fernseher, einen neuen Computer oder ein neues Auto zu kaufen, das sie nicht wirklich unbedingt benötigen. Und viel weniger noch fiele ihnen jemals ein, sich das Geld zu borgen – sei es von Freunden, als Ratenkauf oder gar von der Bank –, nur um den Kauf auf der Stelle möglich zu machen. Erwachsene haben Verzicht gelernt. Die tun so etwas nicht. Sie gehorchen auch allen Regeln. Schneller als erlaubt mit dem Auto zu fahren käme ihnen genauso wenig in den Sinn, wie ohne vorherige Erlaubnis auch nur Lutschbonbons an sich zu nehmen. Es sei denn, andere täten vor ihnen das Gleiche. Aber das ist eine ganz andere Sache. Schließlich hat ihre Erziehung funktioniert! Ein komisches Bild, das ich Ihnen da zeige? Ich weiß. So wenig sie aber auch mit der Wirklichkeit zu tun hat, so sehr prägt diese Vorstellung seit langer Zeit das Erziehungsbild vieler Menschen und die Diskussionen darüber. Es ist so und nicht anders. Und es wird auch so bleiben. Wer nämlich den Mut hat, die heile Oberfläche der Erwachsenenwelt abzudecken und auch anzusprechen, worüber es nach Meinung so vieler nichts zu sprechen gibt, dem offenbart sich mit einem Schlag die gesamte, plötzlich ganz veränderte Szenerie. Mit ehrlichem Staunen muss der unvoreingenommene Betrachter nun erkennen, dass hier bei weitem nicht alles so ist, wie es sein sollte.
Viele Erziehende, so ist mit einem Mal ganz deutlich zu sehen, haben jenen Status, den sie von Kindern schon im frühen Alter erwarten, selbst nicht einmal annähernd erreicht.
Sie wären erschrocken, ja erzürnt, müssten sie ihr eigenes Verhalten bei Kindern beobachten. Schnell deckt unser Beobachter die Szene also wieder zu, und um seine eigenen Ansichten nicht zu gefährden, beschließt er, das soeben Gesehene im gleichen Moment auch wieder zu vergessen. In gewisser Hinsicht scheint dieses Verhalten natürlich notwendig und sogar gerechtfertigt zu sein. Ist doch Erziehung am Ende nichts anderes als die Nachahmung und die Weitergabe von vermeintlich richtigem Verhalten. Genau hier liegt aber das Problem. Der menschliche Geist ist träge und übernimmt lieber Fertiges, als selbst etwas Neues zu schaffen. Und so entspringt die Antwort auf die Frage, was nun richtig und was nun falsch ist, viel mehr anerzogenen, unreflektiert übernommenen Werten als eigenem Nachdenken und persönlicher Reflexion. Mit oft schlimmen Folgen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben.
Die fatalen Folgen unreflektierten Handelns
Lange Zeit wurden Kinder, die als Linkshänder auf die Welt gekommen waren, zu Rechtshändern umerzogen. Das hatte weder medizinische noch psychologische Ursachen. Die linke Hand galt einfach in vielen Kulturen als unrein, und man war der Meinung, dass gesellschaftskompatible Rechtshänder es später einmal leichter hätten. Erwachsene hatten also als Kinder gelernt, dass das bevorzugte Benutzen der linken Hand falsch und das der rechten eben richtig wäre. Keiner der so Erzogenen hätte zwar jemals sagen können, warum dem so war, aber jeder von ihnen wusste, dass die für ihn getroffene Entscheidung die einzig richtige war. Und so wurde ungeachtet all der Nachteile, die viele »Umerzogene« am eigenen Leib verspürt hatten, dieser vermeintliche Fehler auch beim Nachwuchs behoben.
Wäre übrigens damals die Meinung der sogenannten Gesellschaft aufseiten der Linkshänder gestanden, würden die meisten von uns wohl heute mit der linken Hand schreiben. Reflexion und Nachdenken hätten hier mehr geholfen als blindes Nachahmen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Nachahmung an sich ist nicht das Problem. Jedes Lernen in der Natur beruht auf diesem wunderbaren Prinzip. Die Frage ist am Ende aber nicht, ob, sondern was wir nachahmen und warum wir es tun. Und genau bei dieser Überlegung gibt es einiges nachzuholen.
Der erste Schritt: das objektive Bewerten der eigenen Kindheit
Wenn ich mit Menschen über die Themen Erziehung und Kindheit spreche, habe ich oft das Gefühl, man könne die Befragten in zwei Gruppen einteilen. Die Mitglieder der ersten Gruppe hatten die beste, schönste und wunderbarste Kindheit, die vorstellbar ist. Umsorgt von gleichwohl gütigen wie strengen Eltern, die reichlich zu geben, aber auch hart zu strafen wussten, erlebten sie eine Erziehung, bei der alles richtig und nachahmenswert war.
Die Angehörigen der zweiten, nach eigenem Empfinden nicht so glücklichen Gruppe verbinden weder Gutes mit der eigenen Kindheit noch mit dem Erziehungsstil der Eltern. Sie würden nichts, aber auch gar nichts selbst genauso tun, wie es an ihnen getan wurde.
Sehr selten begegne ich Menschen, die ihre Gefühle gegenüber den Eltern und ihre Erinnerungen an die Kindheit von der Frage trennen können, wohin ihre Erziehung sie am Ende geführt hat. Genau diese Fähigkeit ist es aber, die uns in die Lage versetzt, unseren Kindern als reflektierte Erwachsene zu begegnen und ihre Erziehung nicht aus Nachahmung, sondern aus Überzeugung entstehen zu lassen.
Schließlich ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass den Erziehenden mit allem, was sie sind, und mit allem, was sie zu dem gemacht hat, das sie sind, eine viel größere Rolle im Erziehungsspiel zukommt als den immer diskutierten Kindern. Zeit also, uns einmal genauer mit diesen Erwachsenen auseinanderzusetzen.
Ehre deine Eltern, aber hinterfrage ihren Erziehungsstil
Sie fragen sich, warum das, wenn es doch so wichtig ist, bis jetzt noch nicht passiert ist? Vielleicht weil viele Erwachsene daran gar nicht interessiert sind. Die meisten Menschen sind nämlich der Meinung, dass jede Kritik an der Pädagogik der Eltern gleichzeitig eine Kritik an diesen persönlich ist. Und Eltern haben schließlich mehr für uns getan, entbehrt oder sonst wie erlitten, als dass man als Kind irgendein Recht hätte, sie zu kritisieren. Mag sein. Tatsächlich aber geht es hier weder um unsere Eltern noch um Kritik.
Technik und Wirkung von Erziehung sind nicht untrennbar mit den Erziehenden verbunden, und Eltern, mit deren Erziehungsstil wir nicht übereinstimmen, sind deswegen weder schlecht noch böse.
Das Unvermögen oder auch der Unwille, diese beiden Themen zu trennen, führt aber in weiterer Folge zu der sehr unangenehmen Unfähigkeit, objektiv und ohne Emotionen über das Thema Erziehung und schließlich über sich selbst nachzudenken. Das ist wie bei vielem im Leben. Nehmen wir als Beispiel ein Kochbuch. Verfasst hat es ein sehr berühmter Fernsehkoch, den Sie sehr schätzen. Natürlich besorgen Sie das Buch umgehend und beginnen, die einzelnen Rezepte nachzukochen. Doch sosehr Sie den Verfasser auch schätzen, der in seiner wöchentlichen Fernsehshow immer so freundlich auf alle Fragen eingeht und der Ihnen auch sonst ein begeisternder Mensch zu sein scheint, das Essen, das Sie nach seiner Anleitung produzieren, schmeckt Ihnen überhaupt nicht. Nie würden Sie die Zutaten auf diese Art zusammenstellen. Wäre dieser Autor jetzt einer Ihrer Elternteile, und wären seine Rezepte Ihre Erziehung,...