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E-Book

Das Spiel meines Lebens

VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644401037
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Es gibt Spiele, an die erinnert man sich noch Jahre später. Nicht immer sind es großartige Siege - auch schmerzhafte Niederlagen, ein in allerletzter Minute verhinderter Abstieg oder eine für das private Glück schicksalhafte Partie können einen nachträglich ein Leben lang begleiten. Jeder Autor, jede Autorin dieses Bandes hat ein anderes Spiel, das sie oder ihn besonders prägte: das als «Nacht von Belgrad» in die Geschichte eingegangene EM-Finale (1976), das WM-Halbfinale Deutschland - Frankreich (1982), der erste Stadionbesuch beim BVB (1995), die DFB-Pokal-Sensation, als Energie Cottbus gegen den Karlsruher SC gewann (1997), die «Mutter aller Niederlagen», als der FC Bayern München in letzter Minute gegen Manchester United in der Champions League ausschied (1999), das erste Derby FC St. Pauli - HSV, das am Millerntor ausgetragen wurde (2010), oder der «Abstiegsgipfel» Werder Bremen - Eintracht Frankfurt (2016). Jede Geschichte ist auf ihre Weise besonders - sie alle verbindet die Liebe zum Fußball. Mit: Ronald Reng, Sa?a Stani?i?, Ayla Mayer, Misha Verollet, Christoph Schröder, Alexandros Stefanidis, Christian Putsch, Christine Westermann, Benedict Wells, Christian Spiller, Julia Friedrichs, Jochen Schmidt, Jürgen Kaube, Thomas Pletzinger, Kirsten Fuchs, Dirk Knipphals, Marius Hulpe, Philipp Winkler, Kai Feldhaus, Stefanie Fiebrig, Horst Bredekamp, Frank Willmann, Simon Roloff, Michael Kröchert.

Julia Suchorski, geboren 1975, arbeitet seit 2006 als Sachbuchlektorin im Rowohlt Verlag. Im selben Jahr erwarb sie ihre Dauerkarte für den FC St. Pauli.  Misha Verollet, 1981 auf Gibraltar geboren, wuchs in Bielefeld auf. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von «Goodbye, Jehova!», das er unter dem Pseudonym Misha Anouk veröffentlichte. Der Poetry-Slam-Veteran lebt in Wien und arbeitet in einer Werbeagentur als Berater für internationale Unternehmen. Bei Facebook und Twitter ist er als @misharrrgh unterwegs, wo ihm über zehntausend Menschen folgen. Alexandros Stefanidis, Jahrgang 1975, schrieb als freier Autor für Die Zeit und den Stern. Seit 2005 arbeitet er für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. 2010 erschien sein erstes Buch «Beim Griechen», das ein Bestseller war. 2006 wurde er zum «Journalist des Jahres» gewählt, 2007 erhielt er den CNN Journalist Award, 2013 den Deutschen Reporterpreis. Alexandros Stefanidis lebt mit seiner Familie in der Nähe von München. Christian Spiller, geboren 1982 in Cottbus, studierte in Frankfurt am Main und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Seit 2010 ist er Redakteur bei ZEIT ONLINE, seit 2014 leitet er das Sportressort.  Jochen Schmidt, 1970 in Ostberlin geboren, veröffentlichte die Romane «Müller haut uns raus» und «Schneckenmühle» sowie die Erzählbände «Triumphgemüse» und «Meine wichtigsten Körperfunktionen». Außerdem erschienen von ihm die Bücher «Schmidt liest Proust», «Dudenbrooks» und «Schmythologie». 1999 war er Mitbegründer der Berliner Lesebühne «Chaussee der Enthusiasten». Jochen Schmidt lebt in Berlin. Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, gewann 2003 den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike. Zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren vielgelobten Debütroman «Die Titanic und Herr Berg». Es folgten «Heile, heile» und «Mädchenmeute», für das sie den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Der Roman wurde zum Bestseller, 2021 erschien die Fortsetzung «Mädchenmeuterei». 2022 wurde Kirsten Fuchs mit dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis ausgezeichnet. Dirk Knipphals, 1963 geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1999 ist er Literaturredakteur der 'tageszeitung'. 2014 erschien das Buch 'Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind'. Dirk Knipphals lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Leseprobe

Saša Stanišić


Das unwahrscheinliche Spiel, der unwahrscheinliche Krieg, das unwahrscheinliche Ich
Roter Stern Belgrad – FC Bayern München, Europapokal der Landesmeister, 24. April 1991

Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte:

  • Eltern.

  • Eine Oma, die mir alle paar Tage aus den Fettaugen auf der Hühnersuppe meine Zukunft las. Einmal prophezeite sie mir, ich würde entweder alle Zähne verlieren oder mich verlieben in einem Mischwald mit eng stehenden Bäumen, das Fett äußere sich etwas uneindeutig.

  • Jugoslawien. Das aber nicht mehr sehr lang. Es war das Jahr 1991, die ersten politischen Unruhen spürbar, wenn auch nicht verstehbar, Spannungen zwischen den Ethnien. Fahnen und geballte Fäuste.

  • Eine Abneigung gegen Hühnersuppe.

  • Eine Vier in Mathe. Interessante Gefühle gegenüber meiner Englischlehrerin. Eine Eins in Englisch. Einmal lud sie mich zu sich nach Hause ein, bis heute weiß ich nicht, warum eigentlich. Ich natürlich hin, aufgeregt wie Frühlingsanfang. Wir aßen selbstgemachten Englischlehrerinnenkuchen und tranken schwarzen Tee. Es war der erste schwarze Tee meines Lebens, ich kam mir irrsinnig erwachsen vor, tat aber so, als tränke ich schwarzen Tee seit Jahren, wurde auch den Expertensatz los: «Ich mag es, wenn er nicht so richtig schwarz ist.»

  • Einen C-64. Am liebsten zockte ich Summer Games, International Karate Plus und International Football. Selbst machte ich kaum Sport, spielte etwas Basketball aufgrund Wachstumsvorsprung, für Fußball reichte «es» nicht.

  • Angst vor Pink Floyd. Ich war alt genug, dass Mutter und Vater ausgehen konnten, ohne dass jemand auf mich aufpassen musste. War ich allein, unternahm ich lauter Dinge, die Kinder unternehmen, wenn sie allein sind, also Dinge, die ihnen ein bisschen Angst machen, ergo aufs Dach klettern und Passanten mit Pflaumen bewerfen oder eben aus Vaters Schallplatten diejenige zum Hören aussuchen, die sogar mit Vater in der Nähe unangenehm klang.

  • Crvena Zvezda – Roter Stern Belgrad. Und ja, «haben», weil das doch so ist: Einer Mannschaft radikal zugeneigt zu sein, fühlt sich an wie Besitz; die Art und Weise, wie man über die Spieler redet, mit größter Teilnahme und Teilhabe, oder wie man sich über einen Sieg freut und über Niederlagen und Verletzungen ärgert, als stoße das gerade einem selbst zu, ja, das alles fiele nicht derart krass aus, würde man die Mannschaft als etwas Fremdes wahrnehmen.

Es war das Jahr 1991, die Mannschaft in Europa schon länger gut dabei, in der Liga in fünf Jahren drei Mal meisterlich. Bei wichtigen Spielen waren inoffiziell 100000 Leute im Stadion, davon 75000 Wahnsinnige, immer brannte was, immer sangen alle. In unserem Maracanã – nannten wir wirklich so.

Und während andere Kinder irgendwann später Flugzeuge fliegen oder im Zoo den Pinguin jonglieren lassen wollten, trug ich meinen rot-weiß gestreiften Schal zur Schule (auch gern im Sommer) und schmiedete für die Zukunft ausschließlich Pläne, die mich in die Nähe der Mannschaft bringen sollten. Schon eingesehen hatte ich, dass der direkte Weg, einfach selbst Fußballer zu werden und vom Roten Stern für 1000000000000000 Dinar (die Inflation …) gekauft zu werden, weniger wahrscheinlich war, als dass ich den Lebensunterhalt mit meinen eigentlichen Talenten bestritt (Leute mit Pflaumen bewerfen, mit Englischlehrerinnen schwarzen Tee trinken).

Weil man das, was einem gehört und das man vergöttert, am liebsten immer bei sich hätte, verpasste ich keine Live-Übertragung im Radio (gern in unserem Yugo, auf dem Parkplatz im Hof, damit meiner Freude/meinem Frust niemand in die Quere kam) und keine Zusammenfassung im Fernsehen. Und zum 13. Geburtstag wünschte ich mir von meinen Eltern eine Dauerkarte. Von Oma gleich mit, worauf sie die Suppe befragte und mir riet, an meinem Geburtstag das Haus nicht zu verlassen.

Eine realistische Chance auf die Erfüllung des Wunsches gab es wohl kaum. Allein deswegen, weil Belgrad knapp 250 Kilometer entfernt war. Das Einzelkind in mir spekulierte dennoch darauf, dass die Eltern sich meinetwegen zu einem Umzug in die Hauptstadt entschließen würden.

Eigentlich sollte es ein Fahrrad werden, doch am 6. März – mein Geburtstag war am 7. – fand ich das Fahrrad nirgendwo im Haus versteckt. Am Abend fegte Roter Stern im ersten Viertelfinale des Landesmeisterpokals Dynamo Dresden mit 3:0 weg, und Vater nahm mich zur Seite – weil man das so macht, wenn man ein großes Versprechen abgibt – und sagte, er wolle versuchen, uns Tickets für das Halbfinale zu besorgen, sollte sich die Mannschaft qualifizieren. Mit «uns» meinte er auch Mutter, aber sie klopfte sich bloß mit dem Zeigefinger an die Schläfe, womit er mit «uns» dann doch nur sich selbst und mich gemeint hatte.

Das Rückspiel im Dresden wurde ebenfalls mit 3:0 gewonnen.

Das Halbfinal-Los fiel auf die Bayern. Wie immer hungrig, wie immer theoretisch unbesiegbar. Vater und ich verfolgten das Hinspiel im Fernsehen. In der Halbzeitpause wurde von Unruhen in Slowenien und Kroatien berichtet. Auch Schüsse waren gefallen. Roter Stern schoss zwei Tore, Bayern eins.

Es ist so: Ich bin in einem Land geboren, das es heute nicht mehr gibt. Als es das Land noch gab, verstanden sich viele, inklusive mir, als «Jugoslawen». Das war ethnisch gemeint, als Ergebnis also von ethnisch «gemischten» Ehen; wir waren Kinder der gelebten Einheit und Brüderlichkeit im jugoslawischen Melting Pot.

Herkunft ist Zufall und wird doch als Absicht verwendet, instrumentalisiert, missbraucht. Auch Jugoslawe zu sein war eine Botschaft, eine Geste. Aber es handelte sich nicht um die Überlegenheitsgeste der «reineren» Abstammung, auch nicht um ein Resultat von Ausgrenzung oder Rassenpropaganda. Jugoslawe zu sein war ein positiv konnotiertes Bekenntnis zur multiethnischen Gesellschaft, eine Bejahung des Verbindenden zwischen den Kulturen oder schlicht zwischen zwei einander zugeneigten Menschen, die sich aus Religion nichts machten. Auch jemand, dessen Vater Eskimo und Mutter Mazedonierin war, konnte sich als Jugoslawe erklären. Wer es tat, schätzte Selbstbestimmung und Blutgruppe mehr als Fremdbestimmung und Blut.

Am 24. April 1991 fuhren Vater und ich am frühen Morgen nach Belgrad. Ich ließ meinen rot-weißen Schal aus dem Yugo-Fenster hängen, wie ich es bei Fans im Fernsehen gesehen hatte. Als wir in Belgrad ankamen, war der Schal aufs exzellenteste schmutzig, vor so was warnt dich ja keiner, und Vater kaufte mir am Stadion einen neuen, den ich gar nicht gebraucht hätte. Der schmutzige alte Schal hatte uns doch den Einzug ins Halbfinale überhaupt erst gebracht, schließlich trug ich ihn vor jedem Sieg der Mannschaft und manchmal zum Schlafen, was meine Eltern veranlasst hatte, Oma zu bitten, sie möge mir in der Suppe ein Erwürgtwerden im Bett lesen, eine Erziehungsmaßnahme, die ich zufällig belauscht hatte. Oma folgte ihr aber nicht, wahrscheinlich weil sie den Fettaugengott nicht hintergehen wollte.

Am 27. Juni 1991 werden in Slowenien die ersten Kriegshandlungen stattfinden. Die Abspaltung der Alpenrepublik von Jugoslawien war bald Tatsache. Es folgten Scharmützel in Kroatien, Horror in Kroatien, dann die kroatische Unabhängigkeitserklärung. 1992 würde der Krieg in Bosnien beginnen. 2003 Jugoslawien Geschichte sein.

Am 24. April 1991 schoss der Serbe Siniša Mihajlović den Führungstreffer für den Roten Stern, ein Freistoßtor. Vorausgegangen war ein Foul an Dejan Savićević, einem feinen Techniker aus Montenegro. Der Jubel aus 80000 Kehlen war sensationell und unheimlich. Heute könnte ich mir ausmalen, darin hätte sich die ganze aufgestaute Wut des langsam auseinanderfallenden Landes entladen, die religiösen Spannungen, die wirtschaftlichen Ängste; das stimmt aber nicht, all das würde sich bald aus Waffen entladen, das hier war nur eines: Jubel über eine wichtige Führung.

Die Fackeln wurden angezündet, roter Rauch stieg über den Rängen auf, ich zog den neuen Schal höher übers Gesicht. Um uns grölten und jubelten Menschen, fast ausschließlich Männer, junge Kerle, Vokuhilas, Kippen, Fäuste.

Im Mittelfeld wirbelte Prosinečki die Bayern immer wieder durcheinander, sein hellblonder Schopf wie eine kleine Sonne, die über dem Gras auf- und niederging (wenn ein Gegenspieler sich nicht anders zu helfen wusste). Ein Jugoslawe wie ich: Mutter Serbin, Vater Kroate. Die hochsitzenden, kurzen Shorts. Die bleichen Beine.

Hinten machte Refik Šabanadžović die Räume eng, ein Bosnier, stämmig, aber schnell. Mein Lieblingsspieler lümmelte vor dem gegnerischen Strafraum herum, immer scheinbar schläfrig, immer leicht vorgebeugt, die Schultern hochgezogen, als ginge es ihm ausgerechnet heute nicht so gut: Darko Pančev, der mazedonische Stürmer, Torschütze im Hinspiel, die krummsten Beine des Universums.

Was für eine Mannschaft! So eine wird auf dem Balkan wahrscheinlich niemals wieder möglich sein. Zu jung wechseln die Spieler in reichere Länder. Und nachdem Jugoslawien auseinandergebrochen war, entstanden in jedem neuen Staat neue Ligen, keine auch nur annähernd so stark wie die jugoslawische.

Bayern glich Mitte der zweiten Halbzeit aus. Ein Augenthaler-Freistoß, der Ball rutschte Stojanović unter den Händen durch. Belodedić – unser rumänischer Vorstopper (serbische Minderheit) – tröstete seinen Kapitän auf dem Boden.

Vater wurde sofort unruhig, weil die Spieler sofort unruhig wurden....

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