Liebe ist, die Kontrolle abzugeben
Sich wirklich auf die Liebe einzulassen und es zu wagen, ihr wirklich Gestalt zu geben, ist unsere großte spirituelle Herausforderung. Die Liebe fordert Hingabe, Loslassen und die Bereitschaft, in die Tiefen des wahren Selbst hinabzusteigen. Doch den echten Sprung wagen viele von uns lieber nicht. Die meisten Menschen nehmen wohl Optionen auf die Liebe wahr, doch wenn es hart auf hart kommt, losen sie sie meistens nicht ein.
Haufiger weichen sie nach der ersten Phase der Verliebtheit vor der eigentlichen Aufgabe zuruck. So habe ich einen Freund, der die Funfzig schon hinter sich und die Liebe noch immer nicht gefunden hat. Oh, sicher, er verliebt sich jedes Jahr mehrmals, und jedes Mal ist er absolut sicher: Das ist sie jetzt! Dann beginnt die Eroberungsphase: Im ersten Monat unternimmt er ab und zu - nicht zu oft - etwas Schones mit ihr und tastet erst einmal alles ab. Im zweiten Monat offnet er sein Herz ein wenig mehr und verreist fur eine Woche mit ihr.
Doch sobald die Frau "angebissen" hat und erkennen laßt, daß sie die Ge- fuhle erwidert, zuckt er zuruck. Wenn er wieder zu Hause ist, kommen dann immer die Zweifel und die Rationalisierungen: "Ich weiß ja nicht; ich brauche eigentlich eine Frau, die mehr ein eigenes Leben hat." Oder: "Ich brauche doch eine Frau, die nicht ganz so eigenstandig ist." Oder: "Diese Frau ist zu emotional fur mich." Oder: "Ich habe nicht das Gefuhl, daß ich unter allen Um- standen bei ihr sein will, und ich finde, das ist kein gutes Zeichen." Oder, und damit enden fast alle seine vielversprechenden Liebesaffaren: "Ich bin doch eher dazu geschaffen, alleine zu leben." Er glaubt tatsachlich, daß es sein Man- gel an Gefuhl fur diese Frauen ist, weshalb er Abstand nimmt; und ist sich nicht bewußt, daß es in Wirklichkeit seine Angst vor Nahe und vor der Konfrontation mit seinen tieferen Schichten ist, weshalb er die Liebe stets wieder von sich stoßt.
Wenn das Herz gefordert ist, sich wirklich zu offnen, machen viele von uns einen Ruckzieher.
Es ist gar nicht so verwunderlich, daß viele Menschen es in der Liebe lieber bei Worten, Gefuhlen oder Traumereien belassen. Liebe - und vollige Liebe, die dann auch noch wirklich erwidert wird - erfordert es, die Kontrolle aufzu- geben, die Angst vor der Ausloschung loszulassen und sich selbst zu verlieren. Die Liebe stellt - nicht anders als der Tod - ein unleugbares Risiko dar: die vollige Verbannung in das Unbekannte. In Zwillingsseelen von Joudry und Pressman gibt es dazu eine schone Stelle. Sie beschreibt den Traum einer Frau, die gerade der Liebe ihres Lebens begegnet ist. "Ich laufe uber eine schmale Brucke, die auf der einen Seite beginnt nachzugeben. Ich ahne, daß ich fallen werde. Ich schaue nach unten und sehe, daß es ein tiefer Fall wird; ich habe Angst, mich zu verletzen. Da sagt eine Stimme: 'Fall nicht! Spring!' Die Brucke bricht; ich springe, und mein Korper bleibt aufrecht. Ich spure Hande von Engeln unter mir, die meinen Fall abbremsen und mich in eine scheinbar unergrundliche Tiefe geleiten. Ich lande sanft auf meinen Fußen und sehe, daß ich ein Buch in meinen Handen halte. Ich schlage es auf und entdecke, daß es die Geschichte meines Lebens ist."
Die Liebe ist ein freier Fall ohne Fallschirm, ohne Garantien oder Sicherheiten. Sie bietet keinen Weg zuruck, sie ist alles oder nichts...