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Das traumatisierte Gedächtnis - Schutz und Widerstand

Wie sich traumatische Belastungen in Körper, Seele und Verhalten verschlüsseln und wieder auffinden lassen

AutorAmrei Kluge, Renée, Sabine Hampf, Salina Magdalena Centgraf, Thomas Haudel, Wiebke Bruns, Winja Lutz
VerlagLehmanns Media GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl242 Seiten
ISBN9783865419866
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Über traumapsychotherapeutische Methoden wurde schon viel geschrieben. Bisher wurde jedoch kaum erforscht, wie sich psychodynamisch traumatische Vorfälle seelisch abbilden, in Symptomen des Körpers und in mentalen Abbildern codieren - obwohl dieses Thema überaus spannend ist! Wie werden seelisch belastende Daten abhängig vom Alter, der Grausamkeit des Vorfalls oder der Kumulation schrecklicher Ereignisse vom Menschen gespeichert und zusammengefasst? Welche Varianten der Erinnerung stellen uns der Körper, die seelische Mentalität und das menschliche Gedächtnis zur Verfügung? Wie lassen sich verschlüsselte Daten später therapeutisch effektiv - und emotional verträglich - abrufen und entschlüsseln? Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von theoretischen und praktischen Beiträgen, die von psychotherapeutisch tätigen Kollegen und von betroffenen Klienten gleichermaßen verstanden werden können. Die anschaulichen Fallbeispiele sind darüber hinaus für alle interessant, die die Logik und Widersprüchlichkeit des Unbewussten spannend miterleben wollen.

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Leseprobe

1  Theoretische Vorbetrachtungen


1.1  Zeitgeist und Traumagedächtnis


Ralf Vogt

Der Zeitgeist beeinflusst in hohem Maße das alltagspsychologische und psychotherapeutische Denken (vgl. Vogt, 2012, S. 13-15 und Vogt, 2014, S. 6-12). Grund dafür ist meines Erachtens erstens der Stand der relativ jungen Wissenschaftsdisziplin Psychotherapie, in der notwendigerweise viele sich widersprechende Konzepte praktiziert werden und die Kristallisation einer relativ klaren allgemeingültigen, breit akzeptierten Lehrmeinung noch in weiter Ferne liegt. Zweitens wird Psychotherapie in der traditionellen Betrachtung eher als „weiche“ Wissenschaft – im Gegensatz etwa zur Physik oder Medizin – angesehen, obwohl auch diese Wissenschaftsdisziplinen essenzielle Probleme ihres Gegenstandsspektrums, wie die Problematik der Schwarzen Löcher bzw. der Krebsbehandlung, noch nicht lösen konnten. Selbst einem Wetterbericht – mit einer maximalen Treffsicherheitswahrscheinlichkeit von ca. 3 Tagen – vertrauen viele Menschen mehr als einer psychologischen Expertise, an welche man obendrein noch größere Ansprüche stellt und menschliche Verhaltensprognosen mit monatelanger, wenn nicht sogar jahrelanger Gültigkeit erwartet. Warum ist das so? Die meisten Menschen nehmen in Anspruch, über ihre Psyche, ihre innerseelischen Vorgänge mit Motiven, Gefühlen, Denken und Verhalten irgendwie ausreichend Bescheid zu wissen. Vielleicht gemäß einem abgewandelten Decartes-Motto: Ich denke – also weiß ich Bescheid! Oder: Ich vermute – also bin ich! Aber Spaß beiseite. Wir betreten vermintes Gelände. Die Psyche ist ein sensibles Ding, da lässt sich niemand mal schnell etwas sagen. Im Gegensatz zum Arzt oder Naturwissenschaftler, bei welchem die Mitmenschen unserer Zeit schnell gläubig werden.

Bei Auffassungen über die Psyche und ihre Qualitätseigenschaften wie etwa eine Gedächtnisleistung oder Persönlichkeitshaltung steht offenbar mehr das persönliche Selbstkonzept eines jeden auf dem Spiel. Beim Arzt kann man sich in der Regel eine Kritik zur Lebensführung eher ruhig anhören, wie: Dann schälen wir eben künftig die Gurken ab, wenn die Schale industriell gespritzt ist. Kein Problem, die Gurke bleibt im Wesentlichen erhalten. Damit kann man leben, wenn man kein Meerschweinchen ist und sich gerade auf die Schale gefreut hat.

Bei psychologischen Rückmeldungen zur seelischen Verarbeitungskapazität wird die angesprochene Person schnell ungläubig, distanziert, ärgerlich – oder einfach sofort gegenteiliger Meinung sein, weil: Es so ist, und basta! Das heißt, psychologische bzw. psychotherapeutische Hinweise treffen auf eine Form von Halbwissen, welches im Selbst- und Weltbild häufig sofort und vehement verteidigt werden muss. Es geht schließlich um unbewusste Prozesse, und wenn man da nicht Bescheid weiß, bekommt man eine ärgerliche Angst und möchte plötzlich alles so lassen, wie es war, um keine Unruhe zu erleben. Ebenso schnell belastet fühlt sich eine Reihe von Kollegen, wenn sie den Eindruck haben, dass das Ansehen des verdienten Pioniers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, infolge der modernen Traumaforschung objektiv unheilbaren Schaden nehmen könnte.

Im Bereich von Technik ist so eine emotionale Stagnationssehnsucht unvorstellbar. Wer möchte heute noch wirklich im ersten Personenkraftwagen von Carl Benz wie vor über 100 Jahren sitzen? Wer käme als Techniker auf die traurige Interpretation, dass wir, wenn wir einfach neue Autos bauen, das Erbe von Carl Benz ignorieren bzw. traditionell Bewährtes einfach übergehen würden? Der Zeitgeist in der Psychoanalyse und Psychotherapie ist da manchmal viel stärker dem Bisherigen verhaftet. Das Festhalten an konservativen Normen hat auch Einfluss auf unser Schulendenken in der Psychotherapie. Und das wiederum beeinflusst auch die schleppende Übernahme traumatherapeutischer Konzepte; es mangelt an Forschung in der tiefenpsychologisch-analytischen Psychotherapie überhaupt und somit beschäftigt man sich bisher auch nur unzureichend mit der Untersuchung von traumatisch geprägten Gedächtnisproblematiken und deren methodenpsychologischer Lösung. Der Zeitgeist, sich nicht mit der Furcht vor dem unbekannten traumatischen Unbewussten, mit dissoziierten Erinnerungsgegenständen zu befassen, hatte auch Sigmund Freud erfasst, als er sich 1897 – nach knapp 2 Jahren der Postulation der Traumahintergrund-Hypothese für schwere psychische Störungen (Verführungstheorie Freuds 1895-1897, vgl. Hirsch, 2004 sowie Vogt, 2004, S. 35-39) – davon abwandte und die Fantasiehypothese als wichtigere Erklärung für gewaltsame, traumatische sexuelle Übergriffe an Kindern an die erste Stelle schob.

Jennifer Freyd (1994) untersucht seit Jahren das Trauma des Verrats, welches durch gewaltsame bzw. bloßstellende Übergriffe von wichtigen Bindungs- und Bezugspersonen bei den Opfern entsteht. Ein Resümee dieser Auseinandersetzung besteht darin, dass der Verrat gerade von an sich liebenswerten Menschen die tiefsten seelischen Narben hinterlässt und dass auch im Bereich der Psychotherapie- und Universitätsstrukturen der Verrat ein ernst zu nehmender Faktor ist. Das hat auch Jeffery Masson (1986) belegend abgehandelt (vgl. Vogt, 2014, S. 52-61).

Demnach kann sowohl bei Menschen im Alltag als auch bei Psychotherapeuten im Besonderen angenommen werden, dass es für das konservative Fixiertsein und das Nichtrütteln-Wollen am eigenen Selbsterfahrungsdefizit – neben allen anderen charakterlich blinden Flecken – tiefere unbewusste/dissoziierte Gründe geben dürfte.

Hiervor ist auch die breite Medienlandschaft nicht gefeit, die in unserer schnelllebigen Welt immer größeren Einfluss als Bildungsquelle erlangt.

So wurde im deutschen Fernsehkanal „3sat“ im bekannten Wissenschaftsjournal „Scobel“ am 22.09.2016 und am 30.03.2017 gleich zweimal im kurzen Abstand der Beitrag „Das getäuschte Gedächtnis“ ausgestrahlt. Kern dieser je 45-minütigen Sendung waren einseitige Beiträge der Vertreterin der False Memory Syndrom Foundation, Loftus (USA), sowie Argumentationen des Forschungsshootingstars Shaw (GB) zur Gedächtnismanipulationsforschung sowie Diskussionsbeiträge von Steller (BRD) als Aussagen- und Gerichtspsychologe. Tenor dieses sehr tendenziösen TV-Beitrages war die Intention, Belege dafür zu liefern, dass das Gedächtnis des Menschen sehr unzuverlässig sei und durch Einflussnahme von Befragern, d. h. auch Psychotherapeuten, schnell manipuliert werden könne. Eine kurze Gegenhypothese von Ulrich Sachsse im Journalbeitrag konnte an diesem Tenor wenig ändern.

Mit den unwissenschaftlichen Studien der False Memory-Bewegung und den unzulänglichen Ausweitungen der Aussagenpsychologie auf Felder der klinischen Psychotraumatherapie beschäftigen sich auch Lutz in diesem Band sowie unser Forschungsbeitrag im späteren Kapitel dieses Buches. Mir geht es in diesem Abschnitt vorrangig um den Zeitgeist der journalistischen Redaktion, die gerade diesen Beitrag einseitig in Auftrag gab bzw. den angebotenen Beitrag eifrigerweise gleich zweimal im Zeitraum von nur sechs Monaten ins Programm nahm. Vergleichbare kurzfristige Wiederholungen sind mir in der ansonsten häufig niveauvollen Themenauswahl nicht so geläufig. Es muss also etwas mit dem Zeitgeist dieser ansonsten breit aufgestellten Redaktion zu tun haben.

Es ist wahrscheinlich plausibler, dem traumatisch fragmentierten und therapeutisch wieder herzustellenden Gedächtnis inhaltlich nicht zu glauben als umgekehrt. Wie ich eingangs hervorhob, werden durch den traumaskeptischen Zeitgeist die Opfer zweimal verraten: Einmal durch den fehlenden Schutz und Beistand der Umwelt gegenüber den Opfern während und nach dem Gewaltverhalten der Täter. Und zum Zweiten aufgrund der geringen Unterstützung der Umwelt bei der Aufarbeitung sowie durch die tendenziöse Unterstellung von krankhafter Fantasie, die angeblich am Werke sei, wenn Traumainhalte später therapeutisch rekonstruiert werden – Unterstellungen durch nicht psychotraumatologisch geschulte Fachleute und Gerichte im Rahmen juristischer Prozesse.

Es sollte nicht vergessen werden, dass gerade wir in Deutschland transgenerational durch zwei Weltkriege nicht nur als Opfer, sondern auch als Tätervolk mehrfach geprägt sind und Psychotraumatherapie in den vorherigen Generationen nie eine Rolle spielte bzw. in Erziehung und Bildung in der militanten Zeit nicht spielen durfte! Das Bagatellisieren von seelischem Leid beim anderen und das vehemente Wegschieben von eigener Betroffenheit sehe ich mit meiner 30-jährigen Berufserfahrung als dominierenden Zeitgeist in unserem transgenerational verlorenen Mutter- und gefürchteten Vaterland an (vgl. Mitscherlich u. Mitscherlich, 1977; Moser, 2010 u.a.).

1.2  Der Mangel an klinischer Theorie zum Traumagedächtnis


Ralf Vogt

Wie oben in der Einführung des Buches erwähnt, gibt es außer interessanten Fallberichten von Kollegen (vgl. Reddemann, 2001; Hochauf, 2007) leider wenig Aussagen dazu, wie sich das durch zwischenmenschliche Gewalt geprägte und damit zumeist dissoziative Gedächtnis eigentlich strukturiert, konserviert und therapeutisch verändern lässt. Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten zur Gedächtnispsychologie betreffen die Grundlagenforschung der Allgemeinen Psychologie.

Hier wird in der Regel das gesunde, allgemeine, durchschnittliche, repräsentative Gedächtnis in seinen Funktionen untersucht. Wie viele Gegenstände kann man sich merken? Wie lange sind die Objekte im Kurz- oder Langzeitgedächtnis gegenwärtig? Wodurch wird die Gedächtnisspeicherung erleichtert oder behindert? So interessant diese Ergebnisse auch sein mögen,...

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