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E-Book

Das Traumjob-Experiment

30 Jobs in einem Jahr

AutorJannike Stöhr
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl269 Seiten
ISBN9783732523672
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Dieser sehnsüchtige Blick aus dem Fenster, wenn einmal mehr der Kollege nervt, der PC abstürzt, der Alltag langweilt, und man sich fragt, ob man nicht besser Surflehrer geworden wäre. Oder Biobauer.

Jannike Stöhr hat genug vom Träumen und testet innerhalb eines Jahres dreißig Jobs. Sie ist Freizeitparkbetreiberin, Pathologin, Hebamme, lernt Menschen kennen, die ihrem Job mit Leidenschaft nachgehen. Sie nimmt den Leser mit auf ihre Reise, begleitet von Zweifeln, Überraschungen, Durchhängern und Erfolgen. Was sie findet, ist viel wertvoller als das, was sie gesucht hat. Manchmal braucht es nur den Mut, loszulassen, dann geschieht der Rest von ganz alleine.

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Leseprobe

1


Erzieherin


Gleich am ersten Tag komme ich angepisst nach Hause. Etwas naiv hatte ich angenommen, jetzt würde alles anders werden. Nun ja, etwas anders ist es schon. Dieses Mal ist es nämlich wörtlich zu nehmen.

Um einen ersten Erfolg verbuchen zu können, starte ich mit einem leichten Job und nehme die Einladung von Julia, der Schwägerin einer ehemaligen Arbeitskollegin, an, eine Woche als Erzieherin in einer Kindertagesstätte in Lehrte bei Hannover zu verbringen. Mit Ein- bis Dreijährigen sollte ich klarkommen.

Am Sonntagabend reise ich an. Couchsurferin Susanne ist im Alter meiner Mutter und wohnt in einem rund zwanzig Kilometer entfernten Nachbarort. Ich bin ihr erster Gast, und es soll mir an nichts fehlen. Sogar ein eigenes Zimmer habe ich bekommen. Gemeinsam mit ihren Freunden verfolgen wir auf dem Sofa vor dem Fernseher, wie Deutschland Weltmeister wird. Ob mein Vater sich über den Sieg gefreut hätte?

Immer wieder schrecke ich in der Nacht hoch. Werde ich den Weg finden und pünktlich sein? Sind die Kollegen nett und nehmen mich gut auf? Werden sie mich an ihrem Arbeitsalltag teilhaben lassen? Ob eine Woche ausreicht, um ein Gefühl für den Job zu bekommen? Um sechs Uhr erlöst mich der Wecker. Als ich leise die Tür hinter mir schließe, befinden sich Hausschuhe in der Tasche, die ich auf Wunsch von Kita-Leiterin Jennifer Müller* mitgebracht habe. Die Vorstellung, wie ich mit Hausschuhen in meinem alten Büro sitze, lässt mich schmunzeln.

Ich schwinge mich auf das Fahrrad, das mir Susanne am Vorabend zur Verfügung gestellt hatte. Ein Feldweg führt mich vorbei an Kornfeldern zum örtlichen Bahnhof, der Sonnenaufgang kann noch nicht lange her sein. So schön still. Der Zug bringt mich nach Lehrte, von dort fahre ich die letzten Kilometer mit dem Fahrrad zur Kita. Zwanzig Minuten vor Arbeitsbeginn komme ich an einer Krippe an. Allerdings nicht bei der Kita, in der man mich diese Woche erwartet, das verrät mir das Türschild. Mist. Trotz alledem schaffe ich es, pünktlich am verabredeten Ort zu sein. Ich erkenne das Gebäude von einem Foto im Internet wieder.

Ich rüttle an der verschlossenen Tür, klingle. Nichts passiert. Eine Mutter mit kleinem Kind kommt auf mich zu und verrät mir das Geheimnis: Gleichzeitig auf Schalter und Tür drücken. Die Mutter übernimmt, als ich es trotz Anleitung nicht hinbekomme, und bringt mich zu Hindernis Nummer zwei, einem Flurgitter. Ähnlich unvermögend scheitere ich am Öffnen und lasse der jungen Mutter den Vortritt. Wie soll meine Woche nur werden, wenn ich bereits am Eingang kläglich scheitere? Was habe ich mir überhaupt gedacht? Ich gehöre nicht in die freie Wildbahn des Arbeitsmarktes, ich gehöre in ein Büro. Ein Büro, für dessen Tür ich einen Schlüssel habe, mit einem Schreibtisch, Computer, Telefon und zwei Mülleimern, der eine für Papier, der andere für Restmüll. Dort finde ich mich zurecht. Dort kann ich zeigen, was ich kann.

Ein Wand-Tattoo empfängt die Besucher der Kita hinter der Eingangstür. Es ist ein Zitat von Reformpädagogin Maria Montessori: »Der Mensch ist darauf ausgelegt, neugierig die Welt zu erkunden.« Lauter kleine Bänke stehen ringsum an den Wänden des Flurs, über ihnen Regale und Kleiderhaken für die Jacken und Schuhe der Kinder. Namensschilder geben ihre Besitzer bekannt.

Wie bei Besichtigungen frisch renovierter Wohnungen stehen hier Einwegüberzieher in einer Kiste für die Eltern bereit. Keine Straßenschuhe in den Aufenthaltsräumen.

Wo soll ich mich eigentlich melden, frage ich mich und schaue mich unschlüssig um. Der Himmel schickt Praktikantin Hannah um die Ecke. Sie ist in der Ausbildung zur Sozialassistentin und schon seit fast einem Jahr blockweise in der Kita. Kurz darauf kommt auch die Kita-Leiterin hinzu. »Sie sind also Jannike!«, begrüßt mich Frau Müller und nimmt mich mit auf einen Rundgang. Es gibt zwei Etagen. Unten Krippe, oben Kindergarten. Neben zwei Spielräumen, einem Badezimmer, der Personalküche und einem Gäste-WC gibt es in der Krippe auch einen Schlafraum. Lauter kleine Betten oder Körbe sind darin zu finden. So muss sich Schneewittchen gefühlt haben, als sie das Haus der sieben Zwerge betrat. Zu den Räumen des Kindergartens gibt es in der ersten Etage noch eine Cafeteria und ein Sportzimmer. Diese beiden Räume werden von den Krippenkindern mitgenutzt. Für mich geht es diese Woche zu Praktikantin Hannah in die Eichhörnchengruppe. Die Gruppenleiterin ist krank, deswegen übernimmt Frau Müller zusätzlich die Betreuung. Im Spielraum rennen ruck, zuck elf schreiende Kinder im Alter von eins bis drei quer durch den Raum und wieder zurück. Zumindest der Teil von ihnen, der schon laufen kann.

Hannah läutet den Sitzkreis ein. Ein Kind darf beim Aufbauen der Kreismitte helfen. Durchsichtige Tücher in verschiedenen Farben werden übereinandergelegt, auf sie ein Eichhörnchen aus Pappkarton sowie eine elektrische Kerze. Hannah stimmt das »Eichhörnchen-Lied« an, das jeden Morgen zur Begrüßung gesungen wird. Danach ist Wunschkonzert. »Mein großer, mein runder, mein blauer Luftballon steigt höher und höher, er fliegt mir fast davon« singen Hannah und die Kinder, während sie mit ihren Händen den Luftballon darstellen. Reihum dürfen sich die Kinder die Farbe ihres eigenen Luftballons aussuchen. Nach der ersten Farbe stimme ich zaghaft in das Lied mit ein.

Hannah singt gut – und hoch. In den hohen Lagen bricht meine Stimme immer wieder weg. Einen Job als Sängerin sollte ich besser nicht in Erwägung ziehen. Ich setze darauf, dass mich die Kinder trotzdem mögen und die Erzieherinnen mein Gekrächze aus den Kinderstimmen nicht heraushören können.

Die Kinder verteilen sich im Raum. Jetzt darf gespielt werden. Meine Hemmschwelle im Umgang mit den Kindern ist höher als erwartet. Ich versuche es in der Bücherecke. Ein Buch sollte ich doch vorlesen können. Das erste Kind setzt sich auf meinen Schoß. Ein wenig befremdlich. Ein weiteres Kind schmiegt sich an meinen Arm. Es hat Schnupfen. Ich will meinen Arm wegziehen, aber ich widerstehe meinem ersten Reflex und lese weiter. Nach und nach verlassen mich die Kinder, bis ich schließlich alleine zurückbleibe. Ich bin ihnen wohl zu langweilig. In meiner Vorstellung war ich die ganze Woche über von Kindern umringt, einfach nur weil ich als Neue spannend bin. Aber ganz so leicht scheint das nicht zu funktionieren.

Plötzlich wird es laut, also noch lauter, und ein kleines Handgemenge artet in der ersten Schreierei aus. Julia hat geschubst! Was nun? Ich bin ratlos. Soll ich das schubsende Kind zurechtweisen, das heulende in den Arm nehmen? Leon wischt sich seinen Schnodder mit einer gekonnten Handbewegung bis zur Schläfe hinauf. Ein Glück, das erspart mir das Naseputzen, für das ich hier bestimmt verantwortlich bin.

Die Zeit vergeht im Schneckentempo. Um neun Uhr ist endlich Frühstückszeit. Ich nehme das dicke Kind, das noch nicht laufen kann, auf meinen Arm und folge den Erzieherinnen und den anderen Kindern die Treppe hoch Richtung Cafeteria. Die Benutzung des Handlaufs ist für alle Pflicht. Dass aber auch immer wieder jemand zeigen muss, dass er es schon alleine kann. Wir haben alle Hände voll zu tun.

Jeden Tag der Woche gibt es etwas anderes zum Frühstück, von Müsli über belegte Brote hin zu von den Kindergartenkindern selbstgebackenen Quarkbrötchen. Heute ist Müsli-Tag. Ich sitze zwischen den beiden Kleinsten, beide knapp über ein Jahr alt. Sie treffen beim Essen noch nicht zuverlässig den Mund mit dem Löffel. Ich helfe, wo ich kann, bin allerdings nicht schnell genug, zwei hungrige Mäuler gleichzeitig zu versorgen. Die Milchlache auf dem Tisch breitet sich immer weiter aus, das Müsli landet auf der Hose, im Hochstuhl und unter dem Tisch. Gibt es nicht schnell genug Nachschub, behelfen sich die beiden Jungs mit der Hand und stecken in den Mund, was sie kriegen können. So verteilen sich die Haferkörner im Nu im Gesicht und in den Haaren. In meinem Aufsichtsgebiet sieht es aus wie in einem Schweinestall. Nach dem Frühstück bringt jeder seinen Teller zurück zum Geschirrwagen und leert die Reste in einem dafür vorgesehenen Mülleimer aus. Lena ist fix und dreht ihren Teller um, die Müsli-Reste landen auf dem Boden. Frau Müller grinst. »Das passiert schon einmal«, sagt sie und zwinkert mir zu.

Wieder unten angekommen, nehme ich den Kindern die Lätzchen ab und ziehe ihnen Schuhe und Jacken an. Wir dürfen jetzt draußen spielen! Währenddessen werden einige Kinder von Frau Müller gewickelt. Wickeln darf ich nicht. Die Kita-Leiterin legt großen Wert darauf, dass sich die Kinder beim Wickeln wohl fühlen. Deswegen gibt es für das Wickeln zwei Regeln: Das Kind muss die wickelnde Person kennen, und man muss genügend Zeit einplanen, damit keine Hektik aufkommt. Ich bin nicht allzu traurig, dass diese Aufgabe an mir vorübergeht.

Ein Kind nach dem anderen entlasse ich nach draußen zum Spielen. Als ich fast fertig bin, fällt mir der nasse Fleck auf meinem Oberschenkel auf. Aha. Offensichtlich hat mich eines der Kinder angepinkelt, während es auf meinem Schoß saß und die Schuhe angezogen bekam. Nur welches? Ich mache mich auf die Suche, denn logischerweise hat das Kind nicht nur mich, sondern auch sich selbst vollgepinkelt und braucht eine neue Hose. Ich finde es nicht. Eine Erzieherin sieht die Misere und sprüht meinen Schritt großflächig mit Desinfektionsspray ein. Mittlerweile könnte man denken, ich habe mich selbst eingenässt. Leider habe ich für meine Verabredung am Abend nur ein Ersatz-T-Shirt eingepackt, keine Ersatzhose. Na, es hätte schlimmer kommen können.

»Oh, schauen Sie, Jannike, Mirco hat eine Schnecke gefunden. Passen Sie bitte...

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