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Zum Hass verführt

Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können

AutorDörthe Nath, Thomas Mücke
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl255 Seiten
ISBN9783732523689
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Was geht in jungen Menschen vor, die von Deutschland aus in den Dschihad ziehen? Und wie kann man ihnen helfen, aus einem menschenverachtenden Milieu wie dem Salafismus herauszufinden?

Thomas Mücke leitet eine der wichtigsten Anlaufstellen, die mit ausreisegefährdeten Jugendlichen und Rückkehrern aus Kriegsgebieten arbeiten. Hier präsentiert er Geschichten von Jugendlichen, die sich radikalisiert haben. Er erläutert die Gründer der Radikalisierung und zeigt Lösungswege auf. Sein Fazit: Nur wenn wir bereit sind, uns mit den jungen Menschen auseinanderzusetzen, haben wir gegen den zunehmenden Extremismus eine Chance.

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Leseprobe

Prolog
»Die ist in der Hölle«


Mitten in der Nacht klingelt mein Telefon. Ich gehe ran. Um diese Uhrzeit kann es nur etwas Dringendes sein.

Am anderen Ende: eine Frauenstimme. Schluchzen.

»Ich rufe wegen meiner Tochter an, weiß aber gar nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin«, sagt sie unsicher.

»Schauen wir mal, ob Sie hier richtig sind«, gebe ich ruhig zurück. »Was ist denn mit Ihrer Tochter?«

»Ich glaube, meine Tochter ist in Syrien …«

»Dann sind Sie bei mir richtig!«

Das Schluchzen lässt etwas nach, und die Frau beginnt zu erzählen.

Ihre Tochter ist vierundzwanzig Jahre alt, hat zwei Ausbildungen abgebrochen.

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Jetzt ist sie weg, und ich habe einfach keine Ahnung, was ich tun soll.«

»Woher wissen Sie denn, dass sie in Syrien ist?«

»Ich habe eine Nachricht aufs Handy bekommen: ›Liebe Mama, ich bin in Syrien, mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.‹«

Sie macht eine Pause, schluckt, unterdrückt die Tränen.

»Mir keine Sorgen machen – wie soll das gehen? Die ist in der Hölle – da herrscht doch Krieg.«

Es ist schwer, jemanden zu beruhigen, der so verzweifelt ist. Eine Mutter, die furchtbare Angst hat, dass sie ihre Tochter nicht mehr lebend wiedersehen könnte.

Das ist einer von vielen Anrufen, die mich erreichen. Getätigt von Vätern und Müttern, die emotional völlig aufgewühlt sind, die versuchen, irgendwo Halt zu finden. Ihre Not ist oft so groß, dass sie die Uhrzeit völlig vergessen.

Extremistischer Salafismus, Dschihad, »Islamischer Staat«, abgeschlagene Köpfe, Selbstmordattentäter in Paris, blanker Hass und blinde Zerstörungswut: Wie eine schaurige Filmmusik begleiten die Bilder und Meldungen in den Nachrichten unseren Alltag. Man hört davon, liest darüber – aber man kann es nicht wirklich begreifen.

Und am rätselhaftesten erscheint es, dass viele der Kämpfer, die diese Gräueltaten anrichten, sich mitten in unserer Gesellschaft radikalisiert haben, bevor sie dann schlimmstenfalls als »Foreign Fighters« in Syrien und im Irak Menschen umbringen oder Anschläge in Europa verüben.

Zum Jahresende 2015 zählte der deutsche Verfassungsschutz 760 Männer und Frauen, die aus Deutschland zur Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates ausgereist sind.

Ein Leben jenseits von Hass und Gewalt


Ich beschäftige mich seit fünfundzwanzig Jahren als Sozialarbeiter und Pädagoge mit radikalisierten Jugendlichen. In dieser Zeit habe ich einen Erfahrungsschatz angehäuft, der mir dabei hilft zu verstehen, wie junge Menschen in diese Szenen abrutschen können, durch den ich aber auch weiß, wie sie sich aus den extremistischen Milieus wieder lösen können – was sie brauchen, um ein eigenverantwortliches Leben jenseits von Hass und Gewalt zu führen.

Der nächtlichen Anruferin kann ich zumindest eine große Sorge nehmen. Denn in der Regel sind die jungen Frauen aus Deutschland, die freiwillig nach Syrien gehen, um sich dort dem »Islamischen Staat« anzuschließen, nicht an der Front. Sie werden nicht als Kämpferinnen rekrutiert, sondern als Ehefrauen.

Ich spreche leise und bedächtig mit ihr. In solch einem ersten Telefonat geht es vor allem darum, Ruhe reinzubringen. Ich frage sie, ob sich ihre Tochter verändert habe in den letzten Monaten. Sie erzählt, dass das Mädchen plötzlich einen Schleier trug. Und das, obwohl sie mit Religion generell nie viel am Hut hatte – geschweige denn mit dem Islam. Plötzlich betete sie fünf Mal am Tag, aß kein Schweinefleisch mehr, trank keinen Tropfen Alkohol. Vorher war sie gern auf Partys gegangen, hatte sich mit ihren Freunden getroffen, kam auch schon mal betrunken nach Hause. Und auf einen Schlag wollte sie dann von ihren alten Freunden nichts mehr wissen und brach alle Kontakte ab.

»Das war so ein enormer Sinneswandel in so kurzer Zeit, das habe ich gar nicht verstanden.«

»Haben Sie ihr das gesagt?«

»Ja klar. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir Sorgen darüber mache, wie sehr sie sich verändert habe, und dass sie mir Angst mache. Aber sie hat das abgeblockt. Ich bin gar nicht mehr an sie rangekommen. Wie eine Fremde war sie.«

»Hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

»Nein. Aber ihr Koran lag auf dem Schreibtisch, aufgeschlagen – da hatte sie eine Stelle markiert. Ich dachte erst, dass sie bei einer Freundin ist. Als sie dann die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen ist, hab ich in ihren Schrank geguckt – da fehlten der Koffer und ein paar von ihren Klamotten.«

Die Mutter ist alleinerziehend und mit der Situation überfordert.

Immer wieder habe sie ihre Tochter in Syrien angerufen, sie angefleht: »Bitte komm zurück.« Bis diese irgendwann nicht mehr ans Telefon gegangen sei und sie nur noch Männerstimmen im Hintergrund gehört habe.

Hätte die Mutter sich früher bei mir gemeldet, dann hätte ich ihr davon abgeraten, so häufig anzurufen. Jeder Anruf, jede SMS kann die Tochter in Gefahr bringen, und sie können – wie in diesem Fall – dazu führen, dass der Kontakt abbricht, dass dieser seidene Faden, an dem sie ihre Tochter vielleicht wieder hätte zurückziehen können, abreißt.

Tatsächlich sind bei Frauen, die nach Syrien ausreisen, die Chancen gering, dass sie zurückkehren. Diese Mutter hat also in jeder Hinsicht zu spät Unterstützung erhalten. Das ist ihr jedoch nicht anzulasten, denn sie ahnte schlicht nichts von Hilfsangeboten, sie hat meine Nummer erst zufällig im Internet gefunden, als ihr auch die Polizei nicht weiterhelfen konnte und sie vor Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste.

Umso wichtiger, ihr zuzuhören und für sie da zu sein.

Man kann sich vom Hass befreien


Dieses Buch soll dazu beitragen, dass mehr Menschen davon erfahren, dass es Auswege gibt, dass man verhindern kann, dass Jugendliche und junge Erwachsene so sehr in die extremistisch-salafistische Szene abrutschen, dass sie ihr Leben riskieren und sich den Verbrechern der Terrororganisation »Islamischer Staat« anschließen – dass sie sich von dem Hass, den sie in sich tragen, auch wieder befreien können.

Im Rahmen meiner Organisation Violence Prevention Network (VPN) arbeite ich seit vielen Jahren mit gefährdeten jungen Männern und Frauen in extremistischen Szenen – wir betreuen sowohl Rechtsextremisten als auch dschihadistische Islamisten. Siebzig Mitarbeiter arbeiten für VPN – vom Sozialarbeiter bis zum Islamwissenschaftler. Wir haben über die Zeit mit mehr als neunhundert Jugendlichen und jungen Menschen gearbeitet – und diesen Erfahrungsschatz möchte ich teilen.

Egal um welche extremistischen Verführungen es geht, die Lebensläufe dieser jungen Menschen sind oft von Brüchen geprägt, schulischen und beruflichen Misserfolgen, zerrütteten familiären Verhältnissen oder auch von einem kriminellen Umfeld. Diese Jugendlichen fühlen sich so gut wie immer isoliert und ausgegrenzt, haben ein geringes Selbstwertgefühl und sehen keine Perspektive innerhalb unserer Gesellschaft. Also suchen sie sich eine andere und finden sie bei Demagogen, die Hass und Gewalt predigen. Die Gemeinsamkeiten zwischen rechtsextremen und extremistisch-salafistisch radikalisierten Jugendlichen sind augenfällig: Immer wieder sind es zumeist diese sozialen und familiären Enttäuschungen, ist es das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht ausreichend akzeptiert zu werden, die den Jugendlichen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben Probleme bereiten. Eine ganz zentrale Rolle spielt die Clique, die Freunde – die »Peers«, wie das in der Sozialarbeit genannt wird. Sie können neben diesen anderen Faktoren die Identitätsfindung des Jugendlichen erheblich beeinflussen. Wer aber keine eigenständige Identität entwickelt, bei dem besteht die Gefahr der Radikalisierung. Die Identitätskrisen junger Menschen werden von der extremistischen Szene rücksichtslos für die eigenen politischen Zwecke missbraucht.

Am Anfang meiner Arbeit mit rechtsextremistischen Jugendlichen stand die Überwindung. Ich betreute damals eine Gruppe von jungen Menschen, die große Angst vor fremdenfeindlichen Schlägern hatte. Die aggressiven Jungs zur Rede zu stellen, das fiel mir nicht leicht. Aber für mich war diese Arbeit einer der wichtigsten Lernprozesse überhaupt. Ich lernte, dass die eigenen undifferenzierten Bilder den Zugang zu Menschen versperren, die durchaus noch erreichbar sind. Ich erlebte, wie Menschen sich verändern können, wenn man auf authentische Beziehungen vertraut und sich den Problemen, die hinter der Radikalisierung stehen, zuwendet. Ich konnte lernen, dass eine Haltung, die Interesse signalisiert, mehr bewirkt als eine belehrende. Ich sah, welche Gefahren von extremistischen Organisationen ausgehen, wenn wir uns diesen gefährdeten Jugendlichen nicht rechtzeitig zuwenden.

Diese Grunderfahrungen sind in meiner Deradikalisierungs-Arbeit heute immer noch von zentraler Bedeutung.

Einblick in die Welt der Extremisten


Mit diesem Buch will ich Vereinfachungen entgegenwirken und einen Einblick in die Welt radikalisierter junger Menschen geben. Ich beschreibe verschiedene Fälle, die wir mit unserer Organisation betreut haben und die die Motive der Radikalisierung junger Menschen illustrieren. Einer ist im Gefängnis, weil er sich in Syrien dem IS angeschlossen hatte. Andere haben das zwar geplant, konnten aber davon abgehalten werden, und wieder andere radikalisierten sich so stark, dass es nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre, dass sie sich vollends einer extremistischen...

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