7Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali
Einleitung
Erschöpfung, Entfremdung, Burn-out, Depression: In Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften wird häufig ein Zusammenhang zwischen unserer gegenwärtigen Gesellschaftsform und psychischen Krankheiten postuliert. Anlass dazu geben etwa die Statistiken der deutschen Krankenkassen über eine dramatische Zunahme von psychischen Störungen in den letzten Jahrzehnten ebenso wie die großen epidemiologischen Studien des Robert Koch-Instituts (Wittchen et al. 2010) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2008) zur Prävalenz depressiver Störungen. Danach ist zu erwarten, dass Depressionen in den westlichen Gesellschaften zur führenden Ursache für Behinderung und Arbeitsausfall aufsteigen und damit die kardiovaskulären Krankheiten ablösen werden.[1] Als mögliche Ursachen werden Leistungsverdichtung, Intensivierung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse, fortschreitende Digitalisierung, steigende Mobilität und vermehrter Konkurrenzdruck bei gleichzeitig zunehmender Arbeitsplatzunsicherheit genannt. Auch wenn die epidemiologischen Befunde umstritten sind und eine brisante Debatte ausgelöst haben, so ist eine zunehmende Relevanz von »Überforderungserkrankungen« in Gesellschaft und Öffentlichkeit kaum zu bestreiten.
Nun ist der in der Öffentlichkeit gebräuchlich gewordene Be8griff des Burn-out keineswegs neu. Er wurde 1974 von dem amerikanischen Psychoanalytiker Hans Freudenberger (1974) im Kontext von Helfer- und Pflegeberufen eingeführt. In Deutschland hat Wolfgang Schmidbauer (1977) das Syndrom der »hilflosen Helfer« bekannt gemacht. Das Ausbleiben von emotionaler Bestätigung bei gleichzeitig hohen Idealen, Nähe- und Wirksamkeitserwartungen führt zu chronischer Selbstüberlastung und Enttäuschung bis hin zum »Ausbrennen« der psychischen Reserven. Gerade der Enttäuschungsaspekt prädestiniert das Burn-out-Syndrom auch zur Leitdiagnose einer Gesellschaft, in der die Selbstverwirklichung in der Arbeit als besonders hohes Gut angesehen wird (Neckel/Wagner 2013). Allerdings sollte dann eher von einer Enttäuschungs- als von einer Erschöpfungsdepression gesprochen werden, wie sie mit dem Begriff des Burn-out suggeriert wird. Zumindest hat die Entstehung der Störung weniger mit einer zeitlichen Überlastung oder Arbeitsüberlastung zu tun – auch wenn diese Erklärung den Betroffenen ein Gefühl der Selbstrechtfertigung verschaffen mag – als vielmehr mit einem chronischen Missverhältnis zwischen Aufwand, Erwartung und Gratifikation (vgl. den Beitrag von Siegrist in diesem Band).
Mit der Neurasthenie wurde bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ein psychopathologisch ähnliches Syndrom beschrieben, dem eine vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit zukam (Kury 2012). Es wird bis heute im psychiatrischen Diagnosesystem ICD-10 als psychische Störung klassifiziert, während »Burn-out« nur eine Zusatzdiagnose darstellt und somit gar nicht den eigentlichen psychischen Störungen zugeordnet ist (Berger et al. 2012). Wenn nun das in der Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften breit diskutierte Phänomen des Burn-out in den professionellen Klassifikationssystemen nur einen Nischenraum besetzt, stellt sich die Frage, was sich hinter der Debatte um die Anforderungen an die Subjekte in der Gesellschaft der Spätmoderne verbirgt. Ist diese Debatte nur Ausdruck eines unspezifischen Unbehagens oder spiegelt sich in der psychischen Vulnerabilität der Individuen und in einem ökonomisch relevanten Anstieg von krankheitsbedingten Arbeitsausfällen eine reale Überforderung wider? Könnte das Burn-out-Syndrom ein Anzeichen für eine Transformation der gesellschaftlichen Anforderungen an heutige Individuen darstellen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es zunächst erforderlich, spezifische Merkma9le der zeitgenössischen Gesellschaft zu identifizieren, die zu einer Überforderung beitragen könnten.
Anforderungen an das Subjekt
Phänomene der Überforderung setzen offenbar steigende Anforderungen voraus, mit denen sich Individuen entweder konfrontiert sehen oder die sie sich selbst auferlegen. Zwischen beiden Möglichkeiten lässt sich freilich nicht scharf trennen: Für soziale Subjekte ist es nämlich charakteristisch, dass sie äußere Anforderungen häufig internalisieren, also in innere Gebote, Anpassungsbereitschaften oder auch eigene Motivationen und Wünsche umwandeln. Eine solche Internalisierung spielt, etwa im Motiv der »Selbstoptimierung«, gerade im gegenwärtigen Zeitgeist eine besondere Rolle (vgl. den Beitrag von King et al. in diesem Band). Ob nun die Anforderungen das Individuum eher von außen, von innen oder aus beiden Richtungen bedrängen – für die Überforderung ist kennzeichnend, dass es sich diesen Ansprüchen gegenüber nicht mehr als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt, sondern vielmehr als unterworfenes »subiectum« erfährt (vgl. den Beitrag von Klinger in diesem Band). Selbst internalisierte Anforderungen, mit denen sich das Individuum bislang identifizieren konnte, treten ihm nun als ein Fremdes gegenüber. Entsprechend sind Klagen über eine Entfremdung und Sinnlosigkeit des eigenen Tuns typisch für vom Burn-out betroffene Patienten. Überforderung stellt sich ein, wenn Subjekte trotz Mobilisierung aller Fähigkeiten und Ressourcen äußere und innere Anforderungen nicht mehr erfüllen können und zugleich diese Forderungen als fremd erfahren, ja sich ihnen ohnmächtig unterworfen fühlen.
Diese Vorbemerkungen sind erforderlich, wenn wir uns nun der Vielzahl von Anforderungen an das zeitgenössische Subjekt zuwenden, die in Philosophie und Sozialwissenschaften beschrieben wurden. Sie sind nie rein als solche zu beurteilen, denn es geht immer auch darum, wie sich das Subjekt diesen Anforderungen gegenüber verhält, das heißt, in welchem Maß es sich mit ihnen identifiziert, sie womöglich in Erfolge umzusetzen vermag oder aber sich als ihnen unterworfen und fremdbestimmt erlebt.
Beginnen wir mit Phänomenen der gesellschaftlichen Beschleu10nigung. Schon vor drei Jahrzehnten prägte der Kulturtheoretiker Paul Virilio (1989) für die moderne kapitalistische Gesellschaft die Bezeichnung »Dromokratie«.[2] Danach übt ihre sich fortwährend beschleunigende Dynamik bereits als solche eine Herrschaft über die Individuen aus. Sie ist charakterisiert durch eine zunehmende Auflösung des Raums und seiner identitätsstiftenden Orte, an denen man sich leiblich aufhalten und verweilen konnte. Dieser gelebte Raum löst sich auf zugunsten der ständigen Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation, aber auch von Produktion und Konsumtion, gipfelnd in der weltumspannenden Gleichzeitigkeit der virtuellen Medien- und Datenräume, in denen Bilder, Informationen oder Geldsummen in Sekundenbruchteilen über den Globus transferiert werden. Im Verlust des Raums und in der Verdichtung der Zeit liegt für Virilio das Schicksal der gegenwärtigen Kultur begründet: Entfremdung durch Geschwindigkeit, schwindende leibliche Gegenwart und zugleich »rasender Stillstand«. Die Thematik der Beschleunigung ist auch von anderen Autoren vielfach aufgegriffen worden (z. B. Geißler 1985; Han 2010; Rosa 2005).
Wie den meisten kulturpessimistischen Zeitdiagnosen wird man auch Virilios These eine einseitige Zuspitzung nicht absprechen können. Falls sie aber zumindest Entwicklungstendenzen der westlichen Welt trifft – und das wiederum lässt sich kaum bestreiten –, so sollte sich dies in einem zunehmenden Unbehagen der Individuen in dieser Kultur niederschlagen. Freilich einem Unbehagen, das weniger wie zu Freuds Zeiten in sexuellem Triebverzicht begründet ist als in Erfahrungen der Desynchronisierung, des Zurückbleibens, der Entfremdung und der Erschöpfung – auch wenn sich diese oft nur unterschwellig zu einer schleichenden Überforderung summieren. Nicht mehr das zügellose »Es«, sondern unsere leibliche Verfassung scheint sich gegen den neuerlichen Kulturfortschritt zu sträuben. Schließlich ist unser Leib mit seinen rhythmisch-zyklischen Zeiten, seiner Erholungsbedürftigkeit, seiner langsamen Fortbewegung und seiner Bindung an vertraute Umgebungen ein eher konservatives Gebilde, das mit ständiger Beschleunigung und Virtualisierung in...