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E-Book

Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Und zehn weitere Geschichten aus der Forensik

AutorErich Wulff
VerlagBALANCE buch + medien- verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783867398510
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Mehr als einhundert Schwerstverbrecherinnen und -verbrecher hat Prof. Dr. Erich Wulff in zwanzig Jahren seiner Tätigkeit als Gerichtssachverständiger begutachtet. In zehn spannenden Lebens- und Deliktgeschichten schildert er die Taten von Mördern, Totschlägern und Sexualdelinquenten - und ihre Hintergründe. Als Mensch und Psychiater interessieren den Autor die Lebensschicksale der Täterinnen und Täter. »Was für ein Kind ist dieser Mensch gewesen? Wer waren seine Eltern, seine Geschwister, seine Lehrer und seine Freunde? « Was treibt den Täter zu seiner Tat, welchen Weg hätte man selbst gewählt? Statt pauschaler Verurteilung stellt der talentierte Erzähler den Menschen in den Mittelpunkt - mit seinen Widersprüchen und Chancen, Konflikten und Kurzschlüssen, mit seinen schuldhaften Verstrickungen. Die sensibel erzählten Geschichten sind so unterhaltsam wie Krimis und aufschlussreiche Lektüre für alle, die mit straffällig gewordenen Menschen zu tun haben.

Prof. Dr. med. Erich Wulff, Jg. 1926, war Professor für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover i.R., Redaktionsmitglied der Sozialpsychiatrischen Informationen und einer der Mitbegründer der deutschen Psychiatriereform. Er verstarb 2010.

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Leseprobe

Das Geisterschiff


Achtundvierzig Stunden lang steuerte der Matrose Sergei Saitsew den großen deutschen Frachter »Susanne« von der dänischen Küste nach Norden, in der Hoffnung, einen russischen Hafen zu erreichen; von den sechs Besatzungsmitgliedern war er allein am Leben geblieben. Dann sah er, der Treibstoff reichte nicht, und kehrte um. Wieder in jütländischen Gewässern legte er in der Kapitänskajüte Feuer, raffte alles an Bord befindliche Geld zusammen, warf die beiden Rettungsinseln ins Meer und sprang auf eine von ihnen. Das Schiff geriet jedoch nicht in Brand, es tuckerte als Geisterschiff durch die Nordsee und wurde bald darauf von der dänischen Küstenwache geentert. Vierundzwanzig Stunden später entdeckte diese auch Saitsew auf seiner Rettungsinsel und brachte ihn an Land. Der Kapitän und die übrigen Besatzungsmitglieder blieben unauffindbar. Die dänische Polizei fand auf dem Schiff aber viele Blutspuren, die auf einen Kampf hindeuteten. So musste angenommen werden, dass sie von Saitsew getötet worden waren.

Für die Vorgänge auf der »Susanne« war ein deutsches Gericht zuständig. Saitsew wurde von diesem des fünffachen Mordes angeklagt und bald danach von der dänischen Justiz nach Deutschland ausgeliefert. Hier hatte ich ihn psychiatrisch zu begutachten.

Zuerst, noch in Dänemark, hatte Saitsew ausgesagt, durch ein Feuer im Schiff sei Panik entstanden, die anderen Besatzungsmitglieder hätten sich mit dem Kapitän auf eine Rettungsinsel in Sicherheit gebracht und sich um ihn nicht gekümmert. Er habe daraufhin seinen Seesack gepackt und mit der zweiten Rettungsinsel das Schiff verlassen.

Dieser Seesack war, als die Küstenwache Saitsew in ihr Boot hochhievte, ins Wasser gefallen. Der Gerettete hätte daraufhin, wie Zeugen bekundeten, wie verrückt geschrien und hinterherspringen wollen. Schließlich holte einer der Küstenwachleute den Seesack, der noch auf der Wasseroberfläche schwamm, aus dem Meer. Es fanden sich 80 000 DM darin, die, so behauptete Saitsew, ihm gehörten.

Was war an Bord der »Susanne« wirklich geschehen? Überlebende Zeugen gab es nicht, nur die Tatortspuren und die Aussagen Saitsews. Als dieser mit den gefundenen Blutspuren konfrontiert wurde, erzählte er eine neue Geschichte, die den dänischen Polizisten noch unwahrscheinlicher vorkam: Es habe an Bord eine Meuterei gegeben. Der Matrose B. und der Schiffsingenieur M., die ständig mit dem Kapitän gestritten hätten, hätten zunächst diesen und sodann den Steuermann V., der dem Kapitän hatte helfen wollen, durch Beilhiebe und Messerstiche getötet, und als der Koch S., durch den Lärm beunruhigt, hinzugeeilt sei, auch diesen erschlagen. Er, Saitsew, der ohnehin als Liebkind des Kapitäns galt, sei als Nächster dran gewesen. Es sei ihm aber gelungen, die beiden Angreifer in eine Falle zu locken und sie zu töten. Ihm sei nämlich die Schlacht an den Thermopylen eingefallen, bei der das persische Heer durch einen Hohlweg musste, der nur Platz für einen einzigen Mann ließ. Die wenigen griechischen Krieger, die sich dort postiert hatten, konnten nun jeden ihrer Feinde einzeln erschlagen. Seine Thermopylen seien die Treppenstufen hinab zur Kapitänskajüte gewesen. Dort hätte er die beiden Angreifer erwartet, ihnen einzeln ihre Äxte entrissen und sie aus Notwehr hintereinander durch Beilhiebe unschädlich gemacht. Er selbst hätte bei dem Kampf nur eine oberflächliche Verletzung am Bein davongetragen. Danach habe er alle Leichen, die der Ermordeten wie die ihrer Mörder, über Bord geworfen, die Blutspuren, so gut es ging, beseitigt und sei zunächst zwei Tage nordwärts Richtung Russland gefahren, bis er aus Treibstoffmangel umkehren musste. Während dieser Zeit hätte er sich die Geschichte mit dem Schiffsbrand ausgedacht. Nach dem Massaker um Hilfe gerufen habe er deshalb nicht, weil ihm klar war, dass alle Anzeichen auf ihn als Täter hinwiesen.

Das Gericht hatte zwei schwierige Aufgaben zu lösen: anhand der Tatortspuren mögliche Szenarien für die Tötung jedes einzelnen der Besatzungsmitglieder und die Beseitigung ihrer Leichen zu rekonstruieren und zu überprüfen, ob sie mit der Schilderung der Tathergänge, die Saitsew gegeben hatte, vereinbar waren. Erschwert wurde die Lösung dieser Aufgaben dadurch, dass Saitsew erst nach dreimonatiger Prozessdauer zur Tat und zur Person auszusagen bereit war und die Verwertbarkeit seiner Aussagen von der dänischen Polizei mühsam überprüft werden musste. Außerdem musste geklärt werden, wie viel von dem Geld in Saitsews Seesack ihm selbst gehörte, wie viel den anderen Besatzungsmitgliedern und wie viel aus der Schiffskasse des Kapitäns kam, denn die Anklage zielte auf Mord aus Habgier. Bei so vielen Unsicherheiten gewann deshalb die Frage immer mehr an Bedeutung, ob ihm die Tötung von fünf Menschen am helllichten Tage überhaupt zuzutrauen war, sowohl von seinen physischen Kräften her, von seinen Kampferfahrungen beim Militär, als auch von seinem Charakter, seiner Wesensart her. Dazu mussten viele Zeugen, die ihn irgendwann besser gekannt hatten, befragt werden, um sich ein Bild über seine Lebensgeschichte und seine Handlungsmuster in verschiedensten Lebenssituationen machen zu können. So marschierten nicht nur seine Mutter und seine Freunde vor Gericht auf, sondern auch seine Lehrer und Ausbilder sowie seine ehemaligen Vorgesetzten beim Militär und auf den Schiffen, auf denen er vorher angeheuert hatte. Schießlich wurden auch die Angehörigen der Toten gefragt, ob sie bei Telefonaten mit ihren Brüdern, Söhnen und Ehemännern auf dem Schiff etwas über Saitsew und überhaupt über das Klima an Bord gehört hätten. Auch mein Gutachten gewann ohne mein Zutun eine über die ursprüngliche Überprüfung der Schuldfähigkeit weit hinausgehende Bedeutung, weil das psychologische Profil, das ich nachzuzeichnen suchte, in die Beurteilung von Saitsews Glaubwürdigkeit ebenso einging wie in die Einschätzung seiner Fähigkeit, die Taten, derer er angeklagt worden war, zu begehen.

Als ich Saitsew in der JVA aufsuchte, fand ich einen sehr höflichen, literarisch gebildeten und sprachgewandten jungen Mann vor. Auch mit meinen bescheidenen Russischkenntnissen – natürlich war ich wieder mit einem Dolmetscher gekommen – konnte ich die ungewöhnliche Klarheit und Differenziertheit seiner Formulierungen nachvollziehen, in die er gelegentlich Zitate aus Tolstois und Tschechows Werken einwob. Aber nur über seine Lebensgeschichte war er bereit, mit mir zu sprechen, zu den Vorfällen auf der »Susanne« wollte er nichts sagen, wofür er sich höflich entschuldigte, seine Anwälte hätten es ihm so geraten.

Auch von seiner Lebensgeschichte offenbarte er mir spontan nur ein ziemlich dürres chronologisches Gerüst. Saitsew war in einer Ostseehafenstadt als Einzelkind eines Schiffsmechanikers geboren worden, der alljährlich nur ein paar Monate bei der Familie verbrachte, die Mutter war Verkäuferin. Strenge Mutter, eher gewährender Vater, er selbst ein den Eltern und Lehrern stets gehorsames, respektvolles Kind – was ihn nicht daran hinderte, die Unzulänglichkeiten des Unterrichts zu Hause zu kritisieren. Die Schulzeit verlief dennoch unproblematisch nach der Devise, möglichst wenig aufzufallen, weder zu den Besten noch zu den Schlechtesten zu gehören. Seit frühen Jahren schon hatte er den Wunsch, Seemann zu werden wie der Vater, der ihn mit zehn, zwölf Jahren manchmal auf eine Fahrt mitnahm. Mit siebzehn wechselte er auf die höhere militärische Seefahrtschule, die ihn wegen seiner hervorragenden sportlichen Leistungen in der Leichtathletik gerne nahm und ihn auch als Taucher ausbildete. Während dieser Zeit lebte er in der Kaserne. Im dritten Schuljahr spezialisierte er sich auf Schiffsbewaffnung und Elektromechanik. 1987 beendete er die Schule als Ingenieur für Elektromechanik mit dem Rang eines Leutnants. Saitsew hatte wenige Freunde, weil er die abendlichen Trinkgelage seiner Kameraden nicht mochte und sich an ihnen nicht beteiligte. Stattdessen lernte er lieber oder las Bücher. Kontakte zu Mädchen suchte er nicht, hatte später auch keine intimeren Beziehungen zu Frauen, weil er, wie er sagte, dazu zu schüchtern war, aber auch weil er überhaupt kein größeres Interesse am weiblichen Geschlecht hatte.

Gleich nach dem Schulabschluss wurde er nach Chabrowsk abkommandiert, einer ostsibirischen Stadt am Amurufer. Dort wurde er mit der Beförderung zum Hauptmann Kommandeur eines kleinen Flussschiffs und später stellvertretender Kommandeur eines Hochseeschiffs der Kriegsmarine, das allerdings den Hafen kaum je verließ, sodass er an Land Dienst machen musste. Bei einem solchen Landeinsatz – auf dem Amur-Eis mussten Fähnchen aufgestellt werden, um die Grenze zu China zu markieren – erfroren ihm die Füße, drei Zehen mussten amputiert werden. Eine medizinische Kommission schrieb ihn daraufhin untauglich für den Dienst auf See. Ein Kommando an Land interessierte ihn jedoch nicht und er suchte nun Wege, seine Entlassung aus dem Militär zu erzwingen. Die Streitkräfte verlassen durfte aber nur, wer gesundheitlich untauglich war oder sich als besonders schlechter, unzuverlässiger Soldat erwies. Sein Antrag, wegen des Zehenverlustes entlassen zu werden, wurde abgelehnt. So entschloss er sich dazu, auffällig zu werden. Er demonstrierte starkes Interesse an religiösen Themen und las den Matrosen im Unterricht aus der Bibel vor. Als das für eine Entlassung nicht genügte, sondern nur den Parteiausschluss nach sich zog, verfasste er über sich selbst eine besonders schlechte Beurteilung, in der er sich diverse Disziplinverstöße anlastete. Daraufhin durfte er im Juni 1989 aus dem aktiven Dienst ausscheiden, behielt aber seinen Rang als Reserveoffizier. Er verließ Chabrowsk und zog...

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