▇ VATER UNSER, DER DU BIST IN DEN HIMMELN
Wichtig ist bei Gebeten, viel wichtiger, als man gemeinhin denkt, die Anrede. Viele Gebete der Menschen von heute haben keine Anrede mehr. Oder, wo sie noch da ist, ist sie doch nicht mehr da. Ihr Inhalt macht sich nicht geltend in der Seele. So versäumt es der Mensch, sich die Welt erst einmal bewusst zu machen, in die er eintritt. Er geht in den Tempel nicht durch das Tor mit der Überschrift, sondern gerät aus dem Alltag wie aus Versehen ins Tempelgehege. Viele, sehr viele Gebete würden nicht gesprochen werden, wenn man sich über die Anrede besänne. Und alle Gebete würden sich ändern.
Andere Gebete bestehen nur aus Anrede. Prachtvolle Hymnen sind darunter. Wir lernen aus ihnen, wie Menschen vergangener Jahrhunderte in der reinen Anbetung wohnen konnten. Sie schauten ihren Gott an, mit ihrem Geist, stundenlang, und waren genesen.
Oft aber tragen solche Gebete auch in der Anhäufung der göttlichen Namen und Eigenschaften die Zeichen des Verfalls an der Stirne. Man denkt an Goethes Vater, der seine Geige länger stimmte, als er auf ihr spielte.
Die Anrede des Vaterunsers ist kurz, aber schwer von Himmel und Erde. Sie ist klar, nicht verschwimmend nebelhaft. Sie wählt die einfachsten, allgemein verständlichsten Worte, aber sie umspannt die Weite des Weltalls und erschöpft seine Tiefe. Man kann keine schlichtere und größere Anrede erfinden. Sie ist für alle Völker und Zeiten.
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Gebete, die von großen Menschheitsführern gegeben sind, erziehen die Menschheit. Sie bilden an den Grundlebensgefühlen. Wenn sie vieltausendmal im Laufe der Jahrhunderte gebetet werden, dann greifen sie tief in das Menschenwesen ein. Langsam wird der Mensch erschaffen, wie er nach dem Willen seiner großen Führer werden soll.
Wie ganz anders war die Menschheitserziehung im alten Indien und im alten Israel! Wie ganz anders in den ägyptischen Sonnenliedern und im Koran! Den Geist der Gebete atmen ganze Generationen ein, selbst wenn ihr Beten ins halb-bewusst Mechanische abgleitet.
Die Grundstimmungen, die schon durch die Anrede des Vaterunsers im Menschen herangebildet werden, geben dem Menschen ein neues Lebensgefühl mit dem Wort »Vater«. Sie geben ihm ein neues Weltgefühl mit dem Wort »unser«. Sie geben ihm ein neues Menschgefühl mit dem Wort »in den Himmeln«.
Diese Anrede stellt den Menschen neu hinein in Raum und Zeit. Der Mensch blickt in die Vergangenheit, in sein eignes Geworden-Sein und in das Werden der Welt und sagt: Vater.
Er blickt in die Zukunft, erkennt seine Würde und Bestimmung und sagt: Himmel.
Wie er aber eine neue Zeit bekommt, so empfängt er auch einen neuen Raum, einen geistigen Raum, in dem er fortan leben kann. Er blickt in die Tiefe, auf der er steht, und sagt: Vater. Er blickt in die Weite, die ihn umgibt, und sagt: unser. Er blickt in die Höhe, die sich über ihm wölbt, und sagt: Himmel.
Neu steht der Mensch in Raum und Zeit.
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Aufrecht steht der Mensch da in der Anrede des Vaterunsers. Ja er fühlt wirklich: Ich werde mit meinem ganzen Wesen aufgerichtet, wenn ich das Wort Vater aussprechen darf. Was ich als Kind unbewusst vollzog, dass ich mich aufrichtete von der Erde und Mensch wurde, das vollziehe ich jetzt frei, bewusst, vollmenschlich. Das äußere Aufrichten von einst war ein Bild für das, was einmal aus dem Ich heraus geschehen soll. Wer sich aber nicht aufrichtet, kriecht am Boden dahin und vermag nur nach den Seiten zu schauen.
Wie das Wort »Vater« das rechte Aufrechtstehen bringt, die wahre Menschenwürde, so führt das Wort »unser« zu einem neuen Sprechen-Lernen. Erst wenn das Brudergefühl gegen alle Wesen ihm den Sinn öffnet und die Sprache der Seele schenkt, lernt der Mensch die anderen Geschöpfe wirklich hören, lernt er zu ihnen reden. Es gibt nur eine Sprache, die alle Wesen verstehen, das ist die Liebe. Wer sie nicht lernen will, bleibt ein Fremdling in dieser Welt. Denn diese Welt ist aus der Liebe geboren.
Die »Himmel« aber lehren ihn, sich selbst zu finden. Nur wenn er sein eigenes Wesen herabholt aus unsichtbaren Reichen, löst er die Frage seines Daseins. Unser Name ist »im Himmel geschrieben«. Sonst bleibt der Mensch beim Tier. Er weiß nicht, »woher er gekommen und wohin er geht«. Er irrt als ewiges Rätsel umher. Auch durch die Dinge, die er sieht, muss der Mensch hindurchblicken, auf ihre »Idee«, auf ihren »geistigen Hintergrund«. Er muss sie dort aufsuchen, wo sie aus dem »Geist« kommen, wenn er »erkennen« will. – So lernt er, nun in einem höheren Sinn, was das Kind als seine dritte Kunst in den ersten drei Jahren gelernt hat: Ich-Sagen und damit das Feld des Denkens betreten.
Wirklich: Der Mensch vollbringt in Freiheit wesenhaft, was er sich selbst als Kind vormachte, als er sich aufrichtete, sprechen lernte, Ich sagte.
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Die Anrede des Vaterunsers ist des Menschenrätsels Lösung. Wir finden den Menschen durch das Wort »Vater«. Wir finden die Menschlichkeit durch das Wort »unser«. Wir finden das Menschentum durch das Wort »Himmel«. –
So sinken nun auch die drei Vorwürfe zusammen, die gegen das Gebet immer erhoben worden sind. Das Gebet versklave den Menschen und raube ihm seine Menschenwürde. Wir sahen, wie der Mensch gerade seine Menschenwürde erhält durch das Wort »Vater«. – Das Gebet entfremde den Menschen dem Leben und mache ihn unbrauchbar. Wir sahen, wie der Mensch die rechte Lebensfähigkeit gewinnt durch das Wort »unser«. – Das Gebet sei unnütz und verdumme den Menschen. Wir sahen, wie der Mensch zu seiner Bestimmung erwacht durch das Wort »Himmel«.
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Durch die Anrede des Vaterunsers schimmert auch das größte Erlebnis durch, das je ein Mensch auf der Erde gehabt hat. Mit diesen Worten hat Rudolf Steiner die Stunde geschildert, in der Jesus zu Christus wurde in der Jordan-Taufe.
Die Bibel erzählt es in drei Sätzen.
»Die Himmel taten sich auf.« Unendliche Perspektiven öffneten sich hinter dem alltäglichen Sinnessein. Und alles war Geist, und alles war Güte. Aus allen Hintergründen des Daseins sprach die Stimme des »Vaters«. – Im Wort »Vater« des Vaterunsers hat uns Christus dieses Erlebnis zurückgelassen.
Was aber die Stimme des Vaters zu sagen hatte in der Geistessprache, ist uns in der Menschensprache zweifach überliefert. »Du bist mein geliebter Sohn, heute habe ich dich gezeugt!« Und: »Du bist mein geliebter Sohn, auf dem mein Wohlgefallen ruht!« – Geisteserlebnisse gewaltiger Art haben eine Inhaltsfülle, die sich in menschlicher Sprache mannigfach ausdrücken lässt. Aber das Wort »geliebter Sohn« ist immer da und steht im Mittelpunkt. Eine Wolke unausdenklicher Weltenliebe hat Christus in diesem Augenblick voller Güte eingehüllt.
Als Christus über die Erde ging, nannte er die Menschen, die sich zu ihm fanden, seine »Jünger«. Als er zu ihnen reden konnte von den Geheimnissen seines Werkes, ernannte er sie zu seinen »Freunden« (Joh. 15,15). Als er auferstanden zu ihnen zurückkehrte, erhob er sie zu seinen »Brüdern« (Joh. 20,17). Der »geliebte Sohn« hat uns zu seinen Brüdern ernannt. – Das lebt weiter in dem Wort »unser« der Anrede. Dieselbe unausdenkliche Weltenliebe hüllt auch uns ein.
Aus dem aufgetanen Himmel aber kam der Geist herab und blieb fortan auf ihm ruhen. Darin blieb der Himmel auf der Erde, auch wenn die »aufgetanen Himmel« ihre Unendlichkeiten wieder verschlossen. Nun nicht bloß der Himmel über ihm, sondern der Himmel in ihm. Der »Heilige Geist« ist der Himmel auf der Erde, will der Himmel in uns werden.
Wir haben also in den ersten Worten des Vaterunsers den Nachglanz des größten Erlebnisses, das je ein Mensch hatte. Wir haben in diesen Worten das Christus-Erlebnis selbst, so wie Christus es seinen Jüngern, Freunden, Brüdern als Geschenk zurückgelassen hat. Wir können in diesen Worten immer wieder selbst eine Christus-Taufe empfangen.
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Aber meinen wir, das Christus-Erlebnis bei der Jordan-Taufe sei nur einmalig gewesen und dann für immer dahingegangen? In ihm ist uns vielmehr der Himmel geschildert, der allezeit über Christus stehen blieb.
Jeder Mensch hat seinen eigenen Himmel. Schon äußerlich. Wenn zwei Menschen nebeneinander stehen, ist der Himmel über ihnen schon nicht ganz der gleiche. Und welche verschiedenen Himmel haben der Schwarze und der Eskimo, der Amerikaner und der Chinese.
Jeder Mensch hat auch seinen eigenen inneren Himmel, der sich aus seinen Idealen wölbt. Könnten wir diese inneren Himmel – was manchmal möglich ist – durch die Augen der Menschen hindurch erahnen: Wie viel größer noch wären die Verschiedenheiten! Der Himmel über einem Buddha – und der Himmel über einem Goethe! Und der Himmel über einem kanadischen Farmer!
In der Anrede des Vaterunsers treten wir unter den inneren Himmel Christi. Wir sind bei ihm in seiner Welt. Wir atmen mit ihm die gleiche Luft. Wir beten an unter demselben Geistgewölbe. Das wölbt sich nach der Höhe: Vater in den Himmeln. Und nach der Weite: unser.
Es ist wirklich der innere Himmel Christi. Denn wir sehen ja seinen Widerschein auf allen seinen Worten und Taten.
Ob der äußere Himmel draußen hell oder trüb...