DIE WELT HINTER DEN GESCHLIFFENEN GLÄSERN
Wie Galilei das Fernrohr noch einmal erfindet
Große wissenschaftliche Entdeckungen verdanken sich oft dem Wagnis einzelner Forscher, sich einer Idee ganz zu widmen. Der Physiker Wolfgang Ketterle zum Beispiel verbrachte die kreativsten Jahre seines Lebens damit, außergewöhnliche Kühlschränke zu bauen. Er wollte Atome in einen hypothetischen, von Albert Einstein vorhergesagten Kältezustand versetzen. Das Gespräch über seinen langen Weg zum Nobelpreis, das ich im Frühjahr 2002 am Massachusetts Institute of Technology in den USA mit ihm führte, ist mir bis heute lebhaft in Erinnerung geblieben. Vielleicht liegt das an einem einzigen Wort, einer Nebensächlichkeit, auf die der Vierundvierzigjährige plötzlich zu sprechen kam, nachdem er sich warmgeredet hatte: sein Feldbett.
Der hoch aufgeschossene Wissenschaftler hatte einen provisorischen Schlafplatz in seinem Labor. Er schlug dieses Feldbett in jenen Nächten auf, in denen sein Experiment nach vielen Stunden des Justierens und der Feinabstimmung endlich so lief, wie es sollte. Wenn die in einer magnetischen Falle eingesperrten Gasatome, von Laserlicht gebremst, eine Temperatur erreicht hatten, die nur noch wenige Milliardstel Grad vom absoluten Kältepunkt entfernt war, dann konnten er und seine Mitarbeiter unmöglich nach Hause gehen. Das Team kühlte mit anderen Forschergruppen der Welt um die Wette.
Es war ein äußerst knappes Rennen. Aber selbst nachdem Ketterle die kälteste Insel im Universum erreicht hatte, ging der Wettstreit weiter. Der ehemals ambitionierte Marathonläufer setzte nun alles daran, sich einen Überblick über das unbekannte Terrain zu verschaffen. Würden sich beim Tanz der tiefgekühlten, nie ganz zur Ruhe kommenden Atome neue physikalische Gesetzmäßigkeiten zeigen?
Das Feldbett versinnbildlicht Ketterles Ausdauer und Hartnäckigkeit bei dieser Entdeckungsreise. Für mich ist es zu einer Metapher für die Hingabe und Leidenschaft geworden, mit der sich Wissenschaftler verschiedener Zeiten und Fachrichtungen ihrer geistigen und handwerklichen Arbeit gewidmet haben. Um es mit Ketterles Worten zu sagen: »Pionierleistungen vollbringt man mit einer neuen Maschine, kurz bevor man todmüde umfällt.«
Galileis neue Leidenschaft
Im Sommer 1609 stürzt sich Galileo Galilei auf den Bau des Fernrohrs. Von einem Tag auf den anderen legt er seine vielversprechenden mechanischen Experimente zur Seite und beschäftigt sich nur noch mit dem neuen Vergrößerungsinstrument, das Brillenmacher ein Dreivierteljahr zuvor in den Niederlanden erfunden haben. Es ist ein Entschluss, der seiner Forschung eine völlig neue Richtung geben und in einen jahrelangen Wettlauf um immer neue Entdeckungen einmünden wird.
Zu dieser Zeit ist Galilei Mathematikprofessor an der Universität Padua, einer ausgesprochen internationalen Hochschule, die zur Republik Venedig gehört und deren geistiges Klima von der nahen Handelsmetropole geprägt wird. In den Jahren 1546 bis 1630 studieren hier unter anderen rund 10 000 Deutsche. Trotz der sich ausweitenden konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa und trotz der zunehmenden Aufspaltung in katholische Universitäten wie Bologna, lutherische wie Leipzig oder calvinistische wie Leyden dürfen sich in Padua Anhänger verschiedener Religionszugehörigkeiten einschreiben.
Die Mathematik ist kein besonders angesehenes Fach. Seit siebzehn Jahren hält Galilei immerzu dieselben Vorlesungen über Geometrie und Himmelskunde. Seine Lehrverpflichtungen beschränken sich auf wenige Stunden, zeitaufwendiger ist dagegen sein Privatunterricht. Um einen stattlichen Palazzo zu unterhalten, regelmäßige Aufenthalte in Venedig und die Aussteuer für seine Schwestern finanzieren zu können, erteilt der fünfundvierzigjährige Patrizier Lektionen zum technischen Zeichnen und zu den Grundlagen der Geometrie, zum Bau von Festungen und Maschinen.
Adlige aus Italien und Deutschland, Frankreich und Polen kommen zu dem wortgewandten Dozenten. Aus den erhaltenen Unterrichtslisten geht hervor, dass Galilei permanent zehn oder mehr Studenten bei sich beherbergt, von denen einige auch gleich ihr Dienstpersonal bei ihm einquartieren. In seinem Wohnhaus herrscht ständig Trubel, manchmal selbst in der vorlesungsfreien Zeit. Graf Alessandro Montalbano zum Beispiel wohnt seit fünf Jahren mit zwei Begleitern bei ihm. Jetzt steht er kurz vor seinen Abschlussprüfungen und bleibt die ganzen Ferien über in Padua. Von wegen einsamer Forscher!
Um den 20. Juli herum bricht Galilei nach Venedig auf, um den Lehrverpflichtungen für eine Weile zu entkommen. Seit er in Padua lebt, hat er eine besondere Affinität zur Lagunenstadt an der Adria, deren prachtvolle Paläste am Canal Grande den unermesslichen Reichtum der venezianischen Kaufleute widerspiegeln, die hier seit Jahrhunderten Handel mit Salz, Pfeffer und Gewürzen, mit Wolle und Seide, Silber und Edelsteinen treiben. Am Rialto, dem Manhattan der Renaissance, treffen sich Finanziers und ihre Agenten aus allen Teilen der Welt, rund um das Bankenviertel machen Goldschmiede und Tuchhändler ihre Geschäfte, haben Obst-, Fisch- und Weinhändler ihre Stände.
In dieser geschäftigen und sinnenfreudigen Atmosphäre hat Galilei vor mehr als zehn Jahren Marina Gamba kennengelernt, eine junge Venezianerin, mit der er drei Kinder hat. Die nicht standesgemäße Beziehung spielt sich von Anfang an im Verborgenen ab. Marina Gamba ist zwar nach Padua umgezogen, Galilei teilt seine Wohnung jedoch nicht mit ihr, sondern führt sein Junggesellenleben unbehelligt fort. So auch jetzt: In Venedig ist er bei Adelsfreunden und ehemaligen Schülern zu Gast, streift durch die Schiffswerft, das Arsenal, besucht erlesene Salons, hält sich über das Weltgeschehen auf dem Laufenden und schnappt die neuesten Gerüchte auf.
Eine Nachricht zieht ihn im Sommer 1609 in ihren Bann. Der einflussreiche Politiker und Gelehrte Paolo Sarpi dürfte ihm als Erster Genaueres von den »Occhialini« erzählt haben, einem Instrument, mit dem man ferne Gegenstände vergrößern und ganz nah ans Auge des Betrachters heranholen kann.
Sarpi hat schon mehr als ein halbes Jahr zuvor von dem »neuartigen Sehglas« erfahren. Die Nachricht ist über diplomatische Kreise zu ihm durchgesickert. Dass es sich dabei nicht bloß um ein Gerücht handelt, ist soeben noch einmal brieflich aus Frankreich bestätigt worden. Seit dem Frühjahr verkaufen Händler in Paris Fernrohre mit schwacher Vergrößerung, in Mailand kann man die »Occhialini« inzwischen erwerben und selbst der Papst hat schon ein Exemplar erhalten!
Galilei würde gerne mehr über die Sache erfahren. Er hat eine Schwäche für technische Neuerungen und ist weitsichtig genug, den Wert eines solchen Geräts zu begreifen. Den Marktwert wohlgemerkt, denn Galilei ist kein Mathematiker im engeren Sinn: Er ist nicht nur ein theoretisch geschulter Kopf, sondern auch Ingenieurwissenschaftler und Erfinder. Als solcher hält er ein Patent auf eine Wasserpumpe, hat mit einer hydrostatischen Waage und einem Thermoskop aus Glas, einem Vorläufer des Thermometers, von sich reden gemacht. Vor allem aber mit einem nützlichen Recheninstrument, einem »geometrischen und militärischen Kompass«.
Dieser vielseitigen, für Offiziere gut handhabbaren Rechenhilfe in Form eines Zirkels verdankt er einen nicht unerheblichen Teil seiner Einkünfte und seines Rufs. Mit Marco Antonio Mazzoleni hat er einen fähigen Handwerker angestellt, der samt Familie bei ihm wohnt und kostbare Instrumente aus Messing anfertigt, für Kunden wie Cosimo II. de’ Medici, den Großherzog der Toskana auch aus reinem Silber. Neben dem Kompass baut Mazzoleni Apparaturen für Galileis mechanische Experimente, die dieser seit Jahren verfolgt.
Einige von Galileis Schülern kommen eigens zu ihm, um den Umgang mit dem Kompass zu erlernen. Er hat dafür ein umfassendes Handbuch geschrieben, seine bis dahin einzige gedruckte Schrift. Mit fünfundvierzig Jahren hat der Professor noch keine explizit wissenschaftliche Arbeit publiziert.
Die technische Anleitung aber verkauft sich gut. Er sei genötigt, die Schrift zum Gebrauch des geometrischen Kompasses nachzudrucken, weil keine Kopien mehr zu finden seien, hält er in einem Brief an den toskanischen Staatssekretär fest. Das Instrument sei in aller Welt so beliebt, dass gegenwärtig gar keine anderen Geräte dieser Art mehr gebaut würden. Er habe schon einige Hundert davon produzieren lassen.
Wenn ihm der Kompass bereits ganz ordentliche Gewinne beschert, sollte sich ein Fernrohr, mit dem man feindliche Truppen oder Schiffe beizeiten sichten kann, erst recht versilbern lassen. Dazu müsste Galilei jedoch innerhalb kürzester Zeit nicht nur irgendein Fernrohr bauen, es müsste ein erheblich besseres sein, als es anderswo bislang zustande gebracht worden ist.
Warum hat er nicht eher Wind davon bekommen? Womöglich ist es schon zu spät. Denn während sich Galilei noch in Venedig aufhält, ist in Padua ein ausländischer Geschäftsmann mit einem Fernrohr im Gepäck aufgetaucht.
In den ersten Augusttagen fährt Galilei nach Padua zurück. Ob er dem Fremden noch begegnet und das Instrument in Augenschein nehmen kann, wissen wir nicht, denn dieser reist nun seinerseits nach Venedig, um die »Occhialini« dort für die stolze Summe von 1000 Zecchini – das Vierfache von Galileis Jahresgehalt – zum Verkauf anzubieten. Paolo Sarpi rät der venezianischen Regierung jedoch von dem Kauf ab. Man solle erst einmal abwarten, ob Galilei nicht ein besseres Fernrohr zuwege bringe.
Tatsächlich kommt der erfahrene Experimentator schnell hinter das Geheimnis, besorgt sich die erforderlichen geschliffenen...