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Dasein für Andere - Dasein als Andere in Europa

Ecuadorianische Hausarbeiterinnen in Privathaushalten und katholischen Gemeinden Madrids

AutorHeike Wagner
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl409 Seiten
ISBN9783531921679
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis54,99 EUR
1 Mónica aus Ecuador ist 39 Jahre alt, hat drei Kinder und arbeitet seit zwei Jahren in Madrid als Hausarbeiterin. Sie wohnt bei ihrer Arbeitsstelle und ihre Aufgaben bestehen aus einem 'Rund-um-Service' von Pflege eines bettlägerigen alten M- nes, Putzen, Kochen, Waschen für 600 Euro im Monat. Es handelt sich um eine körperlich anstrengende und, da der Mann oft vor Schmerzen schreit und stöhnt, psychisch sehr belastende Arbeit. Mónica hat sonntags von zehn Uhr morgens bis 22 Uhr abends sowie vier bis sechs Stunden unter der Woche frei. Ansonsten steht sie 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Da der alte Mann auch nachts der Pflege bedarf, gibt es keine festen Arbeitszeiten. Sie hat wenig Freizeit und auch keine Privatsphäre. Ihr Schlafzimmer wird gleichzeitig vom Sohn des alten Mannes als Arbeits-, Musik- sowie Rückzugszimmer genutzt. Er ist Mitte dreißig, wohnt eb- falls in der Wohnung und wird von ihr mitversorgt. Erst wenn das Zimmer abends vom Sohn frei gemacht wird, kann Mónica ins Bett. Generell ist das Verhältnis mit ihm sehr freundlich, was jedoch auch darauf beruht, dass sie ihre eigenen Wünsche denen ihres Arbeitgebers unterordnet. Ihre knappe Freizeit verschafft ihr nicht die Entspannung und Erholung, die sie bräuchte. Gleichzeitig ist sie jedoch glücklich darüber, dass sie die Versorgung und Ausbildung ihrer Kinder in Ecuador garant- ren kann, was vor ihrer Migration nach Madrid nicht möglich war: Ihr Mann bra- te seinen Lohn durch und misshandelte sie psychisch.

Dr. Heike Wagner studierte in Tübingen, Quito, Wien und Madrid Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie, Quichua, Philosophie sowie Theologie. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie sowie im Masterstudium 'Gender Studies' der Universität Wien

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Leseprobe
5 Angekommen: EcuadorianerInnen in Madrid (S. 140-141)

„Für mich war es sehr hart, hierher zu kommen. Es war sehr hart angesichts dessen, wie man arbeitet und (...) wie man behandelt wird.” (Erika) Die Entscheidung zur Migration wird in Ecuador auf dem Hintergrund von Erzähltem, Imaginiertem und Erhofftem unter Beteiligung verschiedener anderer AkteurInnen wie Familie, Migrationsindustrie, FreundInnen oder Verwandten im Kontext der Nachfrage in und dem Bezug zu Spanien getroffen. Angekommen in Madrid stellt sich jedoch Vieles anders dar als vermutet: unbekannte Sinneseindrücke und andere körperliche Erfahrungen, die Trennung von geliebten Personen, unter Umständen von den Kindern, die Dominanz der Arbeit im Alltag, die Unsicherheit als Illegalisierte, der Statusverlust, die Festschreibung auf bestimmte, zugeschriebene Tätigkeiten, Diskriminierung und Ethnisierung sowie die schwierigen Wohnsituationen und Vieles mehr stellen neue, oft unerwartete Anforderungen an die MigrantInnen.

5.1 Neubeginn im fremden Kontext


Mit der Migration erfolgt eine Veränderung der sozialen Felder und Positionen sowie der Sinnhaftigkeit der eigenen Handlungspraxis samt Orientierungsmuster, was auch Auswirkungen auf die Verhaltenssicherheit hat (vgl. Lentz 1988, 165). Was in Ecuador noch als logisch und sinnvoll erschien, ist es nicht zwangsläufig in Spanien. Viele Vorstellungen über das Leben als MigrantInnen in Spanien wie zum Beispiel Erwartungen über schnell erspartes Geld und eine baldige Rückkehr oder die Hoffnung auf Gleichheit und sozialen Aufstieg erweisen sich meist als falsch. Die Schulden, welche oft sehr hoch sind, können nicht wie erhofft zurückbezahlt werden, was nicht nur radikales Sparen und Arbeiten notwendig macht, sondern auch eine starke Belastung darstellt. Ebenso werden durch die Migration Klassenunterschiede unter den EcuadorianerInnen gesellschaftlich nivelliert sowie mitgebrachte Fähigkeiten und Wissen entwertet (vgl. Mahler 1995, 58).

Außerdem sind den Migrierten praktisch alles neu und fremd: das Essen, die Verhaltensweisen, die Art zu sprechen sowie der Lebens- und Arbeitsrhythmus. All dies birgt hohe physische wie psychische Belastungen in sich. Die Veränderungen und die Notwendigkeiten, sich neu orientieren zu müssen, beginnen spätestens mit dem Einsteigen in das bzw. mit dem Aussteigen aus dem Flugzeug.

Für Personen, welche nicht von AgentInnen der Migrationsindustrie, Verwandten oder Bekannten vorbereitet und auch nicht vom Flughafen abgeholt wurden, stellte die Ankunft am Flughafen das erste große Hindernis im Migrationsprozess dar. Dazu gehörte zunächst, die Passkontrolle zu durchschreiten und als TouristIn ins Land gelassen zu werden, wie dies zur Zeit meiner Forschung gerade nicht mehr möglich war, jedoch alle hier vorgestellten EcuadorianerInnen betrifft, da diese (teils gerade) noch vor der Einführung des TouristInnenvisums im August 2003 nach Spanien eingereist waren.

Oben wurde bereits auf die Passkontrolle am Flughafen hingewiesen und die damit verbundene „TouristInnenprüfung“, welche teils willkürlich war, teils aber auch aufgrund von Nervosität und mangelnder Vorbereitung nicht bestanden wurde. Die Passkontrolle war daher gefürchtet und mit großen nervlichen Anspannungen verbunden. Iván Matute beschreibt in seiner autobiographischen Erzählung, wie nach der Ankunft in Madrid eine Frau aus seinem Flug auf ihn zukam.
Inhaltsverzeichnis
Dank7
Inhalt8
Hinweise zur Übersetzung der Zitate12
Abkürzungsverzeichnis13
1 Einführung14
1.1 Zum Aufbau der Ethnographie19
2 Kontextualisierungen23
2.1 Migration als soziale Konstruktion23
2.1.1 Die soziale Konstruktion von „Migranten“ und „Migrantinnen“ in Spanien – historische Zugänge24
2.1.2 Migrantinnen – als Frauen mehrfach diskriminiert26
2.1.3 Konstruktionsprinzipien und Differenzmarker26
2.1.4 Migrationsforschung und die soziale Konstruktion von Migration28
2.1.5 Migration – eine begriffliche Annäherung29
2.2 Migration als soziale Praxis32
2.2.1 Überlegungen zu einem praxeologischen Ansatz33
2.2.2 Kontexte, Brüche und Erweiterungen35
2.2.3 Die Bedeutung der globalen Ökonomie als strukturale Macht39
2.2.4 Das soziale Geschlecht als transversale Strukturierungskraft40
2.3 Sozialtheoretische Kontextualisierung der Arbeit41
3 Der Migrationsprozess ecuadorianischer Hausarbeiterinnen als Forschungsprozess43
3.1 Die Methodologie43
3.1.1 Methodenvielfalt44
3.1.1.1 Teilnehmende Beobachtung44
3.1.1.2 Interviews45
3.1.2 Raum – Multi-sited Ethnography46
3.1.3 Zeit – 14 Monate Feldforschung46
3.1.4 Grounding – das Verweben von Datensammlung und Datenanalyse47
3.1.5 Nähe und Distanz, subjektive Verortungen50
3.2 Der Forschungsprozess52
3.2.1 Bestimmung und Konstruktion des Feldes52
3.2.2 Explorative Forschungsphase in Spanien55
3.2.3 Problemorientierte Forschung in Ecuador59
3.2.4 Vertiefung und Beendigung der Forschung in Madrid60
4 Die ecuadorianische Auswanderung nach Spanien61
4.1 Die „neue Emigration“ und die ecuadorianische Krise65
4.2 Neue Krise, alte Krisen und andere Migrationsgründe – über die Plurikausalität von Migrationsentscheidungen74
4.2.1 Genderexklusion und Gendergewalt in Ecuador: stille Migrationsgründe76
4.2.1.1 Genderexklusion und Gendergewalt in Ecuador76
4.2.1.2 Genderexklusion und Gendergewalt als Migrationsursache96
4.2.1.3 „Versteckte” Migrationsgründe: Warum tauchen diese Daten so selten auf?99
4.2.2 Die Bedeutung von Vorstellungen, Hoffnungen und Träumen101
4.2.3 Die Rolle sozialer Netzwerke111
4.2.4 Die Migrationsindustrie: Migration als großartiges Geschäft121
4.2.4.1 Migrationsindustrie, die von reisenden MigrantInnen lebt122
4.2.4.2 Migrationsindustrie, die von (schon bestehenden) Migrationen lebt128
4.2.5 Warum Spanien? Das neue Einwanderungsland129
4.3 Ecuadorianische Migration nach Spanien: plurikausal und vielschichtig136
5 Angekommen: EcuadorianerInnen in Madrid141
5.1 Neubeginn im fremden Kontext141
5.1.1 Wohnen – „el piso compartido“: MigrantInnen-WGs143
5.1.2 Die Bedeutung von Ressourcen: Netzwerke, der Zugang zu Informationen und Hilfsleistungen153
5.2 Zu MigrantInnen in Spanien werden155
5.2.1 Ohne regulären Aufenthaltstitel: „Hier gibt es keine Freiheit“156
5.2.2 Illegalisierung, Diskriminierung und Ethnisierung: Als Andere gleich gemacht158
5.2.3 Initiation zur Migrantin163
6 Arbeit als Hausarbeiterinnen166
6.1 Haushaltsarbeit, Reproduktionsarbeit, Hausarbeit – begriffliche und erste inhaltliche Klärung167
6.2 Eine neue, alte Beschäftigung für Migrantinnen – Hausarbeit im Kontext der Globalisierung170
6.2.1 Die neue Nachfrage nach bezahlter Hausarbeit173
6.2.2 Die Ethnisierung von Hausarbeit178
6.3 Die gesetzliche Regelung von Hausarbeit in Spanien182
6.4 Hausarbeit als hoch-personalisierte Arbeit in der Privatsphäre (der Anderen)189
6.4.1 Arbeitsplatz Privatsphäre: Unsicherheiten und Grenzüberschreitungen190
6.4.2 „Zur Familie gehörig“: Die Ambivalenz von Nähe und Distanz im hierarchischen Kontext193
6.4.2.1 Als Interna Medium eines flexiblen, bequemen (Familien-)Lebens der Anderen: die Verdichtung der Problematiken198
6.4.3 „Zur Familie passend“: Die Bedeutung von Persönlichkeit und Haltung202
6.5 Wie finde ich Arbeit? – Die Suche nach und Rekrutierung von Hausarbeit205
6.5.1 Aushänge, Netzwerke und andere Formen der Arbeitssuche205
6.5.2 „Arbeitssuche kostet Geld“: Notwendige Ressourcen210
6.5.3 Haarefärben und andere Strategien der Arbeitssuche214
6.6 Ein Hausarbeitskurs für Migrantinnen in einer katholischen Gemeinde in Madrid – Sozialarbeit als Migrationsinstitution218
6.6.1 Kochen, Nähen, Tischdecken: Der Ablauf und Inhalt des Kurses221
6.6.2 Der Hausarbeitskurs als Teil der katholischen Kirche224
6.6.3 Differenzfaktoren und Signifikationsgeber des Kurses227
6.6.3.1 Hausarbeit als „natürliche Arbeit der Frau“: Arbeitsverständnis und Frauenbild229
6.6.3.2 (Potentielle) Mütter und Flexibilitätsprobleme234
6.6.3.3 Die ungebildeten, unzivilisierten Fremden237
6.6.3.4 Außerhalb des Rechts247
6.6.3.5 Arbeit, nichts als Arbeit – Platzzuweisung und Integrationshilfe253
6.6.4 Unterschiedliche Positionen, Zielsetzungen und Strategien der verschiedenen AkteurInnen257
6.6.4.1 Hilfe und Selbsthilfe – Die Rolle der Voluntarias257
6.6.4.2 Halbmächtige und andere Mächte – die Ordensschwester und die Priester262
6.6.4.3 Die Rolle der Gemeinde innerhalb des Viertels und als Teil derGesellschaft263
6.6.4.4 Strategien und Ziele der Migrantinnen: „Man muss sie zu nehmen wissen“266
6.6.5 Integration und Erziehung zur nachgefragten, untergeordneten und entpersonalisierten Hausarbeiterin274
7 Strategien, Handlungsspielräume und Möglichkeiten276
7.1 Strategien bei der Haushaltsarbeit277
7.1.1 „Bitte nicht stören, ich bin am Kochen” und andere Strategien bei der Arbeit277
7.1.2 Das selbstgewählte Ende des Arbeitsverhältnisses285
7.1.3 Affirmierend, manipulierend, aushandelnd – Strategien bei der Arbeit292
7.2 Strategien außerhalb der Arbeit295
7.2.1 Mittel gegen Stress und Erschöpfung295
7.2.1.1 Umstrittene Erholung und Freizeitaktivitäten bei ecuadorianischen Treffpunkten – das Beispiel von Lago301
7.2.2 „Cadenas de dinero“ – Netzwerkstrategien308
7.2.3 „Baños dulces“ und andere Veränderungsrituale312
7.2.4 „Baile de solteros“ – Ressource Frausein316
7.2.5 Handlungsspielräume, Grenz(überschreitung)en, Strategien325
7.3 Freude und Leid330
7.3.1 Die Selbstbewertung der Migration als Hausarbeiterin331
7.3.1.1 Der ungleiche „Gewinn für alle“340
7.3.1.2 Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse345
7.3.1.3 Die Neudefinition der Geschlechterverhältnisse im Migrationsprozess358
7.3.2 Haushaltsarbeit – Ermöglichung und Verhinderung zugleich360
8 Schlussfolgerungen363
8.1 Die Migration ecuadorianischer Frauen nach Madrid363
8.2 Migrantische Haushaltsarbeit im Kontext der Globalisierung – Asymmetrien, Kurse und Diskurse365
8.3 Handlungsfelder und Strategien372
8.4 Dasein für Andere – Dasein als Andere in Europa376
8.5 Hinweise für weitere Forschungen378
Bibliographie381
Monographien, Zeitschriften- und Sammelbandbeiträge381
Internetquellen404
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis406
Abbildungsverzeichnis406
Tabellenverzeichnis406

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