Sascha Lange
40 Jahre DDR – Ein Abriss
»Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt …«, so beginnt die Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Land, 1949 gegründet mit dem offiziellen Anspruch, alles besser machen zu wollen, als es zuvor in Deutschland war. Dass das sich selbst als »Diktatur des Proletariats« bezeichnende Land am Samstag, den 7. Oktober 1989 seinen 40. Jahrestag feiern konnte, hatte viele Gründe. Da ist vor allem die politische und militärische Schutzmacht Sowjetunion zu nennen, aber auch die schier unüberwindliche Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten, der scheinbar allgegenwärtige Überwachungsapparat …
Aber zwei Faktoren für den langen Bestand eines Lands des Mangels und der politischen Unfreiheit werden immer wieder unterschätzt: die Geduld und die Hoffnung der Menschen, die in der DDR lebten. Geduld mit dem Staatsapparat, der sich in bevormundend-väterlicher Fürsorge für wirklich jeden Lebensbereich verantwortlich fühlte und jede Menge Versprechungen für die Zukunft machte. Geduld mit der Idee des Sozialismus als gerechterer und friedenbringender Alternative zum Kapitalismus, als Lehre aus den beiden von Deutschland begonnenen Weltkriegen. Geduld beim jahrelangen Warten auf den neuen Wartburg, die neue Wohnung. Geduld in der Schlange vorm Konsum, vorm Restaurant, vorm Eiscafé. Warten auf einen Urlaubsplatz an der Ostsee, am Balaton, warten auf eine Erlaubnis, die Tante im Westen zu besuchen. Aber warten soll sich ja bekanntlich lohnen, und darin bestand die Hoffnung vieler Menschen in der DDR. Die Hoffnung auf die Einlösung der vollmundigen Versprechen der SED. Die Hoffnung, dass der Sozialismus irgendwann wirklich eine lebenswertere und gerechtere Gesellschaftsform sein könnte.
Der wirtschaftliche Aufschwung der DDR in den 1960er Jahren, die politischen Reformen in der ČSSR im Frühjahr 1968, die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975: Noch bestand Hoffnung – trotz aller sichtbaren Widersprüche und Unfreiheiten. Denn der Sozialismus war laut marxistischer Theoriedefinition die nächste Stufe der Evolution: Urgesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus und schließlich der Kommunismus als die Krone der Schöpfung – nicht von Gott erschaffen, sondern von Menschenhand. Das Paradies mit ein wenig Geduld bereits zu Lebzeiten erreichen, was für ein Leistungsvorsprung! Doch diese Geduld war nach vierzig Jahren restlos erschöpft, die Hoffnung verloren, und die rasanten Ereignisse des Sommers und Herbstes 1989 zeigen dies eindrucksvoll.
Der Weg des Wartens war lang. Er begann unmittelbar nach Kriegsende. Deutschland wurde in Besatzungszonen aufgeteilt, und der Kalte Krieg bestimmte das politische Geschehen in Europa. Eine Folge daraus war die Teilung Deutschlands. Nachdem sich am 23. Mai 1949 die drei westlichen Besatzungszonen zur Bundesrepublik Deutschland zusammengeschlossen hatten, gründete sich am 7. Oktober in der sowjetischen Zone die Deutsche Demokratische Republik. Somit hatten beide neu herausgebildeten Machtblöcke in Europa ihren Teil von Deutschland. Und auch wenn noch viele Jahre jeweils Politiker in der DDR und der BRD öffentlichkeitswirksam vom Wunsch einer Wiedervereinigung sprachen und »Deutschland einig Vaterland« sogar noch bis 1972 in der DDR-Nationalhymne gesungen wurde, so waren die Chancen auf ein geeintes Deutschland aufgrund der neuen Nachkriegsweltordnung schnell unrealistisch.
Die DDR wollte das »bessere Deutschland«, ein »Friedensstaat« sein – so hatten es sich deren Machthaber zum Ziel gesetzt. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Die vielfältigen idealistischen Ansprüche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für ein gerechteres Land auf deutschem Boden mussten sich schnell den realpolitischen Gegebenheiten unterordnen. 1946 gründete sich in der Sowjetischen Besatzungszone aus KPD und SPD – nicht ganz freiwillig auf Seiten der Sozialdemokraten – die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Trotz der öffentlichkeitswirksamen Vereinigung der beiden großen Arbeiterparteien der Weimarer Republik dominierten von Anfang an die Kommunisten und waren in erster Linie an der Stabilisierung und am Ausbau ihrer eigenen Macht interessiert. »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben«,1 sagte bereits unmittelbar nach der Befreiung 1945 das aus dem Moskauer Exil heimgekehrte KPD-Mitglied Walter Ulbricht in Bezug auf die politische Einflussnahme in der Sowjetischen Besatzungszone. Und damit war das Kind eigentlich schon in den Brunnen gefallen. Die neu gegründete CDU, die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) sowie die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) verkamen als »Blockparteien« schnell zu Statisten innerhalb des »Demokratischen Zentralismus« der SED-Politik.
Dass die DDR dennoch vierzig Jahre alt wurde, hatte nicht nur mit Weltpolitik, sondern eben auch mit der bereits erwähnten Geduld und Hoffnung der Menschen zu tun. Allerdings war die Geduld vieler Ostdeutscher gar nicht so grenzenlos: In den 1950er Jahren gab es noch Möglichkeiten, die DDR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Bis zum Berliner Mauerbau 1961 wechselten innerhalb von zehn Jahren mehr als 2,7 Millionen Menschen von Ost nach West.2 Nach dem stufenweisen Ausbau der innerdeutschen Grenze ging das bis August 1961 nur noch über West-Berlin. Die Ungeduldigen, die Hoffnungslosen hatten also eine Möglichkeit, der Diktatur zu entfliehen und nutzten sie. Und während sich die anderen aus Überzeugung, Opportunismus, Heimatliebe, Hoffnung, Geduld und familiären Bindungen in der DDR einrichteten, demonstrierten am 17. Juni 1953 zehntausende Menschen in den ostdeutschen Städten für Demokratie. Deren Geduld war nämlich auch erschöpft. Was am Vortag in Ostberlin als Protestzug einiger tausend Bauarbeiter gegen die Normerhöhung begann, entwickelte sich schnell zum Flächenbrand, den nur sowjetische Panzer stoppen konnten – nicht die SED-Machthaber.
Selbst die nachwachsenden Generationen, die Jugend in der DDR, wollten sich lieber zwanglos für eigene kulturelle Vorlieben entscheiden, anstatt diese von »oben« verordnet zu bekommen. Darum eiferten zahllose Ost-Jugendliche lieber Elvis Presley oder James Dean nach anstatt Ernst Thälmann oder Erich Honecker. Und die erzwungene »Bruderliebe« zur Sowjetunion war nichts gegen die Liebe, die die jungen Menschen im Osten in den 1960er Jahren für die Musik der Beatles oder Rolling Stones empfanden. In den 1980er Jahren wurde es mit westlicher Musik, mit Punk, New Wave, Hip-Hop, Heavy Metal und Pop erst richtig unübersichtlich …
Die Aufbaujahre überdeckten noch viele politische Widersprüche, und auch nach dem Berliner Mauerbau 1961 schien kurzzeitig in der DDR politisches Tauwetter in Sicht. Die Hoffnung vieler Menschen war, dass sich das Land wirtschaftlich und politisch liberalisieren würde. Beispiele fanden sich in den 1960er Jahren einige. Nach den Verunsicherungen der 1950er Jahre hatte die SED nicht zuletzt durch den Mauerbau zu neuem Selbstbewusstsein gefunden und gab sich zeitweise etwas lockerer. Das zum Deutschlandtreffen der Jugend im Ostteil Berlins gegründete Jugendradio DT64 spielte im Mai 1964 internationale Beat-Musik und traf den Nerv der Teens und Twens, überall gründeten sich Beat-Bands in der DDR, die sich großer Beliebtheit erfreuten. DEFA-Regisseure produzierten kritische Filme über das Leben und Arbeiten in der DDR, die den Menschen aus der Seele sprachen. »Spur der Steine« mit Manfred Krug ist eines der bekanntesten Beispiele dafür. Doch sobald die Obrigkeit merkte, dass diese kleinen Freiheiten die Macht untergraben könnten, zog man sie schnell wieder zurück.
Zu einer Zäsur kam es im Sommer 1968 im Nachbarland Tschechoslowakei. Dort blühten seit Beginn des Jahres im Prager Frühling zarte Pflanzen eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Die tschechoslowakischen Kommunisten wagten das Experiment und begeisterten nicht nur das eigene Volk, sondern auch zahlreiche hoffnungsvolle Menschen in Ost und West. Das könnte der Ausweg aus dem diktatorischen Staatssozialismus stalinistischer Prägung sein, ein neuer Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaftsform, von der in jenem Jahr 1968 nicht nur Studenten überall auf der Welt träumten. Aber die Eigenmächtigkeit der ČSSR wurde der sowjetischen Führung schnell unheimlich, und am 21. August rollten die Panzer über den Wenzelsplatz. Dem Prager Frühling folgte sibirischer Winter. Doch die Idee eines demokratischen Sozialismus hatte zahllose Menschen auch in der DDR begeistert und ihnen Hoffnung gegeben. Eine Alternative schien möglich, warum nicht noch einmal?
Und neue Hoffnung kam auf. Als 1971 der allseits geradezu verhasste Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht von Erich Honecker abgelöst wurde, schien die DDR wieder etwas mehr aufzublühen. Westliche Musik war von den Oberen nicht mehr ganz so verschmäht, selbst das offiziell verpönte Westfernsehen wurde jetzt mehr oder weniger toleriert. Aus Mangel an Alternativen richteten sich die Menschen ein im real existierenden Sozialismus. Der bescheiden wachsende Wohlstand war zwar immer noch nicht mit dem Lebensstandard im Westen vergleichbar, aber der...