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Einleitung
Die Forensische Psychiatrie ist in vielerlei Hinsicht mit Sucht konfrontiert, wobei sich dieser Band auf die stoffgebundenen Süchte beschränkt. Auch wenn forensisch-psychiatrische Zusammenhänge verschiedene Rechtsbereiche tangieren, liegt der Schwerpunkt dieses Buchs auf strafrechtlichen Aspekten. Auf wichtige Fragestellungen anderer Gebiete, wie beispielsweise im Sozialrecht oder Betreuungsrecht, wird jedoch auch eingegangen.
Das Hauptanliegen ist die Vermittlung von Grundlagenwissen für die verschiedenen Berufsgruppen, die in der Praxis mit Menschen arbeiten, welche Drogen konsumieren und strafbares Verhalten zeigen. Dabei scheint die adressierte Leserschaft ebenso breit gefächert, vom ambulanten Suchtberater über Mitarbeiter der Justiz bis zur interdisziplinären Belegschaft einer Klinik des Maßregelvollzugs, wie die Facetten von Menschen, die im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum delinquent handeln. Wir wollen den verschiedenen Lesern die jeweils fachfremden Zusammenhänge verständlich aufzeigen und somit den alltäglichen Dialog zwischen Medizinern und Juristen, Bewährungshelfern und Suchtberatung, allgemeiner und Forensischer Psychiatrie etc. vereinfachen, versachlichen und nicht zuletzt auch Ressentiments ausräumen, welche aus unrealistischen Erwartungen aneinander resultieren. Letztlich soll es darum gehen, anhand fachübergreifender Informationen aus Medizin, Soziologie, Kriminologie und Justiz ein erweitertes Fallverständnis für die Klienten zu ermöglichen und einen sachgerechten und fortschrittlichen Umgang mit ihnen zu fördern.
Die einzelnen Kapitel des Buchs werden thematisch kurz vorgestellt, da sie durchaus separat und je nach individuellem Interessengebiet gelesen werden können. Wir hoffen, für jede Berufsgruppe erstmalige, vertiefende oder auch Zusammenhänge herstellende Informationen zusammengestellt zu haben.
Die Einleitung nimmt zunächst kapitelübergreifende Definitionen und Sachverhalte vorweg, welche die Einbettung einzelner Kapitel in das gesamte Thema erleichtern sollen. Vielfach verwendete Gesetzestexte sind mannigfaltig im Internet abrufbar, eine Aufführung im Anhang ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Im zweiten Kapitel werden anhand eines anonymisierten Fallbeispiels das individuelle Ausmaß von Sucht und Kriminalität einerseits und die Tragweite gesellschaftlicher Zusammenhänge mit Beteiligung unterschiedlichster Berufsgruppen andererseits dargestellt. Das dritte Kapitel berichtet Ergebnisse zur Häufigkeit von Suchtmittelkonsum und -abhängigkeit sowie Zahlen und Kennwerte zur Delinquenz. Dabei wird von der Allgemeinbevölkerung hin zu spezielleren Stichproben vorgegangen, damit ein möglichst ganzheitliches Bild über die Umfänge entstehen kann. Im vierten Kapitel werden zu Beginn Definitionen und Einteilungshilfen für suchtspezifische Begriffe wie Substanzwirkungen und Suchtfolgen erläutert, um auch nicht klinisch tätigen Personen über das Alltagsverständnis hinaus detaillierte Vorstellungen hierzu zu ermöglichen. Des Weiteren kann der Leser hier einen Überblick gewinnen, welche Informationen bislang zum Verlauf von Sucht und Delinquenz über die Lebensspanne vorliegen. Kapitel fünf beschäftigt sich mit der Frage, wie Sucht, Delinquenz und das Zusammentreffen von beiden entstehen könnte. Die aufgezeigten Vorstellungen können dabei allerdings nur die theoretischen Grundannahmen verständlich machen, eindeutige Ursache-Wirkungs-Nachweise sind auf diesem Gebiet erwartungsgemäß ausstehend. Im sechsten Kapitel beschäftigen wir uns mit speziellen forensischen Fragestellungen an psychiatrische Sachverständige in verschiedenen Gerichtsfragen. Neben den Aspekten zum Strafrecht, wie beispielsweise die Frage zur Schuldfähigkeit oder Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, werden auch zivil- und sozialrechtliche Belange, die Fahreignung und Gewahrsamssowie Verhandlungsfähigkeit bearbeitet. Das Kapitel ist auch geeignet, die Möglichkeiten und Grenzen forensischer Sachverständigentätigkeit zu verstehen. Das siebte Kapitel beschreibt relevante Reaktionsmöglichkeiten auf Sucht und Kriminalität im forensischen Kontext mit Ergänzungen um gesellschaftliche Blickwinkel. Im achten Kapitel wird dann darauf eingegangen, welche Möglichkeiten der Vorbeugung bestehen, und zwar auf jeweils unterschiedlichen Ebenen der Entwicklungsverläufe von Sucht und Delinquenz. Kapitel neun nähert sich dem Thema ergänzend aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht. Im zehnten Kapitel wird die Notwendigkeit des interdisziplinären Austauschs erläutert und ein Ausblick zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB aus Sicht der Autoren gegeben.
1.1 Sucht – Drogen – psychotrope Substanzen
Pragmatisch und allgemein zitiert Tretter (2012, S. 5) den Suchtforscher Wanke1: »Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Es verhindert die freie Entfaltung der Persönlichkeit und mindert die sozialen Chancen des Individuums.«. Dieser seelische Erlebniszustand wird häufig durch Substanzen herbeigeführt, die folglich psychoaktiv oder psychotrop genannt werden. Etwas Verwirrung kann die Unterscheidung der Begriffe Sucht, Missbrauch, Abhängigkeit oder neuerdings Substanzkonsumstörung (Falkai und Wittchen 2015) stiften. Dabei kann es im allgemeinen Sprachgebrauch ausreichen, die Begriffe synonym zu verwenden, bei konkreteren Fragestellungen sind dann Differenzierungen sinnvoll. Auf dem Kontinuum von Abstinenz – Gelegenheitskonsum – Gewohnheitskonsum – Missbrauch/schädlicher Gebrauch – Abhängigkeit umfasst der ältere Suchtbegriff den Missbrauch/schädlichen Gebrauch und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen. Für klinische und wissenschaftliche Zwecke bedarf es einer scharf begrenzten Definition und so ist das Abhängigkeitssyndrom im ICD-10 (Dilling et al. 2006) durch folgende Kriterien definiert, wovon mindestens drei zusammen einen Monat vorgelegen haben sollten:
1. starkes Verlangen oder Zwang zum Substanzkonsum,
2. verminderte Kontrolle über Beginn, Ende oder Menge des Konsums,
3. körperliche Entzugssymptome,
4. Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz,
5. Einengung von Interessen und Aktivitäten auf Substanzgebrauch,
6. anhaltender Konsum trotz eindeutig schädlicher Folgen.
Letzteres Kriterium definiert unter anderem den Begriff des schädlichen Gebrauchs. Aufgrund der Erkenntnisse zu Ursachen, Symptomen, Verlauf, Therapiemöglichkeiten und Prognose gilt Sucht allgemein und die Abhängigkeit von einer psychotropen Substanz im Speziellen als abgrenzbares, eigenständiges psychiatrisches Krankheitsbild. Der Begriff Drogen wird allgemein synonym für psychotrope Substanzen gebraucht, unterliegt damit aber auch den Vorstellungen und Bewertungen der Allgemeinheit. Demnach zählen Alkohol und Nikotin wohl zu den mengenmäßig relevantesten psychotropen Substanzen, diese würden aber allgemein weit hinter Heroin, Cannabis, Kokain, Amphetaminen etc. als Drogen benannt.
Merke
Sucht beschreibt allgemein Erlebnis- und Verhaltensweisen sowie Konsequenzen, die aus der Umsetzung eines unabweisbaren Verlangens resultieren. Dieser breite Begriff umfasst auch die konkreten Begriffe schädlicher Gebrauch/Missbrauch und Abhängigkeit. Für Praxis und Forschung existieren gegenwärtig ein dimensionales Modell der Substanzkonsumstörung (DSM-5) mit Kontinuum zwischen schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit sowie ein kategoriales Modell (ICD-10) mit Abgrenzung schädlichen Gebrauchs von Abhängigkeit.
1.2 Devianz – Delinquenz – Kriminalität – Kriminalisierung – Sozialkontrolle
Das gesellschaftliche Zusammenleben im Sozial- und Rechtsstaat erfordert von dessen Bürgern ein Verständnis der gemeinsamen Normen und Wertvorstellungen. Verhaltensweisen, die nicht normkonform sind, werden zunächst als abweichend oder deviant beschrieben. Devianz kann somit auf mannigfaltige Weise vorliegen. Demgegenüber ist der unscharfe Begriff Delinquenz eher reserviert für den soziologischen Verbrechensbegriff, wird für per se rechtlich relevantes Fehlverhalten gebraucht und häufig synonym mit Kriminalität verwendet. Letztere definiert sich jedoch streng genommen am geltenden Strafrecht. Für besonders schützenswerte Rechtsgüter, bspw. Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, werden im Strafgesetzbuch (StGB) Tatbestände und Sanktionen als Gesetze verankert und somit wird eine...