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E-Book

Mit dem Feind leben

Alltag im Ersten Weltkrieg

AutorRichard van Emden
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783455851113
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ein Fußballspiel zwischen den Frontlinien, eine ungenehmigte Waffenruhe und gemeinsames Feiern am Heiligen Abend 1914: Deutsche und Alliierte begegneten sich im Ersten Weltkrieg nicht nur als Feinde. Anhand unveröffentlichter Zeugnisse, Briefe und Tagebücher spürt Richard van Emden viele solcher unerwarteten Momente auf, in denen sie sich als Menschen ohne Waffen gegenüber stehen. Er zeichnet viele persönliche Schicksale nach und zeigt, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg für den Einzelnen und das Zusammenleben im Alltag abseits der Front hatte.

Richard van Emden, britischer Historiker und Journalist, ist Experte für den Ersten Weltkrieg. Er führte Interviews mit über 270 Veteranen und forschte in deutschen und britischen Archiven. Seine Bücher Boy Soldiers und The Last Fighting Tommy waren in England große Bestseller-Erfolge. Als Autor mehrerer TV-Dokumentationen über den Ersten Weltkrieg war er u. a. für die BBC tätig. Er lebt mit seiner Familie in London.

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Leseprobe

Einleitung


Captain Robert Campbell waren die Hände gebunden. Im August 1914 war er während der Schlacht bei Mons schwer verwundet und gefangengenommen worden. Seit knapp zwei Jahren befand er sich nun schon im Kriegsgefangenenlager von Magdeburg. In dieser Zeit hatte er sich mehrerer äußerst schmerzhafter Operationen im Gesicht und am Arm unterziehen müssen. Jetzt hatte er zu allem Überfluss noch aus einem Brief seiner Schwester Gladys in England erfahren, dass ihre Mutter Louisa Campbell im Sterben lag.

Der Lagerkommandant in Magdeburg war ein prima Kerl, sofern man das von einem Mann mit einem solchen Posten sagen konnte. Trotz der Umstände hatte Campbell ihn ein wenig kennengelernt. Als er von den schlechten Nachrichten erfuhr, gewährte er dem gefangenen Briten mehr als nur sein Mitgefühl. Er schlug dem Briten vor, an den deutschen Kaiser zu schreiben und ihn um Sonderurlaub zu bitten; dann könne er heimkehren und seine Mutter besuchen. Der Kommandant wollte den Antrag nach oben weiterleiten und sich dafür einsetzen, dass Campbell die Bitte gewährt werde.

Was niemand erwartet hatte, geschah: Es kam eine Antwort. Die höchsten Kommandostellen gestatteten Captain Campbell, das Kriegsgefangenenlager für zwei Wochen zu verlassen. Sofern er sich mit seinem Ehrenwort zur Rückkehr verpflichte, könne er durch Deutschland und Holland nach England reisen.

Campbell machte sich auf den Weg und traf am 7. Dezember 1916 in Gravesend ein. Wie Louisa die überraschende Heimkehr ihres Sohnes aufnahm, kann man sich leicht vorstellen. Leider verstarb sie im darauffolgenden Februar.

 

Während sich Robert noch bei seiner kranken Mutter befand, erhielt das deutsche Reichsamt für Auswärtiges einen Brief von einem gewissen Friedrich Gastreich aus dem Städtchen Kirchhundem im Sauerland. Seine Frau Anna litt an Tuberkulose und einer akuten Lungenentzündung, und ihr Sohn saß wie Captain Campbell in einem feindlichen Kriegsgefangenenlager. Der fünfundzwanzigjährige Peter Gastreich war in Knockaloe auf der Isle of Man interniert. Ob es wohl möglich sei, fragte der Vater, für den Sohn eine Sondererlaubnis zu erwirken, damit er nach Deutschland kommen könne?

Das Kaiserliche Reichsamt für Auswärtiges leitete das Anliegen über die Vermittlung der Vereinigten Staaten nach Großbritannien weiter. Die Deutschen appellierten mit Hinweis auf den Campbell gewährten Urlaub an den britischen Sinn für Fair Play. Doch die Briten gingen nicht darauf ein. »Entlassung von P. Gastreich kann nicht gewährt werden. Capt. Campbells Fall darf nicht als Präzedenzfall dienen«, hielt der Beamte des britischen Außenministeriums in einer Aktennotiz fest. Gastreich blieb, wo er war, und seine Mutter starb bereits eine Woche nach dem Antrag, was die britische Regierung jedoch nicht wusste, als sie ihre Entscheidung traf.

Wegen ihrer Weigerung, sich erkenntlich zu zeigen, blieb dies der einzige Versuch eines »kurzzeitigen Gefangenenaustauschs«. Im Oktober 1917 baten die Angehörigen des gefangenen Offiziers Captain Bushby Erskine wegen ähnlich gelagerter Umstände um eine zeitlich befristete Entlassung für ihn. Die Regierungsstellen antworteten der Familie höflich, aber ablehnend. »In einem einmaligen Fall gewährte Deutschland einem britischen Offizier Urlaub, um in sein Land zurückzukehren, jedoch ohne uns zuvor konsultiert zu haben. Seither beruft man sich auf diesen Fall, wenn deutsche Offiziere einen Besuch in Deutschland beantragen. Dem kann jedoch keinesfalls entsprochen werden.« Der Brief wurde Captain Erskines Vater von seiner Nichte weitergeleitet. Sie schrieb an das britische Außenministerium: »Ich fürchte, die Enttäuschung wird ihm [Erskines Vater] schwer zu schaffen machen, wurde ihm von unverantwortlichen Leuten doch eingeredet, dass man seinen Sohn ›auf Urlaub‹ heimkehren lassen werde.«

Captain Robert Campbell

(Copyright © Surrey History Centre – ESR/25/STONHF/I)

Zweifellos hatte Captain Campbell riesiges Glück gehabt. In der britischen Presse wurde über seine außergewöhnliche Heimkehr nicht berichtet; das offenbar spontane Entgegenkommen des deutschen Kaisers passte 1916 nicht in die Kriegsnachrichten. Die Erskines konnten also nur durch private Kontakte von Campbells Fall erfahren haben.

Was Campbell betrifft, so hätte ihm wohl niemand einen Vorwurf gemacht, wenn er in England bei seiner kranken Mutter geblieben wäre. Er hielt jedoch Wort und kehrte pünktlich ins Kriegsgefangenenlager zurück. Nachdem er sein Ehrenwort eingelöst hatte, unternahm er im darauffolgenden Jahr einen Fluchtversuch, wurde jedoch an der holländischen Grenze wieder ergriffen. Darauf blieb er bis zum Kriegsende in Deutschland.

 

Vor Ausbruch des Krieges bestanden zwischen Großbritannien und Deutschland außerordentlich enge gesellschaftliche, kulturelle und militärische Beziehungen. Nach russischen Juden und Iren bildeten die Deutschen bis 1914 die drittgrößte Einwanderergemeinde in Großbritannien, sie gründeten Handels- und Industrieunternehmen. Außerdem hatten sie unter den Ausländern anteilsmäßig die meisten Studenten: Neben lediglich drei Franzosen legten 1912 dreiundvierzig Deutsche in Oxford ihre Abschlussprüfung ab. Unter den Angestellten der vornehmsten Hotels und Restaurants in London und gerade in den Servicebereichen befanden sich auffällig viele Deutsche (sie stellten zehn Prozent der Londoner Kellner). Deutsche heirateten englische Partner, ließen sich in England nieder und gründeten Familien. Und auch in Akademiker-, Musiker- und Schriftstellerkreisen bewegten sich viele Deutsche.

Bei den Streitkräften waren die Kontakte besonders eng. Kaiser Wilhelm war Ehrenoberst eines britischen Regiments, der 1st (Royal) Dragoons, in deren Paradeuniform er während eines Privatbesuchs 1894 in Aldershot fotografiert wurde. Durch den deutschen Militärattaché in London hielt er Kontakt mit dem Regiment, dessen Kommandeur, Colonel George Steele, ihm regelmäßig Grüße und Nachrichten aus seiner Einheit schickte. Noch am 3. Juni 1914 nahmen die Dragoons an einer Militärparade zur Feier des kaiserlichen Geburtstags teil. Jedes Jahr sandte Wilhelm II. »seinem« Regiment zum Andenken an die Schlacht von Waterloo einen Lorbeerkranz. Colonel Steele bedankte sich beim Kaiser für dessen »unerschöpfliche Güte« und schrieb: »Ich möchte im Namen aller Ränge des Regiments die Hoffnung ausdrücken, dass unser Ehrenoberst uns im nächsten Jahr [1915] anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Schlacht noch eine größere Gunst zuteil werden lässt und höchstpersönlich unsere Standarte mit dem Kranz schmücken wird.«

Neben dem deutschen Kaiser aber gab es auch noch viele weitere Militärs, die von ihren britischen Kollegen eingeladen wurden. Einen Monat vor Kriegsausbruch verbrachte der deutsche Militärattaché in London ein Wochenende in den Kasernen der 4th (Royal Irish) Dragoon Guards. Und Prinz Heinrich, ein jüngerer Bruder des Kaisers und Marineoffizier, wollte Ende Juli 1914 gemeinsam mit Admiral James Butler, dem 3. Marquess of Ormonde, die Cowes Week, eine Segelregatta vor der Isle of Wight, besuchen. Als sich die Vorkriegskrise immer weiter verschärfte, kabelte er schweren Herzens eine Absage. »Au revoir, hoffe ich doch«, schrieb er seinem Freund.

Aber die Briten reisten ebenfalls nach Deutschland. Für einen aufstrebenden britischen Geschäftsmann war es beinahe schon ein Muss, die Sprache und das Geschäftsethos dieser bedeutenden Handelsnation durch einen Aufenthalt in Deutschland kennenzulernen. Junge Briten studierten an so renommierten Universitäten wie Göttingen und Münster. Im Jahr 1911 gründete der Unternehmer Sir Ernest Cassel, ein in Köln geborener naturalisierter britischer Staatsangehöriger und enger Freund des britischen Monarchen, die »King Edward VII British-German Foundation«. Sie ermöglichte jungen Briten und Deutschen ein einjähriges Studium im jeweils anderen Land, um ein besseres Verständnis zwischen den beiden Staaten zu fördern.

Die gesellschaftlichen Kontakte in den vornehmsten Kreisen waren eng, wie sich an den vielen Ehen erkennen ließ. Kaiser Wilhelm II. war ein Enkelsohn von Königin Victoria, die selbst mit dem Deutschen Albert von Sachsen-Coburg-Gotha verheiratet gewesen war und eine deutsche Mutter hatte (Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld). In den Hofnachrichten in der Times las man immer wieder von England-Aufenthalten deutscher Prinzen und Grafen, die die Theater und die Oper in London besuchten. Der deutsche Kaiser reiste in der Zeit zwischen seiner Thronbesteigung 1888 und dem Kriegsausbruch mehrfach nach England, und sowohl Edward VII. als auch George V. erwiderten seine Besuche. König George kam sogar noch im Mai 1913 nach Deutschland.

 

Trotz dieser Nähe entwickelte sich allerdings auch ein gewisses Maß an Feindseligkeit. Dank der geschickten Führung Bismarcks, dem Gründervater des Deutschen Reichs, hatte Deutschland seit den 1870er-Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Kaiser Wilhelm II. war jedoch von einem ganz anderen Schlag als seine Vorgänger. Bald nach seiner Thronbesteigung entließ er den in die Jahre gekommenen Reichskanzler und übte immer größeren Einfluss auf die Regierung aus – vor allem auch auf Bismarcks Nachfolger, die...

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