Regen
26. November, Oviedo → St. Jean de Villapanada
Wir haben unsere Rucksäcke gepackt, es ist kurz nach 8 Uhr und wir werfen einen Blick durch die Tür hinaus. Ich sehe nur Schwärze. Ein Regenschauer geht nieder.
»Wir gehen jetzt los. Kommst du nicht mit?«
»Wenn es etwas heller geworden ist«, murmele ich demotiviert, »und der Regen nachlässt.«
»Na dann – sehen wir uns heute Abend«, verabschieden sich die beiden Franzosen freundlich.
Ich schließe die Tür wieder und setze meinen Rucksack ab. Nein, das muss nicht sein, nicht für mich. Gleich beim ersten Schritt vor die Tür habe ich nasse Kälte gefühlt, die unangenehm in den Nacken kriecht. Eilig habe ich es nicht und fläze mich zurück auf das Bett. Das tut gut, da ich noch etwas müde von der langen Anfahrt bin.
Eine Stunde später spähe ich durch das Fenster. Auf der Scheibe lassen sich keine neuen Regentropfen nieder, die Morgendämmerung bricht herein. Freude regt sich bei mir – ich habe das große Los gezogen! Heute werde ich wieder auf dem Camino sein: dem Weg des Mythos, dem Pfad der Legenden und Abenteuer durch Spanien. Wie bedrückt habe ich mich die letzten Monate gefühlt, wie ein Vogel im Käfig. Wie fieberte ich dieser Wanderung entgegen, häufig mit dem Gedanken beschäftigt, zurückzukehren. Nun ist es wahr geworden: ich bin hier. Glückselig wie ein Erleuchteter verlasse ich die Herberge, genieße jeden Schritt durch die Stadt, schwebe an den Bauwerken im Jugendstil vorbei, während am Horizont die friedlichen Riesen der Picos de Europa über allem thronen.
Oviedo habe ich bald verlassen und der Pfad führt hinauf in eine leicht alpine grüne Landschaft, die mich an Österreich erinnert. Rinder beobachten mich neugierig mit großen Augen und mampfen friedlich, als ich an ihren Feldern vorbeimarschiere.
Ich bin auf dem Camino! Die gelben Pfeile, die Muschelsymbole, alles ist da. Was brauche ich mehr? Es kommt mir so vor, als wäre es meine eigentliche Heimat. Jetzt bin ich wirklich angekommen, es ist wundervoll. Endlich zurück. Mein Körper und mein Geist haben sich wiedergefunden. Ich fühle mich wie der ewig lächelnde Buddha. Glückselig. Vollkommen.
Auf einem Serpentinenpfad hole ich zwei Pilgerinnen mittleren Alters ein, die sich sogleich vorstellen: sie kämen aus Mallorca und Madrid, hätten sich in Oviedo verabredet und würden den Camino ohne Zeitdruck gemütlich angehen. Da die beiden Spanierinnen tatsächlich sehr langsam unterwegs sind, verabschiede ich mich nach der kurzen Unterhaltung wieder. Asturien wäre ihre »kleine Schweiz«, hatte die Pilgerin aus Madrid erzählt. Die Bezeichnung finde ich sehr passend für diese Gebirgslandschaft. Bald geht es abwärts, einem mäandernden Bach folgend, durch einen Kastanienwald. Gerade zur richtigen Jahreszeit, denn eine Menge Esskastanien liegen direkt auf dem Weg. Eifrig sammle ich, fülle eine ganze Tüte und habe einen großzügigen Vorrat. Da ich mich auf der letzten Wanderung im vergangenen Sommer häufig von Brombeeren ernähren konnte, hatte ich mich zuletzt gefragt, mit welcher Nahrung sich der »primitive« Pilger im Winter versorgen kann. Die Frage ist beantwortet: es gibt Kastanien in Hülle und Fülle.
Zugvögel haben sich in den Sträuchern versammelt und debattieren mit wildem Gezwitscher. Einen Augenblick später, wie auf ein Kommando, erheben sie sich mit kräftigem Flügelschlag, finden zu einem Schwarm zusammen und schweben einen Moment über mir. Sie ziehen nach Süden. Es sind die ersten Vorboten des Winters.
Irgendwo bin ich falsch abgebogen, weitere Wegmarkierungen fehlen. Das letzte Muschelsymbol an einer Gabelung war nicht ergänzt mit einem gelben Pfeil. So musste ich raten, welche Abzweigung die Richtige ist. Egal. Wichtig ist, dass ich unterwegs bin. Mir kommt eine spirituelle Erleuchtung: man muss nicht immer vorgegebenen Pfaden folgen. Wenn man weiß, wo man hin will, ist man auf dem richtigen Weg. Der Camino ist überall. Außerdem habe ich ein Smartphone mit GPS, bin nicht orientierungslos und kann meine Schritte in Richtung der nächsten Siedlung lenken.
Rechts des Weges, so besagt ein Schild, befänden sich Überbleibsel einer mittelalterlichen Siedlung. Vereinzelte Steine, die aus einer grünen Wiese herausragen. Man braucht viel Phantasie, um sich eine Ruine vorzustellen.
Als ich die Muschelsymbole und somit den Camino wiedergefunden habe, ist der Fußweg mit Quadern aus Sandstein gepflastert. Eine alte Römerstraße muss dieser Pfad durch den Wald sein, vermute ich, als ich plötzlich Getrappel von Hufen höre. Hinter einem Zaun erscheinen zwei Pferde und beobachten mich neugierig. Als ich meinen Weg fortsetze, laufen sie hinter ihrem Zaun parallel nebenher, bleiben kurz stehen, trappeln weiter und blicken mich erneut an. Was wollen die Beiden? Etwas zum Knabbern? Kastanien hätte ich anzubieten. Ob die so etwas vertragen? Was, wenn sie sich den Magen daran verderben? Vielleicht sind es wertvolle Reitpferde, gezüchtet für Milliardäre in Dubai. Dann könnte das teuer werden. Nein, lieber mampfe ich alle Kastanien selbst. Der Wald mündet in eine Lichtung, dort endet das eingezäunte Gelände und meine unermüdlichen Begleiter müssen zurückbleiben.
Eine Gabelung mit Wegweisern folgt: Der Camino de Santiago direkt geradeaus oder ein Camino zu irgendwelchen Ruinas Romanas linker Hand. Darunter ist angegeben, dies wären 2 km Umweg. Nicht zu viel, um mir römische Ruinen entgehen zu lassen. Etwas versteckt hinter einer Kirche entdecke ich sie auch: das Kellergewölbe einer kleinen Römertherme, ein Raum von maximal einem Meter Höhe, in dem das Feuer von Sklaven geschürt werden musste, damit die Herren darüber es schön warm hatten. Vor zweitausend Jahren. Spektakulär sind diese Ruinen jedoch nicht.
Bald rücken die Berge von beiden Seiten zusammen und ich wandere durch einen Canyon. Durch Ortschaften, die aus einem oder zwei Gebäuden bestehen und so kann ich häufig zwei Schilder, die den Ortsanfang und das Ortsende markieren, gleichzeitig sehen.
Bis Grado bin ich trockenen Fußes vorangekommen, jetzt öffnet der Himmel seine Schleusen und es stellt sich heraus: es ist sehr vorteilhaft, dass dieser geliehene Rucksack einen integrierten Sackschutz hat. Gegen den Regen.
Grado ist nicht gerade eine Stadt, die man gesehen haben muss: Beton, besprüht mit Graffiti. Nach einer kurzen Rast bei Tortilla und Bier setze ich meinen Weg fort, es geht eine Weile aufwärts, später muss ich eine neugebaute Autobahn umständlich umwandern, um die Herberge von St. Jean de Villapanada zu erreichen, wo mein Weg jedoch vor einer verriegelten Tür endet. Bibbernd stehe ich davor und werde unerbittlich von oben nasskalt getauft. Ich klopfe. Nach einer Weile wird die Tür geöffnet und die beiden Franzosen begrüßen mich, denen es aber nicht gerade gut zu gehen scheint. Mittags, so erzählen sie, hätten sie sich frittiertes Huhn als Mahlzeit gegönnt, das wohl nicht ganz frisch gewesen wäre. Abwechselnd begeben sie sich jede halbe Stunde in die sanitären Einrichtungen, worauf ein lautes Gurgeln zu hören ist.
Als sie sich etwas besser fühlen, erscheint der Herbergsverwalter und erklärt uns die Einrichtung des Hauses. Zuerst die elektrische Installation. Die ist etwas schwachbrüstig: will man in der Küche etwas zubereiten, darf man nur eine einzelne Platte oder nur den Backofen benutzen. Zuvor muss man alle anderen Geräte ausschalten, vor allem den Kaffeeautomaten. Gleichzeitig darf keiner im Bad heiß duschen, da sonst der elektrische Durchlauferhitzer anspringt, was die Sicherungen überfordert.
Immer wieder Kurzschluss und wir stehen im Dunklen. Uns wird daher erklärt, wo der Sicherungskasten zu finden ist.
Der Hospilero sagt, er würde nun gerne unsere Reiseführer sehen. Ich reiche ihm etwas verschämt meine ausgedruckten Zettel mit der Liste der Herbergen, weil mir gerade auffällt: ein Teil scheint verloren gegangen zu sein. Nach einer kurzen Durchsicht sagt er vorwurfsvoll zu mir: meine Planung für den Weg wäre sehr, sehr, sehr schlecht. Genau so hatte ich mir das ja vorgenommen: nur das Nötigste planen, mich einer Herausforderung stellen und vielleicht ein Abenteuer erleben …
Aus einem Ordner zückt er Karten mit Etappenplänen, hält geduldig einen Vortrag über verschiedene Details des vor uns liegenden Weges, gibt Empfehlungen für Tagesetappen und erstellt mir eine schriftliche Liste mit Entfernungen, sowie den Herbergen auf dem Weg. Die französischen Pilger hören gespannt zu, erwidern jedoch: so viel Zeit hätten sie nicht, denn nach den vorgeschlagenen Etappen kämen sie zwei Tage zu spät in Santiago an und würden den Zug verpassen, den sie schon gebucht hätten. Der Hospitalero blickt immer nachdenklicher auf die Etappenpläne und zuckt nach einer Weile mit den Schultern. Man könnte ja die eine oder andere Strecke mit dem Bus abkürzen, sagt er schließlich. Bevor er vom Tisch aufsteht, zieht er eine besorgte Miene, zeigt auf der Karte an eine Stelle, bei der zwei Alternativwege eingezeichnet sind und spricht eine eindringliche Warnung aus: »Nehmt auf keinen Fall diese Variante. Der Weg ist gefährlich. Biegt dort links ab und wählt den längeren Weg über die Serpentinen. Nehmt auf keinen Fall den direkten Weg über den Pass!«
Als sich draußen das Dunkel der Nacht durchgesetzt hat und ich mit den Franzosen wieder allein bin, mampfen wir zusammen die gerösteten Kastanien und diskutieren eine Weile über die Wegplanung. Draußen regnet es immer noch in Strömen, als wir...