5. Kapitel
EIn unanGenehmes Zusammentreffen
27. Juni 2016, Kanada, British Columbia, in der Nähe von Hills, Meilenstand: 225 676
»Gibt es hier wirklich schon Bären?« Paula starrte aus dem Fenster, während Emma sich die Kopfhörer ihres MP3-Players über die Ohren schob und auf dem kleinen Display nach der passenden Geschichte suchte. Vor knapp fünf Jahren hatten wir in den ganzen drei Monaten, die wir damals quer durch Kanada gereist waren, keinen einzigen Bären zu Gesicht bekommen. Jetzt konnten es die Mädchen kaum erwarten, endlich hoch in den Norden zu kommen, dorthin, wo die Anzahl der Bären im Gegensatz zur Bevölkerungsdichte stetig anstieg.
»Klar.« Ich nickte.
Nachdenklich starrte Paula in das dichte Grün, das an uns vorbeirauschte, und betrachtete die Wildnis mit interessierter Aufmerksamkeit.
»Welche denn?«
»Grizzlys und Schwarzbären. Aber ich glaube nicht, dass wir welche sehen, Bärenbegegnungen sind eher selten.«
Für den Moment schien sie zufrieden und lehnte sich gähnend an die kalte Scheibe.
Inzwischen war es schon ziemlich spät geworden, die Sonne begann langsam zu sinken, und ein zarter rosa Hauch breitete sich über den Himmel, wurde nach und nach dunkler. Das bisher noch leuchtende Grün der vielen Bäume verwandelte sich in ein finsteres Grau, das zu beiden Seiten die Straße begrenzte. Der Lichtkegel, den die großen Scheinwerfer des Busses auf die Straße warfen, war lächerlich schwach, die Sicht wurde von Minute zu Minute schlechter, und als Paula auch noch übel wurde, beschlossen wir, die Nacht abzuwarten, bevor wir unseren Weg fortsetzen würden. Also lenkte Tom unseren Frankie mit einem sanften Ruck von der Straße. Der Schotter knirschte unter den Reifen, und für einen Moment zweifelte ich daran, ob der kleine Parkstreifen, den wir neben der Straße entdeckt hatten, wohl lang genug sein würde, um unseren kompletten Elf-Meter-Bus darauf unterzubringen, aber eine größere Bucht hatten wir seit der Begegnung mit den Rockern nicht mehr gefunden. Immer weiter grub sich die gelbe Schnauze zwischen die Büsche, und als einige kleine Ästchen die Windschutzscheibe berührten, war endlich auch das letzte Stückchen unseres Vehikels von der Straße gerollt.
Dichter Wald umschloss uns wie ein Meer aus Bäumen, wie Wellen aus schimmerndem Grün, die über die Hügel flossen, und als Hintergrundmusik war das Keckern der Hörnchen und das Gezwitscher der vielen Vögel zu vernehmen. Nur eine halbe Stunde später waren wir schon in die Betten gekrochen und hatten uns in unsere warmen Decken gemummelt. Von draußen hörte ich eine Zeit lang noch das Zirpen einiger Zikaden, dann war ich eingeschlafen.
Gleich nach dem Aufwachen machte ich mich mit Laika auf den Weg in den Wald, wanderte leise vor mich hin summend auf einem zugewucherten Fußpfad, der hinter dem Bus in die Büsche führte, immer weiter in das dichte Gewirr von Dornenranken und Holunder. Der Morgen war kühl, und von dem dampfenden Boden stiegen weißliche Nebelschwaden auf und tauchten den soeben erwachenden Wald in ein unheimliches Zwielicht.
Vor mir wand sich der Pfad um eine enge Kurve, und ein leises Geräusch, das ich aus der Ferne hörte, ließ mich kurz innehalten. Was war das? Ein Bellen? Laika hob ihre Schnauze und witterte nervös. Wahrscheinlich ein Wanderer mit seinem Hund, dachte ich bei mir, Abdrücke von Hundepfoten hatte ich auf dem Weg etliche gesehen. Mein Summen wurde leiser, ich brummte nur noch vor mich hin, weil es mir schon immer unangenehm gewesen ist, im Beisein anderer zu singen. Aus dem Brummen wurde ein Flüstern, bis ich nach einigen Metern ganz verstummte. Ich zog Laika neben mich und verkürzte die Leine, während ich meinen Blick auf die Kurve richtete. Mit zwei schnellen Schritten umrundete ich die Biegung, erhob beinahe schon die Hand zum Gruß. Dann jedoch erstarrte ich. Am Rande der kleinen Lichtung hatte sich etwas bewegt, etwas Dunkles, Großes. Etwas, das nicht im Entferntesten an einen Wanderer erinnerte.
Eine ausgewachsene Schwarzbärin hatte ihren schweren Kopf gehoben und musterte mich, schien für einen kurzen Moment abschätzen zu wollen, ob ich für ihre zwei Jungen eine Bedrohung darstellte. Meine Gedanken begannen zu rasen, tausend Geschichten jagten durch meinen Kopf, Geschichten über angreifende Bärinnen, die wild entschlossen ihren Nachwuchs verteidigen, blutige Szenen wie aus Horrorfilmen, die ich in meiner Jugend aufgesogen hatte wie ein Schwamm das Spülwasser, Abenteuer in der Wildnis mit der reizvollen Würze von Gefahr.
Die reale Gefahr allerdings behagte mir weit weniger, jede einzelne Faser meines Körpers schien sich plötzlich zusammenzuziehen unter einem Schock von Adrenalin, und mit einem Mal war mein Kopf leer bis auf einen einzigen Gedanken: FLUCHT!
Wie von selbst begannen meine Beine zu laufen, ich warf mich herum und rannte, rannte wie noch nie in meinem Leben, und Laika schien wenigstens dies eine Mal mit mir einer Meinung zu sein. Klatschend und patschend hörte ich meine eigenen gehetzten Schritte in den Pfützen, neben mir das hechelnde Keuchen des Hundes. Das Wasser spritzte in Fontänen auf, während ich über den rutschigen Grund hastete, und ein blättriger Zweig streifte wie kalter Atem über die Haut meiner linken Wange. Weg, nur weg … Meter um Meter vergrößerte sich der Abstand zu der verhängnisvollen Lichtung.
Doch plötzlich überkam mich im Rennen ein noch heftigeres Gefühl der Panik, ein Gefühl unabwendbarer Gefahr, und mit einem kalten Schaudern drehte ich im Rennen für einen kurzen Augenblick den Kopf – und da sah ich sie. Die Bären waren mir auf den Fersen, und sosehr ich mich auch anstrengte, sie kamen mir näher und näher. Ich konnte die kleinen Atemwolken vor ihren Schnauzen in der kühlen Morgenluft sehen, und sogar die weichen Abdrücke der patschenden Tatzen, die sich hinter uns in den Waldboden drückten. Ich hatte Angst, schreckliche Angst. Da, endlich tauchte weit hinten das Ende des schmalen Pfads vor mir auf, hell leuchtete die Straße durch die kleine Öffnung zwischen den Bäumen, ein Licht am Ende des Tunnels, ein Funken Hoffnung in letzter Minute, aber im selben Augenblick wurde mir klar: Ich werde es nicht bis dorthin schaffen … unmöglich … gegen sie hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Sie würden mich erwischen, bevor ich in Sicherheit war.
»TOOOM, TOOOM, HIIILFEEEEE!«
Mein Schrei zerriss die Stille, hallte zwischen den dunklen Stämmen, deren Äste sich wie dürre Arme in meine Richtung streckten.
»HIIILFEEEEE, HILF MIR DOCH!«
Dann blieb mir die Luft weg. Japsend und kraftlos stolperte ich weiter. Es hatte sowieso keinen Sinn. Tom würde mich nicht hören können.
Der Waldrand war noch viel zu weit entfernt, die Bären waren zu schnell … sie würden mich einholen, und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.
Was aber, wenn sie mich erreicht hatten? Was, wenn die Bärin mich tatsächlich angriff?
Eine eiskalte Wut packte mich plötzlich, und ein Schrei explodierte in meinem Kopf: ICH WILL NICHT STERBEN! NICHT JETZT, NICHT HIER! Und vor allem NICHT SO!
Wir waren doch gerade erst losgefahren! Ganze neun Wochen hatten wir in einem kleinen Städtchen verbracht, hatten in der engen Garageneinfahrt von James und Mia in dem unfertigen Schulbus gehaust und dabei an dessen Innenausbau gearbeitet. Jetzt, nachdem wir es endlich geschafft und Zeit für Ruhe, Genießen und Relaxen hatten – was tat ich da? Hatte ich nichts Besseres zu tun, als mich sogleich und unbedacht einer unwägbaren Gefahr auszusetzen?!
Meine Gedanken ratterten. Ratschläge, die ich irgendwann einmal gehört hatte, hallten in meinem Kopf wie die Schläge einer gewaltigen Glocke, bis sich aus dem Chaos ein einzelner Befehl herauskristallisierte: »Nicht rennen … nicht rennen … n i c h t r e n n e n … NICHT RENNEN!« Das verzweifelte Patschen meiner Schritte wurde langsamer, unter größter Willensanstrengung verringerte ich mein Tempo, dann blieb ich stehen und drehte mich um.
Sie hatten mich fast eingeholt. Ich sah die Wassertröpfchen, die von ihrem zottigen Fell auf den Boden fielen, die geblähten Nüstern, die witternd die Luft einsaugten, und für einen winzigen Moment trafen sich unsere Blicke. »Groß machen!«, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, »Lärm!«, und langsam streckte ich meine Arme in die Höhe und holte tief Luft, doch ein leises »Buuuuuhhhh« war das Einzige, was ich zustande brachte, und auch Laika ließ nur ein halbherziges »Wuff« vernehmen. Auf die Reaktion der Bärin jedoch konnte und wollte ich nicht warten. Langsam drehte ich mich wieder um, machte einen unsicheren Schritt in Richtung Waldrand, dann noch einen und wieder einen, wartete auf den unvermeidlichen Angriff. Doch nichts passierte, und als ich mich das nächste Mal umdrehte, war die Bärin samt Jungen verschwunden.
Mit weichen Knien und einem flauen Gefühl im Magen kletterte ich nur wenige Minuten später in den Bus und ließ mich auf die Sitzbank am Tisch fallen.
»Da war ein Bär …« Ich zeigte nach draußen auf den Wald, und meine Finger zitterten.
Die Kaffeekanne auf dem Gasherd begann lauthals zu blubbern, und während der Duft von frisch gebrühtem Bohnenkaffee durch den Schulbus dampfte, kamen Emma und Paula begeistert aus dem Stockbett gekrochen.
»Was, Mama? Ein Bär?«
»Eine Bärin und zwei Junge …« Meine Stimme zitterte noch immer.
Anstatt mich zu bemitleiden, verschränkte Paula die Arme vor ihrer Brust und...