HELLER STEIN, GROSSE HITZE, FLIRRENDES LICHT
Auf der Suche nach meinem Rhythmus im Kalkstein der Julier
In mir hüpft alles. Und obwohl ich heute noch keinen Kaffee getrunken habe, bin ich bereits hellwach. Das liegt an dem kalten Wasser des Bergsees, in dem ich bei Sonnenaufgang untergetaucht bin. Aber auch an diesem einen Satz, der wieder und wieder meine Magengrube kitzelt: »Es geht los.« Endlich! Doch als ich mich umschaue, wird mir klar: Es ist schon losgegangen. Ich bin längst mittendrin, und es liegen zwei strahlende und spannende Monate vor mir.
Ich stehe in einer knorrigen koča (Hütte) im Sieben-Seen-Tal des slowenischen Triglav-Nationalparks – unweit meines Schlafplatzes, den ich gerade erst verlassen habe. Die Stimmung ist noch müde, die Belegschaft lässt sich von den vielen Leuten, die in einer Schlange auf ihren Kaffee warten, nicht stressen. Vor mir drei französische Pfadfindermädchen, die ihr Kleingeld zählen und sich dann doch nur einen Tee leisten. Hinter mir zwei ältere Österreicher, anscheinend Kletterer, die etwas muffelig und ungeduldig wirken und sich hier offenbar fehl am Platz fühlen. Draußen vor der Hütte ein wunderschöner Morgen, rosa und frisch. Meine Aufregung legt sich langsam, und ich atme tief ein und aus.
Trotzdem. Erst mal brauche ich einen Kaffee. Wie wird es mir in den nächsten zwei Monaten wohl ohne meine tägliche Dosis Koffein am Morgen ergehen? Werde ich mich daran gewöhnen? Hätte ich doch die kleine Kaffeemaschine mitnehmen sollen? Wie viele Gramm zusätzlich wären das noch mal gewesen? Ach, egal. Ich trinke eben immer dann Kaffee, wenn ich an einer Hütte vorbeikomme. Schließlich sind das hier die Alpen, und da gibt es überall Hütten. So wie hier: Es fängt also gut an. Ich nehme freudig die dampfende Tasse entgegen und setze mich draußen auf die Terrasse. Es ist noch früh, aber viele Wanderer brechen schon auf. Bin ich spät dran? Hätte ich vielleicht noch früher aufstehen sollen? Ich will mich beeilen, trinke schnell einen Schluck und verbrenne mir die Zunge. Also pusten, warten und pusten. Dabei schaue ich hinüber zum See, über dem ein feiner Nebelschleier hängt, der sich ganz sachte bewegt. Der Nebel hat Zeit. Der See ruht. Beide brauchen keinen Kaffee. Ich beneide sie um ihre Ausgeglichenheit.
Vor einem halben Jahr kam mir zum ersten Mal die Idee, diese Tour zu machen. Ich wusste, dass ich im Sommer beruflich eine Pause einlegen würde, und auch, dass ich endlich mal wieder länger in die Berge wollte. Zu Hause an meiner Wand hing eine große Alpenkarte. Nach einem frustrierenden Arbeitstag schaute ich lange auf diese Karte und stellte mir vor, wo ich jetzt überall sein könnte. Mit Pins markierte ich schließlich die Bergregionen, in die ich schon immer mal wollte. Es war ein klassischer Anfall von Fernweh oder der Versuch, ebendieses zu beruhigen. Als ich am nächsten Morgen vor den Pins stand, entdeckte ich, dass sie eine Linie bildeten. Von Ost nach West. Mir wurde recht schnell klar: Das mache ich. Ich verbinde die Punkte miteinander und gehe das alles zu Fuß.
Seit diesem Tag im Februar habe ich Bücher und Tourenbeschreibungen gewälzt, mir Karten geliehen und studiert und nach und nach mithilfe eines GPS-Programms meine Route gelegt. Von Punkt zu Punkt konnte ich feststellen, wie viele Höhenmeter, Kilometer und daraus errechnete Stunden ich jeweils einplanen musste. Da ich gern draußen schlafe, ohne Zelt, einfach unter freiem Himmel, suchte ich außerdem nach möglichen Schlafplätzen, wobei ich immer darauf achtete, dass Wasser in der Nähe war. Soweit das aus der Karte ersichtlich war, wählte ich flache Plätze aus, die Schutz vor Wind boten und bei denen es vielleicht sogar einen Unterstand oder eine Biwakhütte in der Nähe gab.
Da es neun Pins waren, die jeweils eine Region bezeichneten, und weil mir die Zahl Neun einfach sehr gut gefällt, habe ich die Tour in neun Etappen unterteilt. Zudem fand ich für jede Etappe ein Thema, das mich unterwegs begleiten und beschäftigen sollte. Inspiriert wurden sie von den Formen der jeweiligen Gebirge, die ich bisher nur von Fotos kannte. Oder von einer Fragestellung, die mich schon länger begleitete und der ich in Ruhe auf den Grund gehen wollte. Manche Themen, wie beispielsweise »Geduld«, kamen auch einfach aus der Voraussicht, dass ich sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Tour gut brauchen könnte.
Parallel zur Routenplanung begann ich mit einer gezielten körperlichen Vorbereitung. Ich trainierte intensiver, ging längere Touren mit zunehmend schwerem Rucksack, um meine Kondition zu steigern. Außerdem stellte ich meine Füße auf die Belastung ein, indem ich viel barfuß lief und auch barfuß wandern ging, wodurch ich die kleine Fußmuskulatur trainierte, was wiederum Verletzungen vorbeugt.
Obwohl ich es gewohnt war, ohne Begleitung unterwegs zu sein und zu biwakieren, bekam das Alleinsein mit diesem langen Projekt vor Augen eine neue Bedeutung, und ich stellte mir in meinen Vorbereitungsnächten draußen oft brenzlige Situationen vor – vom Wetterumschwung über den Verlust der Orientierung oder einzelner Ausrüstungsgegenstände bis hin zu verschiedenen Verletzungen – und wie ich damit umgehen würde.
Vor diesem Hintergrund war es wichtig und nützlich, mir gezielt Wissen anzueignen, das ich unterwegs brauchen könnte. So habe ich von einem befreundeten Bergführer, einem harten Hund, der früher bei der Armee war, Erste-Hilfe-Tipps bekommen. Denn die Selbstversorgung von Verletzungen abseits der Zivilisation stellt einen vor ganz andere Herausforderungen.
Da ich mich bereits bewusst und gesund ernähre, musste ich mich hier nicht groß umstellen, habe aber viel darüber nachgedacht, wie es mir wohl unterwegs gelingen würde, ausgewogen und ausreichend zu essen. Ich habe mehrere gut transportable und haltbare Lebensmittel ausprobiert und berechnet, wie viele und welche Nährstoffe ich während meiner Wanderung brauchen würde. Allerdings sah mein Plan vor, fünf verschiedene Länder zu durchqueren, deren kulinarische Eigenheiten ich mir natürlich nicht entgehen lassen wollte. In Slowenien, Österreich und Italien wollte ich das dichte Hüttennetz nutzen, um einmal am Tag warm zu essen. Dadurch ließ sich einiges an Gewicht im Rucksack einsparen. In der Schweiz und später in Frankreich wollte ich mir am Berg hin und wieder selbst etwas kochen, um unabhängiger von den Hütten zu sein, die zu dem Zeitpunkt schon vielerorts geschlossen sein würden.
Erst im letzten Monat vor meinem Aufbruch ging es dann um die konkrete Logistik. Ich hatte neben ein paar tollen Ausrüstungssponsoren glücklicherweise mit Sport Conrad einen Partner gefunden, von dem mir auch sehr wertvolle infrastrukturelle Hilfe zugesagt wurde. So haben wir vereinbart, dass ich unterwegs an vier Punkten per Post Lebensmittelnachschub, ab der Schweiz dann auch gefriergetrocknete Menüs und gegebenenfalls auch zusätzlich benötigte Ausrüstung erhalten würde.
Die Wahl der Kleidung und Ausrüstung sowie das konkrete Packen selbst waren für mich als Equipment-Nerdin und Gramm-Fetischistin eine wahre Freude. Alles wurde gewogen, verglichen, getestet und schließlich auch zur Probe ein- und ausgepackt. Am Ende war ich mir auf jeden Fall sicher, dass ich einen perfekt gefüllten Rucksack habe.
Schließlich habe ich einen Blog aufgesetzt, um unterwegs meine Erlebnisse zu dokumentieren. Ein Tagebuch aus Papier war mir einerseits zu schwer. Andererseits würden so meine Familie und Freunde nachlesen können, wie es mir geht. Und ich müsste mich nicht schlecht fühlen, wenn ich länger mal nicht bei ihnen anriefe. Ein weiterer Grund für den öffentlichen Blog war für mich die Herausforderung, für einen größeren Kreis von Menschen entsprechend genauer und reflektierter schreiben zu müssen als in einem Tagebuch. Nur so könnte bei ihnen eine realistische Vorstellung meiner jeweiligen Umgebung und Situation entstehen, und vielleicht sogar das Gefühl, mit dabei zu sein.
Das Einzige, was jetzt noch organisiert werden musste: dass all mein Hab und Gut während der angesetzten zwei Monate sicher in einem Container verstaut wurde. Da ich sowieso aus meiner alten Wohnung ausziehen musste, bot sich das natürlich an. Und wie glücklich war ich, als ich dann auch noch kurz vor meiner Abreise eine Zusage für eine neue Wohnung bekam, in die ich nach meiner Rückkehr würde einziehen können. Damit standen endgültig alle Zeichen auf go.
Ja, und nun bin ich hier, und es passiert tatsächlich. Ich sitze auf der Terrasse der koča und bin einfach dankbar. Dankbar, dass es endlich losgeht. Dankbar, dass ich mir dafür Zeit nehmen kann.
Die ersten Schritte sind bereits gegangen. Ich trinke ein paar Schlucke und lasse den gestrigen Tag, der mir mittlerweile wie ein Traum vorkommt, Revue passieren.
Abschied
»Bis in zwei Monaten dann, auf der anderen Seite …«, sage ich zu meinem Vater, und wir umarmen uns fest. Der Satz kommt mir unwirklich vor, fast wie ein Scherz. Ich habe es eilig, die ersten Schritte zu machen, um der seltsamen Situation eines Abschieds zu entfliehen, von dem ich noch nicht weiß, was er bedeutet und wohin und wie weit weg er mich führen wird. Es gibt nur diesen abstrakten Vorsatz, die Alpen von Ost nach West zu überqueren. In den letzten Wochen und Monaten habe ich das so oft gesagt, dass es sich für mich schon fast abgedroschen und trocken anfühlte. Jedenfalls ganz anders als dieser sehr konkrete und steinige Wanderweg unter meinen Füßen jetzt und die blühenden Wiesen und Wälder um mich herum.
Ich drehe mich um und muss schlucken. Mein Vater steht da und winkt. Wie...