Sterben
TAGE VOR DEINEM TOD, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Spitzen deiner Finger zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In deinem Kopf. Im Kern deines Körpers, wo deine Lunge liegt, dein Herz, deine Leber. Auch aus den Zehenspitzen zieht sich das Blut zurück. Deine Füße werden kalt. Dein Atem verflacht. Die Sinne schwinden. Dein Körper leitet den Abschied vom Leben ein.
Später, wenn der Arzt den Totenschein ausfüllt, wird es so aussehen, als wäre dein Sterben einem streng geregelten Ablauf gefolgt, amtlich festgehalten im vertraulichen Teil deines Totenscheins, Blatt 1, Absatz I, Zeilen a) bis c). Aber das stimmt nicht. Dein Sterben ist ein Prozess voller Dynamik, so einzigartig wie dein Leben. Jeder Mensch erlebt diesen Prozess auf seine eigene, einmalige Weise. Erst danach, wenn du tot bist, lässt sich dein Sterben in drei Stufen staffeln, die der Arzt in den Totenschein einträgt.
Wenn dein Arzt ein Siebengescheit ist, wird er dein Sterben im ICD-Code abfassen, den Kürzeln aller Krankheiten weltweit. Vielleicht bist du eine J-18er-Lungenentzündung, wie Guido Westerwelle. Vielleicht ein Krebsfall der Kategorie C-22, wie David Bowie.
Wenn dein Arzt ein Simpel ist, wird er dein Sterben in Schlagworten abhandeln, die auf alle zutreffen. Vielleicht erfasst er dich als Atemstillstand. Am Ende steht jeder Atem still. Vielleicht als Herz-Kreislauf-Versagen. Am Ende versagt jedes Herz.
Wahrscheinlich aber wird er einfach die Kette der Krankheiten anführen, die dir den Tod brachte: von der unmittelbaren Todesursache vor wenigen Stunden über ihren Auslöser vor Monaten bis zum Grundleiden vor vielen Jahren. Aus Sicht der Statistik hat dein Sterben damals begonnen.
Du erinnerst dich sicher daran. Die Herzsache damals. Die Krebsdiagnose. Dieser dumme Sturz. Wie die Ärzte darüber redeten, war klar: Ist etwas Ernstes diesmal. Sie versprachen, es in den Griff zu kriegen. Sie hielten Wort, wie sie dein Leben lang Wort gehalten und dich geheilt hatten, bei jeder Krankheit, jedem Fieber, jedem Bruch. Sie schickten dich heim, und für ein Jahr oder fünf war es wieder gut. Aber jetzt liegst du hier, der Schwarm in weißen Kitteln war schon da, und auch wenn niemand deine Prognose in den Mund genommen hat, wird dir klar, wie es um dich steht. Du hast Angst.
Über Sterben ist schwer sprechen. Es lohnt sich aber, sagen die Spezialisten, die dem Sterben nahestehen. Sie waren anfangs skeptisch, als sie von der Idee dieses Buches hörten: Sterben, Schritt für Schritt? Sterben folgt keinem Fahrplan, sagten sie. Sterben ist dynamisch, Sterben ist komplex. Das beginnt schon mit dem Begriff. Sterben ist Teil des Lebens. Tod, das ist danach. Sie empfahlen Studien, Aufsätze, Statistiken. Dann erzählten sie doch, alte Ärzte und junge, Professorinnen der Palliativmedizin, Hospizleiter, Hospizhelfer, Pfleger, erfahren in tausenden Toden – weil sie ein Erlebnis aus ihrer Arbeit mit Sterbenden eint: Schmerzlicher als Sprechen ist Schweigen.
Deine Angst ist natürlich. Manche Forscher meinen, wir Menschen sind auch deswegen denkende Wesen geworden, weil wir uns lebenslang bemühen müssen, unsere Sterblichkeit zu leugnen. Das kennst du. Sterben? Das betraf dich nicht. Das war weit weg. Der Tod, das bedeutete immer den Tod der anderen, nie deinen eigenen. Auf diese Art hast du, wie wir alle, außer Acht gelassen, was uns gewiss ist: Wir werden alle sterben – aber wissen nicht, wann. Du weißt es jetzt. Bald.
Sterben zu schildern, birgt eine Gefahr: Wer Sterben zu erklären sucht, erzeugt – ob er will oder nicht – ein Gefühl des Wissens und damit der Kontrolle. Das, warnen Wissenschaftler, ist eine Illusion. Keiner kann wissen, was im Tod ist. Im Sterben stoßen der Verstand, das Denken, die Vernunft an ihre Grenzen: Da gibt es keine Gewissheiten mehr. Sicher ist jedoch: Sterben ist genau das Gegenteil von Kontrolle. Nicht lange, und du wirst die Hoheit über Körper und Geist vollkommen verlieren, unwiderruflich.
Fragen drängen sich in deinen Sinn; was nun, warum ich, wann genau, wie denn. Ärzte, die vielen Sterbenden zur Seite standen, sind am Anfang vorsichtig mit Antworten. Sie stellen lieber selber Fragen. Wie sehen Sie Ihre Situation? Was wissen Sie über Ihre Krankheit? Was haben Sie für ein Gefühl, wie geht es weiter? Was wäre, wenn es nicht so kommt? So stupsen sie dich, sachte, ganz sachte, und du kannst entscheiden, wie weit du der Wahrheit entgegentreten willst. Es gibt Kranke, denen wäre die volle Wahrheit zu viel. Es gibt Kranke, die wollen alles wissen. Ärzte und Pfleger auf Palliativstationen antworten daher nach einer Faustformel: Alles, was sie dir sagen, muss aufrichtig, muss wahrhaftig sein. Aber nicht zwingend gleich die ganze Wahrheit.
Du kannst jedoch jederzeit danach fragen. Das Wissen darum kann befreien. Schwerstkranke scheinen oft von einem Schweigen umstellt, das gegenseitiger Rücksichtnahme entspringt, der des Kranken wie der Gesunden:
… ich kann das den Kindern nicht zumuten …
… wir dürfen Mama damit nicht belasten …
… ich will ihnen nicht zur Last fallen …
… wir müssen Papa schonen …
… das ertragen sie nicht …
… das hält er nie aus …
Sehr häufig, dieses Phänomen. Sich beidseits schonen, um jeden Preis. Speziell, wenn es ans Sterben geht. Es gibt eine Geschichte dazu, die Ärzte in so vielen Spielarten erzählen, dass sie wie eine Fabel wirkt, obwohl sie sich wahrhaftig so zugetragen hat, jedes Mal. Sie handelt von einem Ehepaar.
Sie liegt drinnen auf dem Bett und flüstert: »Ich spüre es, ich werde sterben – aber sagen Sie das auf keinem Fall meinem Mann!«
Er steht draußen vor der Tür und sagt: »Meine Frau wird sterben, ich merke das – bitte sagen Sie ihr bloß nicht, wie ernst ihre Lage ist!«
Sie haben in der Medizin einen schönen Begriff gemünzt für diese Strategie: barmherzige Lügen. Solche Lügen bringen nichts. Auch die anderen Ausweichmanöver sind nutzlos, Aussitzen, Weglaufen, Schönreden. Sie funktionieren nicht; nicht beim Sterben.
Es ist erschütternd, wenn sie dir eröffnen, es geht zu Ende. Sie setzen an, und dir zerspringen die Sinne. Du hörst die Ärzte wie durch Watte. Du siehst die Dinge so entrückt wie durch das falsche Ende eines Fernrohrs. Du ringst um Atem. Danach kannst du dich nicht erinnern, was sie eigentlich gesagt haben. Gute Ärzte führen dieses Gespräch deswegen zweimal. Einmal, damit du vernimmst, wie es um dich steht. Und einmal, damit du verstehst.
Es gibt allerdings auch viele Ärzte, die führen dieses Gespräch gar nicht. Weil sie es nie gelernt haben in ihrer Ausbildung. Weil sie es nicht können, weder als Mensch noch als Arzt. Weil sie die Zeit dafür nicht haben, in der Hektik der Kliniken und Krankenhäuser. Und vor allem: Weil es so viel einfacher scheint, die Aussicht deines Sterbens zu leugnen, ob stillschweigend oder tatkräftig durch immer neue Therapien. Dabei können sie auf einen Komplizen hoffen – dich. Du willst dein Sterben nicht wahrhaben, du hast noch Hoffnung. Und Hoffnung springt auf jede Verheißung auf. Daraus kann sich eine Dynamik entwickeln: Du willst nicht sterben, dein Arzt nicht darüber sprechen, einmütig verliert ihr euch in Spiegelfechterei. Viele Sterbende bereuen das später. Sie sagen, für solche Possen sei die Zeit, die dir bleibt, zu kostbar. Du könntest längst anfangen, dich mit deinem Tod auseinanderzusetzen. Dafür muss dein Arzt dir aber offenlegen, dass du sterben wirst. Dafür muss dir bewusst werden, dass du sterben wirst.
In ihren Lehrbüchern steht, dass dein Gemüt im Kreis laufen wird, von jäh schwankenden Stimmungen gejagt. Du willst es nicht wahrhaben; sterben, du doch nicht. Dich packt der Zorn; wer ist hier verantwortlich, wer trägt hier die Schuld. Du versuchst zu verhandeln; ab jetzt jeden Sonntag in die Kirche und jeden Preis für eine neue Therapie. Dich schluckt Selbstmitleid; ist doch sinnlos, das alles. Du erkennst dein Sterben an; so schlecht waren sie nicht, die Jahre.
Das klingt nach einem fixen Programm in fünf Phasen. Doch sie vermengen und verflechten sich, in einem Wirrwarr von Gefühlen: erst das Selbstmitleid, dann der Zorn; gleich das Anerkennen – oder nie; wieder und wieder das Verleugnen. Dieses Unstete ist vielleicht der wichtigste Grundsatz des Sterbens. Sterben gehorcht keinen starren Gesetzen. Sterben nimmt sich alle Freiheiten.
Manche Menschen wühlt es auf, wenn ihr Sterben in Sicht kommt. Manche beruhigt es, wenn aus ihren Ahnungen endlich Gewissheit wird. Der Mehrzahl geht es wie dir. Du verstummst. Selbst wenn du sprichst oder scherzt oder schreist. Du bist stumm. Im Inneren. Oft auch außen. Das ist der Schock. Wissenschaftler sprechen vom existentiellen Schlag, dem Schaudern des Ichs, einem Ersttrauma des Sterbens. An diesen Beschreibungen zeigt sich der Spalt, der auf einmal zwischen dir und denen aufklafft, die im Leben stehen: Sie können spielend in Worte kleiden, was dir wie ein Dolch in die Eingeweide dringt. Du wirst sterben. Du wirst sterben. Du wirst sterben. Es dauert, das zu verdauen. Aus Sicht der Psychologie setzt dein Sterben damit ein: Sobald dir bewusst ist, dass dein Tod bevorsteht. Sobald dieses Bewusstsein dein Leben bestimmt.
Du gewinnst das Gefühl, wie in einer Luftblase durch deine Tage zu gehen. Die Welt da draußen ist voller Leben. Du bist dem Tod geweiht. Dabei macht er sich noch kaum bemerkbar. Ein Aussetzer ab und an. Der Schmerz dann und wann. Diese Mattigkeit. Sterben kündigt sich langsam an, je nach...