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Auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht?

Aktuelle Entwicklungen zur Inklusion in Deutschland

AutorIna Döttinger, Nicole Hollenbach-Biele
VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783867936811
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Seitdem in Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist, hat sich 'Inklusion' gerade im Schulbereich zu einem Kernbegriff der bildungspolitischen Diskussion entwickelt. Doch wie weit ist die Umsetzung der Konvention in den Bundesländern bereits vorangeschritten? Dieser Band betrachtet sowohl den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf als auch die schulgesetzliche Umsetzung von Inklusion und gemeinsamem Lernen: Nach einer begrifflichen Klärung und einem Gesamtüberblick zur schulischen Inklusion in Deutschland werden in 16 Bundeslandprofilen die Ausbaustände und Gesetzeslagen im Detail vorgestellt und durch Eindrücke aus der Praxis ergänzt. Abschließend werden die Ergebnisse auf internationaler Ebene eingeordnet und offene Fragen für die deutsche Schullandschaft abgeleitet.

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Leseprobe

Inklusion kommt in Deutschland nur langsam voran


Der Begriff der Inklusion wurde bis vor wenigen Jahren nur von Fachleuten benutzt. Heute ist er in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Das zeigt, dass die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen (UN-BRK), die Deutschland am 23.3.2009 ratifiziert hat, wahrgenommen wird. Auch erste Wirkungen der Konvention haben sich eingestellt: Aktuell wird hierzulande heftig darüber gestritten, wie der Anspruch, Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten, in den Schulsystemen der 16 Bundesländer umgesetzt werden kann. Durch diese Debatte hat sich der Begriff »Inklusion« vielerorts vom Fach- zum Reizwort gewandelt. Eines ist jedoch unbestreitbar: Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention hat Deutschland sich verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung den Zugang zum allgemeinen Schulsystem zu eröffnen.

Diese Öffnung von Schulen für alle Kinder und Jugendlichen gilt es nun weiter voranzutreiben, um sich Schritt für Schritt einem wirklich inklusiven Schulsystem – zum Verständnis des Begriffs siehe Seite 18 ff. – anzunähern. Dazu ist es wichtig, sich die verfügbaren Zahlen und Fakten vor Augen zu führen und die bisherigen Entwicklungen sauber zu dokumentieren, um die oft sehr emotional geführte Diskussion über den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung auf eine empirische Grundlage zu stellen.

Im Folgenden wird beschrieben, wie sich die Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem bzw. an Förderschulen entwickelt haben. Dabei konzentrieren wir uns auf eine Analyse aktueller, öffentlich verfügbarer Daten und zeichnen die bisherige Entwicklung zu einem inklusiven Schulsystem in Deutschland von der Unterzeichnung der UN-BRK (Schuljahr 2008/09) bis zum Schuljahr 2012/13 nach. Zum besseren Verständnis der schulstatistischen Zahlen, die wir im Weiteren anführen, werden zunächst die wichtigsten Fachbegriffe kurz erklärt.

Förderquoten geben die Anteile der Schüler mit Förderbedarf an allen Schülern im schulpflichtigen Alter an – unabhängig von dem Förderort. Sie setzen sich aus Exklusions- und Inklusionsquote zusammen.

Exklusionsquoten geben die Anteile der Schüler mit Förderbedarf, die separiert in Förderschulen unterrichtet werden, an allen Schülern im schulpflichtigen Alter an.

Inklusionsquoten geben die Anteile der Schüler mit Förderbedarf, die inklusiv in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, an allen Schülern im schulpflichtigen Alter an.

Exklusionsanteile geben die Anteile der Schüler mit Förderbedarf, die separiert unterrichtet werden, an allen Schülern mit Förderbedarf an.

Inklusionsanteile geben die Anteile der Schüler mit Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, an allen Schülern mit Förderbedarf an.

1Förderbedarfe, Inklusion und Exklusion: Wo steht Deutschland im Schuljahr 2012/13?

Wie weit ist das deutsche Schulsystem mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bisher gekommen, wenn wir als Maßstab anlegen, dass alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem unterrichtet werden? Anders gefragt: Wie verteilen sich Kinder und Jugendliche mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf auf die beiden Lernorte allgemeine Schule und Förderschule? Wie stark sind die einzelnen Förderschwerpunkte vertreten, und wie sieht es darauf bezogen mit der inklusiven Beschulung aus? Diesen Fragen wird im Folgenden für Deutschland insgesamt wie auch für die einzelnen Bundesländer nachgegangen.

1.1Ein deutschlandweiter Überblick

Im Schuljahr 2013/14 besuchten insgesamt rund 7,4 Millionen Schülerinnen und Schüler die 1. bis 10. Klasse im deutschen Schulsystem. Bei rund 500.500 dieser Kinder und Jugendlichen wurde ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Die sogenannte Förderquote in dieser Altersgruppe lag damit im betreffenden Schuljahr deutschlandweit bei 6,8 Prozent.

Diese Gruppe ist allerdings sehr heterogen: Hinter dieser Zahl verbergen sich diverse Förderschwerpunkte, die außerdem in den Ländern zum Teil unterschiedlich benannt und auch inhaltlich unterschiedlich definiert werden. Die Daten zu Schülern mit Förderbedarf, die die Länder der Kultusministerkonferenz melden, werden in deren Statistik zu insgesamt neun Untergruppen zusammengefasst ausgewiesen. Dadurch entstehen gewisse Ungenauigkeiten;5 trotzdem zeigen die prozentualen Anteile, wie häufig die Förderschwerpunkte bei den Schülern aktuell jeweils vorkommen (vgl. Abb. 1).

Mit 38,8 Prozent sind die weitaus meisten Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Schuljahr 2013/14 dem Förderschwerpunkt »Lernen« zugeordnet. Die anderen Schüler verteilen sich mit erheblich geringeren Anteilen auf die Förderschwerpunkte »Geistige Entwicklung« (16,0 %), »Emotionale und soziale Entwicklung« (15,2 %), »Sprache« (11,1 %), »Körperliche und motorische Entwicklung« (6,9 %), »Hören« (3,6 %), »Kranke« (2,2 %), »Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung (LSE)« (2,0 %) und »Sehen« (1,5 %). Bei insgesamt 2,6 Prozent wird ein übergreifender Förderbedarf festgestellt, oder sie können nicht zugeordnet werden.

Abbildung 1:

Anteile der unterschiedlichen Förderschwerpunkte – Schuljahr 2013/14

Nun sagt die Förderquote an sich noch nichts über Inklusion aus – dafür ist entscheidend, wo die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden. Insgesamt rund 343.340 Förderschüler gehen im Schuljahr 2013/14 auf eine Sonder- bzw. Förderschule, das sind 4,7 Prozent aller Erst- bis Zehntklässler in Deutschland (Exklusionsquote). Den sogenannten gemeinsamen Unterricht an einer Regelschule besuchen hingegen nur rund 140.000 Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Inklusionsquote liegt damit bei nach wie vor niedrigen 2,1 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland: Derzeit kommen also auf 100 Kinder an einer allgemeinen Schule zwei Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Von der Gruppe der Förderschüler aus betrachtet werden deutschlandweit bisher nur 31,4 Prozent aller Erst- bis Zehntklässer mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv unterrichtet, das ist fast jeder vierte Schüler mit Behinderung. Darüber hinaus findet inklusives Lernen in den neun Förderschwerpunkten sehr unterschiedlich statt (vgl. dazu auch die Länderporträts in diesem Band): Von den Schülern mit einem diagnostizierten Förderbedarf im Bereich »Emotionale und soziale Entwicklung« besucht jeder zweite (50,2 %) eine allgemeine Schule; in den Förderbereichen »Sprache« (40,1 %), »Hören« (39,9 %), »Sehen« (37,9 %) und »Lernen« (35,2 %) gilt das jeweils für ein Drittel der betreffenden Schüler; erst dann kommt der Bereich »Körperliche und motorische Entwicklung« (28,5 %). In den übrigen Förderschwerpunkten hat gemeinsamer Unterricht praktisch gar keine Bedeutung.

Von der gemeinsamen Beschulung aller Kinder mit und ohne Behinderungen, die die UN-Konvention als Regelfall fordert, ist Deutschland diesen Zahlen zufolge noch weit entfernt. Zudem ist unklar, wie viele der Kinder und Jugendlichen, die aktuell als inklusiv beschult gelten, zwar in allgemeinen Schulen, aber in eigens für sie eingerichteten Gruppen unterrichtet, also innerhalb der Regelschule separiert werden. Die hier herangezogenen Daten der KMK-Statistik geben dazu keine Auskunft.

1.2Status quo der Bundesländer

Anhand der Kennzahlen lassen sich die Entwicklungen in Bezug auf den gemeinsamen Unterricht für Deutschland insgesamt nur sehr ungenau darstellen – dafür sind die Bildungssysteme in den 16 Bundesländern zu unterschiedlich ausgestaltet. In den meisten Bundesländern werden ein allgemeines Schulsystem und ein Förder- bzw. Sonderschulsystem parallel geführt; in beiden Systemen unterscheiden sich nach der (meist vierjährigen, teils aber auch sechsjährigen) Grundschule Anzahl und Arten der weiterführenden Schulen zum Teil erheblich, ebenso wie die Formen und Zeitpunkte der Schülerzuweisung bzw. die Selektionsmechanismen. Daher wird nachfolgend ein erster Blick auf die Differenzen zwischen den Bundesländern in Bezug auf Förderquote, Exklusionsquote und Inklusionsanteil geworfen; eine vertiefende Betrachtung dieser Daten findet sich in den jeweiligen Bundeslandporträts im zweiten Teil dieses Bandes.

Ein erster erheblicher Unterschied zwischen den...

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