2. Dementia Care Mapping (DCM)
In der Diskussion um die Qualität in der Pflege dementiell erkrankter Menschen lassen sich drei Tendenzen beobachten: erstens die Abkehr von klinischen und funktionalen Qualitätskriterien, die die Verfolgung funktional bestimmter Ziele, die Aufrechterhaltung der Kontrolle über Körper, Gefühlsausdruck und Verhalten und die Erreichung eines im vorhinein bestimmten Gesundheitsstatus anstreben; zum zweiten stehen psychologische Fragen des Wohlbefindens in Abhängigkeit zu Fragen der gesundheitlichen Verfassung und umgekehrt, d.h. die Gesundheitsfrage kann nicht unabhängig von den damit verbundenen Gefühlen und Bewertungen betrachtet werden; so gibt es demnach keine strikte Trennung zwischen subjektiven und objektiven Qualitätsaspekten. Eine dritte Tendenz spiegelt sich dahingehend wider, dass nicht objektive Zustände, sondern die subjektiven Bewertungen entscheidend sind; nicht der Zustand an sich, sondern wie der Betroffenen selbst den Zustand sieht, bewertet und einschätzt ist ausschlaggebend.
Schlussfolgernd daraus gewinnen die subjektive, personenbezogenen Qualitätskriterien zunehmend an Bedeutung, insbesondere das psychologische Wohlbefinden und die individuelle Wahrnehmung und Wertung der Lebensqualität. Subjektive Lebensqualität bezieht sich auf Gefühle, Emotionen als auch auf subjektive Interpretationen und Wertungen dieser Gefühle. Bezogen auf die Pflege und Betreuung dementiell Erkrankter besteht die Herausforderung darin, die Gefühle, Präferenzen und Wertungen jener Menschen zu verstehen, die sich nicht verlässlich äußern können, besonders auch dann, wenn biographische Daten kaum vorhanden sind oder aber wenig darüber aussagen, wie der Demente vor Eintreten der kognitiven Beeinträchtigung sein Leben betrachtete oder Gefühle und Werte zum Ausdruck brachte. Es besteht somit die Notwendigkeit, durch Beobachten Wohlbefinden, Affekte, Vorlieben und Abneigungen entsprechend zu deuten bzw. zu rekonstruieren anhand des von der Behinderung bereits „überformten“ Ausdrucks, der Körpersprache und Interaktionsweisen aber auch der Tätigkeiten und Aktivitäten des dementiell Erkrankten. Das Resultat bildet ein nachempfundenes, eingefühltes Wohlempfinden eines Dementen durch einen beobachtenden Dritten.
Um ein derartiges Wohlbefinden entwickeln zu können, ist es im Sinne der Pflegephilosophie Kitwoods notwendig, den einzelnen dementiell erkrankten Menschen als Person anzuerkennen, wertzuschätzen und zu fördern. Die Grundlage für das Erreichen von Wohlbefinden und damit verbunden von Lebensqualität und den gezielten, sinnvollen, individuellen und förderlichen Einsatz verschiedener Interventionsmethoden bildet die Methode Dementia Care Mapping (DCM), welche Anfang der 90er Jahre von Tom Kitwood entwickelt wurde.
Tom Kitwood lehrt Sozialpsychologie an der University of Bradford in Großbritanien und begann zunächst aus persönlicher Betroffenheit heraus, sich mit Demenz zu befassen. 1992 gründete er die „Bradford Dementia Group“, die mit verschiedenen Projekten versucht, die Bedingungen relativen Wohlbefindens dementiell veränderter Menschen zu erforschen. Im Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit steht das DCM-Verfahren, welches auf der Grundlage eines besonderen Beobachtungs- und Kodierungssystems versucht, das relative Wohlbefinden dementer Menschen in stationären Einrichtungen anhand ihres Verhaltens und Erscheinungsbildes mit einem hohen Grad an Detailgenauigkeit abzubilden.
Dementia Care Mapping – zu deutsch: Abbildungen der Pflege und Betreuung Demenzkranker – basiert auf einem werteorientierten und personenzentrierten Ansatz, der das Ziel verfolgt, einem Menschen mit Demenz das Gefühl zu vermitteln, Person zu sein und als solche behandelt zu werden; nicht die gestörte Funktion, sondern der Erhalt des Personseins steht im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund, dass dementiell Erkrankte nur eingeschränkt über ihr Wohlergehen Auskunft geben können, schließt es eine wesentliche Lücke in den gegenwärtigen Ansätzen zur Qualitätssicherung in der stationären Altenpflege.
Anhand von Zahlen, Diagrammen und Profilen kann dargestellt und messbar gemacht werden, „was genau auf welche Weise einem dementiell Erkrankten gut tut, im Gegensatz zu dem, was Pflegende glauben, das es ihm gut tut.“[43]
Dementia Care Mapping bezieht sich auf drei Ebenen, d.h. die Sammlung von Daten anhand der vorgegebenen Methode, die Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten und die Weiterentwicklung der Pflege in Zusammenarbeit mit dem multiprofessionellen Team. Ergebnisse können das Aufdecken von Ressourcen der dementen Bewohner, die Umsetzung personenzentrierter Handlungsweisen oder Möglichkeiten zur Verbesserung von Tagesstrukturierung und Milieu sein.
Ein geschulter DCM-Anwender, der sog. „Mapper“, versucht dazu möglichst unauffällig die Gesamtszenerie einzublenden und das personale Erleben von ca. fünf vorher ausgesuchten dementiell erkrankten Bewohnern zu beobachten und es zu kartographieren. Dabei achtet er insbesondere darauf, inwieweit durch die pflegerischen Interaktionen die körperlichen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse der Betroffenen in einer Art und Weise befriedigt werden, die das Personsein würdigt, erhält und stützt. „Dabei wird angenommen, dass relatives Wohlbefinden der dementen Menschen ein Kriterium für gute Pflege darstellt und umgekehrt: Schlechte Pflege depersonalisiert die Betroffenen und trägt zu deren Verfall und Unwohlsein bei.“[44]
In einem ersten Schritt nimmt der Mapper eine Art Kodierung von Verhaltenskategorien und Wohlfühlwerten vor, d.h. er notiert, was eine Person in jedem von aufeinander folgenden, fünfminütigen Zeitabschnitten getan hat. Dafür wird für jeden Zeitabschnitt ein Buchstabe zugewiesen, der für eine Verhaltenskategorie steht und unter dem Buchstaben eine Zahl festgehalten, die – bezogen auf den Zustand einer Person – das jeweilige relative Wohlbefinden oder Unwohlsein bezeichnet. Für diese Kodierung stehen dem Mapper insgesamt 24 Verhaltenskategorien zur Verfügung, deren Auswahl durch ein komplexes Regelwerk bestimmt wird. Beispielsweise steht der Buchstabe A für Artikulation, d.h. der Bewohner tritt von sich aus mit anderen in Interaktion, C steht für Cool-in-sich-zurückgezogen-Sein ohne Interesse an der Welt oder den Menschen, K sagt aus, dass er steht, geht oder sich fortbewegt; M, dass er sich mit Medien beschäftigt und N, dass er schläft oder döst.
Die zuzuordnenden Werte, die das jeweilige Wohlbefinden in der entsprechenden Verhaltenskategorie ausdrücken, sind –5, -3, -1, +1, +3 und +5. Auch diese Zuordnung unterliegt strengen Regeln, wie beispielsweise der Degenerationsregel, die besagt, dass, wenn bspw. der Zustand C-1 länger als 30 Minuten anhält, er sich automatisch auf C-3 verschlechtert. In der Beobachtung muss immer wieder erspürt werden, was die individuelle „Affekt-Basislinie“ (+1) der beobachteten Person bildet. Es gilt einen Sinn dafür zu entwickeln, was „normal“ für eine Person ist, um zum Beispiel beurteilen zu können, ob ein repetitives (sich wiederholendes), grobmotorisches Verhaltensmuster als Anzeichen für Unwohlsein und Stress einzuschätzen ist, zur Affekt-Basislinie hinzugehört, oder eher eine Steigerung des Musters in Intensität und Rhythmus Unwohlsein anzeigt. Dies gelingt nur über die subjektive Wahrnehmung und Deutung individueller Ausprägungen allgemeiner Merkmale.
Insgesamt gibt es 126 verschiedene Kodierungsmöglichkeiten, woraus ersichtlich ist, dass nicht für alle Verhaltenkategorien sechs Werte zur Verfügung stehen.
Des weiteren dokumentiert der Mapper personale Detraktionen und positive Ergebnisberichte, indem er Episoden protokolliert, in denen die Person erniedrigt bzw. beeinträchtigt wird oder Situationen, die für die Weiterentwicklung der Kompetenzen der Mitarbeiter von Bedeutung sind. Letztlich notiert er auch Auffälligkeiten zu Milieu, Atmosphäre, ungenutzten Ressourcen sowie zu Umgangsformen der Mitarbeiter mit dem Bewohner aber auch der Bewohner untereinander. Anhand des Instrumentes DCM entwickelt der Mapper ein differenziertes Fremdbild einer Pflegeumgebung anhand des Wohlbefindens und der Tätigkeitsarten von Menschen mit Demenz.
Die so ermittelten Grunddaten werden anschließend in mehreren Schritten bearbeitet und ausgewertet. Es entsteht ein differenziertes Bild der Pflegesituation bzgl. des Wohlbefindens des Einzelnen und der Gruppe durch die Analyse vorherrschender und vernachlässigter Verhaltenskategorien und der Analyse der personalen Missachtungen; Verhaltens- und Wohlbefindlichkeitsprofile, degenerative Verläufe, positive Ereignisse und personale Detraktionen gleichen einem Fingerabdruck der Pflegeumgebung.
Insgesamt neun Auswertungsschritte ergeben die Basis für differenzierte Empfehlungen für die Pflegepraxis und den Fortbildungsbedarf der Pflegekräfte und damit der Zielformulierung im Hinblick auf eine gemeinsame Erarbeitung von Entwicklungsprozessen. Durch eine Reihe einfacher mathematischer Verfahren lassen sich die gesammelten Daten zu aussagefähigen...