Das „Psychobiographische Pflegemodell nach Böhm“ wurde 1999 erstmalig in zwei Bänden, Band 1 „Grundlagen“ und Band 2 „Arbeitsbuch“ veröffentlicht. Beide liegen seit 2004 in der dritten Auflage vor. Der Begriff „Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm“ ist in Österreich, Deutschland, Luxemburg und der Schweiz urheberrechtlich geschützt. Das Konzept darf seit 1994 nur noch von Lehrkräften, die von Böhm autorisiert wurden, vermittelt werden (Böhm, Homepage und 2002), die Umsetzung ist an eine Zertifizierung nach dem „Psychobiographischen Pflegequalitätssignum nach Böhm“ gebunden. Für das Erlangen des Zertifikats sind umfangreiche Voraussetzungen (vgl. Böhm, 2002) zu erfüllen:
die Stationsleitung muss die Pflegetheorie Böhms sehr gut kennen, von ihrer Relevanz überzeugt sein und mit Unterstützung der Leitung ein Konzept nach Böhm entwickeln.
alle MitarbeiterInnen müssen entsprechend geschult sein, die Ausbildung erfolgt in sieben Stufen.
pro Station müssen mindestens zwei „Zugpferde“ eine vertiefende Ausbildung vorweisen und einmal im Jahr an den „Böhm – Supervisionstagen“ teilnehmen.
Vom AGPK (österreichische Gesellschaft für geriatrische und psychiatrische Krankenpflege sowie angewandte Pflegeforschung) autorisierte PraxisanleiterInnen überwachen die Umsetzung.
Alle MitarbeiterInnen beherrschen die Muttersprache der BewohnerInnen.
Für die Auseinandersetzung mit Böhms Konzept werden, neben der aktuellen Ausgabe (2004), auch die vorausgegangenen Veröffentlichungen berücksichtigt.
Erwin Böhm (vgl. Homepage, Stand 2002, keine aktuelle Version zugänglich, und Böhm, 2004/1: 21), 1940 in Österreich geboren, im ersten Beruf Autospengler (Karosseriebauer), legte 1963 sein Krankenpflegeexamen ab. Er arbeitete ausschließlich in der Psychiatrie und Psychogeriatrie, machte eine Weiterbildung zum Unterrichtspfleger (1970) war als Oberpfleger (1974 – 1980) im Psychiatrischen Krankenhaus Wien und als Pflegedienstleiter (1980 – 1982) der Abteilung „Übergangspflege“ beim Kuratorium für psychosoziale Dienste in Wien tätig.
Böhm (eigene Angaben) setzte sich Ende der sechziger Jahre kritisch mit der „verwahrenden“ Anstaltspsychiatrie, insbesondere mit der Psychogeriatrie, auseinander und entwickelte die sog. „Übergangspflege“ für psychisch kranke alte Menschen, die seit 1979 in Wien praktiziert wird. Aus der Beobachtung des symptomatischen Verhaltens der Klienten entwickelte er die „reaktivierende Pflege“. Die „Erforschung der Urkommunikation im biographischen Zusammenhang“ (ebd.) führte zur „Pflegediagnose nach Böhm“ (1988).
Grundlagen seines Konzeptes (vg. 2004/1: 15f) sind die, seit 1968 durchgeführten, eigene empirischen Untersuchungen. Diese führten zu der Erkenntnis, dass psychische Probleme, die im hohen Alter auftreten, auf die Kindheit zurück zu führen sind. Sie waren ein Leben lang latent vorhanden, wurden aber durch „funktionstüchtige kognitive Leistungen sowie durch das Ich und Über – Ich beim erwachsenen Menschen überspielt“ (2004/1: 15). Im Alter können sie aber als Regressionen oder Destruktionen wieder aktiv werden.
Die Aktivierung erfolgt über „Auslösungsmechanismen“ (ebd.: 16), die durch akute oder chronische Hirnveränderungen, aber auch durch Veränderungen der Lebenssituation bedingt sein können. Das dann gezeigte Verhalten und die darin sich abbildenden Bewältigungsversuche entsprechen denen des Kindes in der entsprechenden Entwicklungsstufe.
Die Ursachen für die Entwicklung psychotischer bzw. demenzieller Symptome sind biographisch bedingt und reversibel (vgl. ebd.: 18). „Betrachtet man die Biographie als Ursache, läßt man Gesundheit zu, so könnte man philosophisch mein Modell auch als gesundheitspflegerisches Modell sehen“ (ebd.: 16).
Den Ursprung seines Modells führt Böhm (vgl. ebd.: 21) auf seine berufliche Sozialisation und die unbefriedigenden Erfahrungen mit unterschiedlichen psychiatrischer Lehrmeinungen, wie Anstaltspsychiatrie, Psychopharmaka-psychiatrie und Sozialpsychiatrie, zurück. Als sein „Hauptanliegen“ (ebd.: 22) nennt er die Implementation eines pflegewissenschaftlichen Denkens in die heutige Pflege. Seinen Ansatz bezeichnet er als „dynamische Systemtheorie“ (ebd.: 49), „gesundheitspflegerisches Modell“ (ebd.: 16) und „Ergebnismodell“ (ebd.: 43), mit der zentralen Fragestellung nach dem Warum und dem Nutzen der Pflege.
Seinen Angaben zufolge (vgl. ebd.: 65ff) bezieht er sich bei der Theorie–ableitung auf die eigene Theoriebildung und ein „Subsumationsmuster“ (ebd.: 65) aus mehreren theoretischen Ansätzen:
Die Dynamische Psychiatrie und Sozialpsychiatrie (vgl. ebd.: 65), hier verweist er auf die Arbeiten von Berner (die im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt werden) und dessen „Unterteilung der Seele“ (ebd.) in Thymopsyche und Noopsyche.
Den reversibilitätstheoretischen Ansatz (vgl. ebd.: 66) nach Ciompi (1982), der (angeblich) davon ausgeht, dass eine Demenz nicht irreparabel ist.
Den sozialanthropologischen, kulturanthropologischen Ansatz (ohne Quellenangabe) als „Verbindung zwischen Ethologie und Tiefenpsychologie, bei der relativ einfache, fixierte Wertsysteme und Kindererziehungstechniken bestimmter Persönlichkeitsmerkmale als gemeinsames Kulturgut (kollektiv) erforscht werden und wurden“ (ebd.: 67f).
Den milieutherapeutischen Ansatz (vgl. ebd.: 68) zur Beschreibung für die, den Menschen beeinflussenden allgemeinen äußeren Lebensbedingungen.
Prägungsforschung und konditioniertes Lernen (vgl. ebd.: 68ff), wobei Prägung beschrieben wird als angeborener Auslösemechanismus, der konditioniert wurde und bei gleicher Konditionierung bei allen Menschen zur gleichen Reaktion führt. „Jedes Verhalten ist die Summe aus kognitiven, emotionalen und motorischen Vorgängen. Lernen bedeutet, daß ein Individuum auf einen bestimmten Reiz eine bestimmte Reaktion zeigt, so daß viele Reaktionsweisen oder – wie ich sie nenne – Copings als erlernt beschrieben werden können.“ (ebd.: 69).
Die Humanethologie (vgl. ebd.: 70f) mit den Schwerpunkten „Signalsprache“ als universelle Kommunikationsform von Menschen, die sich krankheitsbedingt nicht mehr sprachlich ausdrücken können. Unter Berufung auf Eibl - Eibesfeld (ohne Quellenangabe), wird von universellen, angeborenen Verhaltensweisen gesprochen. Dafür werden einige Beispiele (vgl. ebd.: 72ff) u.a. werden Schwestern mit großen Augen geliebt, weil sie dem Kindchen – Schema entsprechen, aufgeführt.
Die psychosomatische Sicht Alternder in Bezug auf die Radebold Theorien (1997), die davon ausgehen, dass viele Alterserkrankungen (vgl. ebd.: 77f) das Ergebnis eines falschen Lebensstils sind.
Die Persönlichkeitsschichtlehre (vgl. ebd.: 78ff), hier wird auf Freuds Instanzen verwiesen und angemerkt, dass die heute alten Menschen „fast keinen der Triebe wirklich stillen“ (ebd.: 79) konnten und sie deshalb, z.B. durch Folklore, sublimierten. Eine besondere Bedeutung wird sog. Folklore- und Trostsprüchen (vgl. 2004/2: 54ff), als Stimme der Volksseele, zur „Reizabflutung“ (ebd.: 53) beigemessen.
Ersatzhandlungen als Coping – Muster (vgl. 2004/1: 80f) werden, in Anlehnung an Vaillants (1993) Abwehrmechanismen, zur Einordnung von Verhaltensauffälligkeiten nach Schweregraden herangezogen.
Als Untersuchungsmethoden, die zur Modellentwicklung (2004/1: 83):herangezogen wurden, werden:
1. Wahrnehmung.
2. Assoziation zum Zeitgeist und zu Ersatzhandlungen sowie der Signalsprache.
3. Interpretation aufgrund des aus dem Zeitgeist stammenden Normalitätsprinzips.
4. Hypothesenbildung in der Subsumation von Theorien (Ableitungen).
5. Pflegeintervention.
6. Evaluation (aufgrund des Regelkreises)
genannt, ohne dass darauf näher eingegangen wird.
Eine eindeutige theoretische Fundierung ist nicht erkennbar, der genannte Bezugsrahmen ist breit angelegt und nicht immer nachvollziehbar. Häufig wird auf vorhergehende Veröffentlichungen verwiesen, ohne aber, dass in diesen der theoretische Hintergrund ersichtlich wird. Dort stehen insbesondere die praktischen Erfahrungen und eigene Überlegungen im Vordergrund (vgl. Böhm, 1990/1999; 1991/2000; 1992/1999; 1994).
In seiner „Seelenphänomenologie“ (vgl. 2004/1: 91ff) geht Böhm davon aus, dass der alte...