492.
Bedrohungen der Demokratie
Wenn Demokratie das maßgeschneiderte Herrschaftsregime für territorial definierte Nationalstaaten ist, dann kommt Demokratie durch Globalisierungs-, Entterritorialisierungs- und Entgrenzungsprozesse zwangsläufig in Schwierigkeiten. Konstitutive Merkmale von Demokratie wie Legitimität, Partizipation und Transparenz sind durch das Verschwimmen von Grenzen bedroht. Eine wohlfeile Kritik an supranationalen Einrichtungen wie der EU und an praktisch allen globalen Institutionen wie beispielsweise der WTO, der Weltbank und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) unterstellt stets irgendeine Art von Demokratiedefizit, was nahezu tautologisch ist, wenn man die klassische formale Demokratie als Standardmodell unterstellt. Das Bild ändert sich, wenn man die Komponenten von Demokratie genauer in den Blick nimmt und innovative Formen der Beschaffung von Legitimität oder der Herstellung von Transparenz und Partizipation miteinbezieht.
Dennoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Voraussetzungen formaler Demokratie – eine Person, eine Stimme – prinzipiell nicht zu erreichen sind, wenn das von einer Entscheidung betroffene Kollektiv unbestimmt oder unerreichbar ist und wenn gerade die Betroffenen über keine oder geringe Expertise darüber verfügen, worum es bei einer bestimmten Entscheidung geht. Entscheidungen der WTO oder des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht der BIZ betreffen potentiell Milliarden von Menschen. Sollen oder können sie demokratisch an diesen Entscheidungen mitwirken? Entscheidungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) über olympische Sportarten betreffen Milliarden von Menschen. Sollen sie an den Entscheidungen mitwirken – als Zuschauer, als Verbände, als Vereinsmitglieder, als Aktive? Fragen dieser Art machen deutlich, dass ein undifferenzierter Vorwurf mangelnder Demokratie nicht besonders hilfreich ist. Nötig ist daher eine genauere Evaluierung, ob in einem konkreten Fall die Möglichkeiten zu fairer Mitsprache und Beteiligung gegeben sind. Das lässt sich hier nicht umfassend durchführen. Daher sollen beispielhaft drei Fälle von Bedrohungen der Demokratie betrachtet werden, um 50darzulegen, wie konkrete Probleme der Legitimität, der Partizipation und der Transparenz entstehen und wie Institutionen in konkreten Problemkontexten mit diesen umgehen und dabei möglicherweise auch innovative Formen oder Mechanismen kollektiven Entscheidens hervorbringen.
2.1 Die Krise der Legitimität
Legitimität ist zwar nur eine unter mehreren konstituierenden Komponenten des Steuerungsmodells Demokratie, aber sie ist diejenige mit dem größten Gewicht und dem umfassendsten Anspruch, weil alle anderen Komponenten am Ende Zuträger für jene spezifische Qualität eines gesellschaftlichen Steuerungsregimes sind, welches den Anspruch erheben darf, als legitim zu gelten. Max Weber hat idealtypisch die drei »reinen Typen legitimer Herrschaft« – rationale, traditionale und charismatische Herrschaft – unterschieden.[1] Unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen können traditionale oder charismatische Herrschaft als legitim gelten, auch wenn sie völlig andere Formen der Partizipation oder der Transparenz aufweisen als die rationale Herrschaft moderner Gesellschaften. Demokratien unterscheiden sich von diesen anderen Formen legitimer Herrschaft dadurch, dass sie zusätzliche Forderungen an Partizipation, Transparenz, die Herrschaft des Gesetzes und an Effektivität zu erfüllen hat, um als legitim zu gelten. Diese die Demokratie kennzeichnenden zusätzlichen Komponenten werden umso wichtiger, je stärker sich in hoch entwickelten Gesellschaften Legitimität von der (formalen) Input-Seite auf die (inhaltliche) Output-Seite verlagert.
In massiver Weise haben Euro- und Staatsschuldenkrise in Folge der globalen Finanzkrise die Legitimität demokratischer Regierungen in einer Reihe europäischer Staaten erschüttert. Anfang 2011 geriet die irische Regierung durch die Finanzkrise, in die auch irische Banken prominent verwickelt waren, unter Druck. Vor allem aber südeuropäische Staaten, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, sahen aufgrund einer Kumulation von Finanzkrise, Wirtschaftskrise und daraus folgender Staatsschuldenkrise ihre politi51schen Systeme in manifeste Krisen hineinschlittern (siehe zu Leistungsbilanzsalden und Erwerbslosenquoten für 2011 die folgende Abbildung 5).[2] Hinter diesen Krisen liegen nicht einfache Kausalitäten, sondern komplexe Verwicklungen, die in jedem Land andere Konstellationen schufen und zu unterschiedlichen Konsequenzen für die Politik führten.
Was sich aber allgemein und beispielhaft an den Krisen ablesen lässt, ist ein grundlegendes Dilemma demokratischer Legitimität in jenen Fällen, in denen formale Legitimität zu kollektiv katastrophalen Ergebnissen führt. Robert Mugabe in Zimbabwe, Wladimir Putin in Russland, Mohammed Mursi in Ägypten oder Viktor Janukowitsch in der Ukraine sind alle irgendwie demokratisch gewählt worden – unter Bedingungen, die in anderen Demokratien nicht als ordnungsgemäß angesehen würden –, und sie alle führen ihre Ländern in stark autoritärer oder fundamentalistischer Weise, was katastrophale Zustände zur Folge hat. So verzweifelt ist die Lage in den südeuropäischen Ländern nicht, aber das demokra52tische Dilemma ist vergleichbar. Für diese Länder kommt hinzu, dass sich die Legitimationskonflikte innerhalb der EU abspielen, also innerhalb eines ausgearbeiteten institutionellen Rahmens, der darauf ausgerichtet ist, dass die Mitgliedsstaaten sich vertraglich verpflichtet haben, auf bestimmte Momente ihrer Souveränität zugunsten der supranationalen Kompetenzen der EU zu verzichten. Die politischen Reaktionen in der Krise zeigen nun, wie schwierig es nach wie vor ist, die Legitimität nationalstaatlich organisierter Demokratien mit den Bedingungen gemeinsam beschlossener supranationaler Zielsetzungen in Einklang zu bringen. Alles, was nach einer Beeinträchtigung nationalstaatlicher Souveränität riecht, ob berechtigt oder nicht, ruft massive und teilweise überzogene Reaktionen hervor, die sich für nationalistische und populistische Perversionen der Politik ausbeuten lassen. Dies gilt in besonderem Maße für Griechenland, aber eben auch, wie die Wahlen zum Europa-Parlament im Mai 2014 gezeigt haben, für Länder wie Frankreich, Dänemark oder England. Die Folgen der globalen Finanzkrise haben in diesen Staaten, wie auch in Spanien und Portugal, erhebliche Verwüstungen angerichtet, allerdings im Kontext gesellschaftlicher Systeme, die als Oligarchien eher Parodien von Demokratie darstellen und mit flächendeckender Korruption, Politikversagen und Klientelismus nicht die besten Voraussetzungen für Demokratie aufweisen, sondern eher in Richtung von sogenannten »failed states«, also gescheiterten Staaten, tendieren.[3]
Es soll hier aber nicht um einzelne Details dieser Fälle gehen, sondern allgemeiner darum, wie Demokratien auf eine anachronistische nationalstaatliche Verengung und auf die Zumutungen einer verminderten Souveränität antworten können. Diese Problematik betrifft etwa Großbritannien oder Deutschland in gleicher Weise wie Griechenland oder Spanien. Sogar als Mitglieder der EU haben diese Demokratien noch nicht gelernt, adäquat – das heißt produktiv und zukunftsorientiert – mit Einschränkungen ihrer Souveränität zugunsten übergreifender Zielsetzungen umzugehen.[4] Lernen meint hier ein institutionelles Lernen auf der Ebene von 53Strukturen, Prozessen und Regelsystemen. Demokratien müssen Strukturen entwickeln, Prozesse definieren und Regeln setzen, die es erlauben, kurzfristige Verluste und Benachteiligungen zu akzeptieren, um mittel- oder längerfristige Vorteile zu realisieren. Es geht also um die von Keohane aufgeworfene Frage, wie institutionelle Defizite (hier: der Demokratie) überwunden werden können, um die wechselseitigen Vorteile eines supranationalen oder internationalen koordinierten Handelns zu ermöglichen.[5] Im Kern geht es darum, von einer Pareto-optimalen (negativen) Koordination zu einer Kaldor-optimalen (positiven) Koordination zu gelangen. Negative Koordination meint die Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, positive Koordination meint die Ausweitung von Optionen durch längerfristige gemeinsame Gewinne. Mit positiver Koordination können Optionen realisiert werden, die zunächst von Nachteil sind, dann aber über die Nachteile hinaus die Realisierung von Vorteilen ermöglichen (siehe dazu die folgende Abbildung 6). Praktisch bedeutet dies, dass bei positiver Koordination Optionen hinzugewonnen werden (in den dunklen Feldern), die zunächst für einen Akteur Nachteile mit sich bringen – dies sind in der Abbildung die Punkte C (Nachteil für Akteur X und Vorteil für Akteur Y) und D (Nachteil für Akteur Y und Vorteil für Akteur X) –, die aber in der Summe für beide Akteure vorteilhaft sind. Auf den beiden Achsen sind die Nachteile und Vorteile für beide Akteure abgebildet. Gemeinsame Vorteile gibt es also nur im oberen rechten Quadranten, der linke untere Quadrant ist der Bereich, in dem beide Akteure Nachteile haben. Die entscheidende Voraussetzung für positive Koordination ist, dass die Akteure einander vertrauen und sich dieses Vertrauen auch auf zukünftige Verhandlungen erstreckt.
Was im Modell plausibel und machbar erscheint, erweist sich in der Praxis jedoch als schwer zu realisieren. So wissen besonnene Politiker und Bürger in den südeuropäischen Staaten sehr wohl, dass eine jahrzehntelange Misswirtschaft und Fehlsteuerung nicht ohne Kosten zu korrigieren sind. Aber die realen Folgen einer...