EINLEITUNG
Eine Wissenschaft vom Wohlergehen
Das Leben war so einfach, bevor wir alle anfingen
nachzulesen, wie wir es führen sollen.
BEN WYLD
Selbsthilflos
Vor sechzehn Jahren litt ich an einem Lymphom im vierten Stadium. Ich hatte Angst, dass ich sterben würde, meine Ärzte glaubten, ich müsste sterben, und meine Familie tat alles in ihrer Macht Stehende, um genau diesen Gedanken zu vermeiden. Im klinischen Sinne lag ich sogar im Sterben: meine Vitalfunktionen waren so schwach, dass ich nur gerade so überlebte.
Wie viele todkranke Menschen geriet auch ich in Panik. Ich suchte händeringend nach einer Orientierung, einem Heilungsplan, nach etwas, das mir körperlich wie geistig helfen konnte. Und wenngleich ich damals bereits seit fast zwanzig Jahren Wissenschaftler und klinischer Psychologe war, weckte der Schrecken meiner Krankheit ein Bedürfnis nach Sicherheit in mir, das die wissenschaftliche Psychologie selten zu befriedigen vermag. Ich wollte etwas – egal was –, das mir half, die Kontrolle über mein Schicksal zu behalten. Also wandte ich mich von meinem Wissenschaftlerdenken ab und den bunten und verheißungsvollen Programmen zu, die mir boten, was ich hören wollte. Ich betrat die Welt der Selbsthilfe.
Nicht nur ich erlag der Verführung der Selbst- und Lebenshilfebücher, sondern auch meine Freunde und meine Familie, die mir alle verzweifelt zu helfen versuchten. Beinahe täglich bekam ich ein neues Programm oder eine neue Technik vorgestellt, und schließlich hatte ich über fünfzig halbgelesene Bücher und halbgehörte Kassetten über Selbstheilung unter meinem Bett, die ich nur dann hervorholte, wenn mich die Person besuchte, von der ich sie hatte. Mein Lektürelager war am Ende so groß, dass sich mein Krankenhausbett kaum noch hin und her schieben ließ.
Doch je mehr Selbsthilfekonzepte ich während meiner Krankheit kennen lernte, desto stärker geriet ich unter Druck und umso hilfloser fühlte ich mich. Ich fragte mich, was mit mir nicht stimmt. So viele Einmal-gültig-immer-gültig-Weisheiten und keine konnte mir nutzen? Wieso war die Philosophie hinter der Selbsthilfe für jedermann greifbar, nur für mich nicht? Angesichts der Allgegenwart von Schmerz und Tod auf der Krebsstation klang die Verordnung einer positiven Einstellung und die Beschwörung der Überlegenheit des Geistes über den Körper leer und nachgerade frevlerisch. Keines der Selbsthilfe-Mantras vermochte mir die drei Dinge zu geben, die ich am dringendsten brauchte: Sinn, Verständnis und Orientierung. Indes hat die traditionelle Psychologie gezeigt, dass gerade diese drei Dinge ein Gefühl von Schlüssigkeit vermitteln, wie es echter Selbsthilfe wesentlich sein sollte.1 Warum konnte ich nicht, was Millionen von Selbsthelfern angeblich konnten? War ich ein Selbsthilfeversager?
Als eine Schwester sagte, dass die Bücher wirklich im Weg seien, wurde mir klar, dass dieser Satz auch metaphorisch zu verstehen war.
Fastfood für die hungrige Seele
Das Selbsthilfe-Genre verwendet psychologische Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die auf das Alltagsleben angewendet werden. Doch in den letzten Jahren wurde daraus eine eigenständige Branche, die sich mehr und mehr von ihren einstigen Grundlagen entfernte. Wissenschaftlich fundierte Psychologie wird mittlerweile weitestgehend ignoriert. Die Psychotherapie geriet zu einem Gebiet, das den „wirklich Kranken“ vorbehalten ist, während die Selbsthilfe sich um die Massen von „besorgten Gesunden“ kümmert, indem sie ihnen eine Psycho-Moral fürs Leben, Lieben und Arbeiten anbietet. Wir alle wollen das „gute Leben“ führen, aber wir sind psychologisch kurzsichtig geworden. Die Glaubenssätze der Selbsthilfe sind inzwischen so allgegenwärtig, dass niemand sie mehr infrage stellt. Jeder – vom Politiker über den Professoren und den Lehrer bis hin zum Talkshow-Moderator – plappert die Plattitüden von der Selbst-Bestärkung nach, als wären sie ebenso wissenschaftlich fundiert wie die Gesetze der Physik. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sind sie jedoch nicht nur falsch, sondern sogar schädlich. Die nicht belegbaren Versprechungen, Programme und Garantien der Selbsthilfe-Gurus versperren uns den Weg zur Verwirklichung unseres Potenzials an Glück und Zufriedenheit.
Wenn ich vor einem Publikum von Leuten stehe, die mit Begeisterung Selbsthilfebücher konsumieren, lasse ich sie gern den „Tatsachen des Lebens“-Test machen. Ihre Antworten habe ich über Jahre gesammelt. Darüber hinaus habe ich den Test auch Wissenschaftlern aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie und Medizin gegeben, damit sie ihre Antworten mit denen des durchschnittlichen Selbsthilfebuch-Lesers vergleichen können. Ihre Angaben sind wahrlich erhellend. Versuchen Sie es einmal selbst, dann erkläre ich es Ihnen.
Der Test besteht aus nur zwanzig Fragen. Kreuzen Sie alle Sätze an, von denen sie meinen, sie würden zu einem gesunden, glücklichen Leben führen:
1. Wir dürfen nie die Hoffnung aufgeben.
2. Wir sollten verzeihen können und niemals voreingenommen sein.
3. Unsere Kindheitserfahrungen prägen unsere Gefühle und unser Verhalten als Erwachsene.
4. Wahre Liebe sollte bedingungslos sein.
5. Eine positive Einstellung heilt, eine negative kann uns krank machen.
6. Gewinner geben niemals auf, und Aufgeber gewinnen nie.
7. Eine hohe Selbstachtung ist wesentlich für die geistige Gesundheit.
8. Trauerberatung hilft bei großen Verlusten.
9. Eine ablehnende Haltung ist ungesund.
10. Die meisten Menschen sind von irgendetwas abhängig.
11. Sich von einer Abhängigkeit zu „erholen“ ist ein lebenslanger Prozess.
12. Regelmäßige sportliche Betätigung ist wichtig für ein langes Leben.
13. Wenn man die richtige Diät wählt und genügend Willenskraft aufbringt, erreicht man sein Wunschgewicht.
14. Die meisten Menschen mit einem erhöhten Risiko für Herzerkrankungen aufgrund von Übergewicht, Bluthochdruck und Rauchen erleiden irgendwann einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, während die meisten Leute, die keinen dieser Risikofaktoren aufweisen, weder einen Herzinfarkt noch einen Schlaganfall bekommen.
15. Jeder hat eine unbegrenzte persönliche Willenskraft. Wer etwas nur ernsthaft genug will und sich fest darauf konzentriert, erreicht es auch.
16. Man kann niemanden lieben, ehe man nicht gelernt hat, sich selbst zu lieben.
17. Koabhängigkeit ist ein Zeichen von persönlicher Schwäche.
18. Wir müssen unsere Gefühle erkennen und nach ihnen handeln.
19. Schuld- und Schamgefühle sind ungesund.
20. Dauerhafte Beziehungen erfordern eine Menge verbale Kommunikation.
Im Durchschnitt kreuzten die Befragten achtzehn der zwanzig Sätze an, und nicht ganz die Hälfte stimmte sogar allen zwanzig Behauptungen zu. Aber was ist, wenn genau das Gegenteil dessen stimmt, was hier steht? Genau das aber will dieses Buch anhand wissenschaftlicher Forschungsergebnisse belegen. Das optimale Testresultat wäre demnach 0! Und tatsächlich haben zwanzig Forscher aus den Bereichen Psychologie, Psychiatrie und Medizin exakt dieses Resultat erzielt.
Die „Fakten“ infrage stellen
Fangen Sie damit an, sich folgende entscheidende Fragen zu stellen: Fühlen Sie sich wirklich so wertlos? Die Selbsthilfe gründet auf der Überzeugung, wir hätten sie nötig. Dass wir alle unter niedrigem Selbstbewusstsein leiden, wird häufig behauptet und ist weithin akzeptiert. Melody Beattie, die Autorin des Megasellers Die Sucht gebraucht zu werden schrieb: „Wir alle leiden an der unbestimmten aber allgegenwärtigen Krankheit niedrigen Selbstwertgefühls.“ Und was rät sie uns? „Hören wir auf, uns selbst zu quälen, fangen wir an, besser über uns zu denken, und geben wir uns selbst eine große emotionale und mentale Umarmung.“ Gewiss benutzt Miss Beattie das sie einschließende „wir“ aus einer mitfühlenden Solidarität heraus, denn wenn ihr Programm funktioniert, muss sie sich selbst inzwischen aus tiefstem Herzen bewundern.
Mein Buch hingegen behauptet, dass die meisten von uns nicht so schlecht von sich denken, es sei denn, jemand suggeriert uns fortwährend, dass wir es sollten. Eigentlich rühren viele der Probleme, die wir haben, eher von zu starker Ich-Bezogenheit her. Ich habe beispielsweise festgestellt, dass sich Hypochondrie am besten kurieren lässt, indem man den Patienten dazu bringt, sich auf das Wohlergehen eines anderen anstatt auf das eigene zu konzentrieren.
Ist Selbstachtung wirklich die Grundvoraussetzung der geistigen Gesundheit? Ausgehend von dieser These...