ETÜDE 1
Der Mensch stammt vom Affen ab!
Es gibt einen gleichermaßen mit psychologischen wie philosophischen Dimensionen belasteten Witz: Kommt ein Junge aus der Schule nach Hause und erzählt seinem Vater: »Wir haben heute in der Schule gelernt, dass der Mensch vom Affen abstammt. Stimmt das denn, Papa?« worauf der Vater erwidert: »Ich nicht, du schon!«6
Witze zu erklären, ist eine unangemessene Unternehmung. Aber hier geht es ja nicht darum, jemandem etwas zu erläutern, was er nicht verstanden hat. Der dilemmatische Hintergrund der Geschichte liegt in der allgemeinen und besonders bei Vätern verbreiteten Ansicht begründet, dass die Verhältnisse immer schlechter werden, die Geschichte sozusagen eine Rückentwicklung des menschlichen Geschlechts bezeichnet. Früher waren die Verhältnisse besser, die Menschen anständiger, gescheiter, gewandter usf.
Das Dilemma dieser Ansicht ist die ebenso verbreitete Aufklärungsidee, dass die Menschheit kontinuierlich voranschreitet, immer fortschrittlicher wird, mehr Wissen anhäuft, die Menschenrechte und den Weltfrieden auch weltweit durchsetzt usf. Die Fortschrittsidee der Aufklärung ist durch die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert bestätigt worden und hat sich freilich auch auf das biologische Denken erstreckt. Der Mensch unterlag demnach, wie jedes andere Lebewesen auch, einer fortschreitenden Entwicklung aus Vorformen von Lebewesen, welche aus ihm durch Selektion und Anpassung biologisch und genetisch das machte, was wir heute sind.
Diese beiden Ebenen bezieht der Witz auf die Individuen: Der Sohn muss freilich dämlicher sein als der Vater, wenigstens aus dessen Sicht, weil das Ei nicht schlauer sein kann als die Henne. Dabei verstrickt er sich in die Begriffe und ihre Bedeutungen angesichts der Evolution, weil er wörtlich nicht mehr sagt, als dass er selbst im Gegensatz wiederum zu seinem eigenen Vater auf der unterentwickelten Stufe der Evolution steht.
Die Aussage »Der Mensch stammt vom Affen ab« ist eine historische und keine individuelle. Ihr Gegenstand ist die biologische Entwicklung; schon an dieser Stelle vermischen sich unterschiedliche Ebenen. Das »Stammen« scheint darüber hinaus einen Kausalnexus anzudeuten. Aus dem Affen wird kausal ein Menschenaffe und aus dem wiederum ein Mensch. Um die Behauptung philosophisch zu prüfen – oder auch um einen allgemeinen Sinn darin zu entdecken –, müssen wir die beiden Begriffe »Affe« und »Mensch« untersuchen. Diese werden in unterschiedlichen Kontexten etwas Verschiedenes bedeuten.
Der Vater in der Geschichte unterlegt den Begriff mit einem Pejorativ, der ihn am Ende selber trifft. Zu einem Menschen »Du Affe!« zu sagen, kann aber auch wiederum Unterschiedliches meinen. Gerhard Roth schreibt: »Daher hat im Vergleich zu den anderen Affen der Mensch einen besonders großen Stirnlappen«.7 Das soll zwar eine wissenschaftliche Aussage sein, die für Roth selbstverständlich aus biologischen Tatsachen folgt, gleichzeitig kann man das aber auch als Beleidigung des Lesers auffassen.
Die Beleidigung trifft allerdings nicht nur den Leser, sondern ist an jeden Menschen gerichtet. In diesem Sinne sprechen wir von vier anthropologischen Kränkungen: Nach Kopernikus ist der Mensch nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, nach Darwin ist er keine Krönung der Schöpfung mehr, sondern nur deren späte, wenn auch komplexeste Entwicklung, nach Freud ist der Mensch nicht Herr im eigenen Haus und nach dem mechanischen Determinismus ist der Mensch durch sein neuronales System im Denken, Fühlen und Handeln vollkommen durch Stoffwechselprozesse festlegt.
Aber in dieser Aufzählung kommen auch die Affen schlecht weg, nachdem sie seit Descartes wie alle Tiere nur als komplizierte Maschinen bzw. Automaten gelten. Ihrer Natur fehlt die dem Menschen allein vorbehaltene »denkende Sache«. Wahrscheinlich würden sich Tiere allerdings heftig gegen diese Abwertung verwahren, wenn sie dazu in der Lage wären.
Der »Affe« ist eine biologische Verwandtschaftsgruppe von Säugetieren, den so genannten Primaten. Man unterscheidet die Prosimiae und die Anthropoidea. Zu den ersten gehören die heutigen Halbaffen (Tarsier, Lemuren, Loris, Galagos, die Bezeichnung »Halbaffen« ist aus biologischen Gründen umstritten) und normalerweise die fossilen Primaten (die im Übrigen keine Lebewesen sind, sondern es allenfalls waren). Die Anthropoidea unterteilt man in die Altweltaffen (Languren, Colobus, Meerkatzen, Paviane, Mandrills, Makaken), Neuweltaffen (Krallenaffen, Kapuzinerartige, Nachtaffen, Klammerschwanzaffen, Sakiaffen, mit zahlreichen Unterarten), Menschenaffen (die Hominidae: Gibbons, Siamangs, Orang-Utans, Schimpansen, Zwergschimpansen, Gorillas) und den Menschen (Gattung homo). Der Affenmensch, den Ernst Haeckel als Bindeglied zwischen Affe und Mensch gefordert hatte, existierte dagegen zu keiner Zeit.8
Was als biologisches Ordnungsschema zur Unterscheidung und Klassenzuordnung von Lebewesen gedacht ist, wird der vergangenen Entwicklung überstülpt. Unter Hinzunahme der Evolutionstheorie übertragen Biologen und Paläoanthropologen die Unterscheidungsmerkmale von Lebewesen (Genotyp, Ontogenese, Phänotyp und Verhalten) auf ausgestorbene Varianten und kommen so zu Übersichten von vertikalen Verwandtschaftsbeziehungen und horizontalen Entwicklungslinien.
Mit den sogenannten Hominini, der Entwicklungslinie ab der Trennung von den Menschenaffen, beschäftigt sich die Paläoanthropologie, die in den letzten fünfzehn Jahren den sogenannten menschlichen Stammbaum mehrmals vollständig umschreiben musste.9 Diese Wissenschaft will die biologischen Verwandtschaftsbeziehungen, die Abzweigungen der Stammeslinien, die evolutionsökologischen Rahmenbedingungen dieser Prozesse, die Anzahl der Vorläufer und die biologische Entwicklung der spezifisch menschlichen Merkmale untersuchen.10
Die Paläoanthropologie ist heillos unübersichtlich, die Zunft zerstritten. Dennoch arbeitet sie mit wissenschaftlich korrekten, d. h. klar nachvollziehbaren und methodisch abgesicherten Befunden und Daten, die sich freilich nicht nur einer Disziplin verdanken, sondern eine Fülle von geologischen, klimatischen, mikro- und makrobiologischen, anatomischen usf. Erkenntnissen zusammentragen. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sind zwei Voraussetzungen der Paläoanthropologie zu nennen: Die Evolutionstheorie ist sakrosankt. Und: Die Datenlage ist spärlich. Darin ist man sich einig.
Da es nur wenig untersuchtes Material gibt und wir schon diese wenigen Daten in Rahmenbedingungen der zeitlichen Zuordnung und der biologischen Verhältnisse (Nahrungsangebot, Lebensraum, Fortpflanzung, Klima etc.) einpassen müssen, sind wir mit Notwendigkeit auf Hypothesen angewiesen. Diese werden durch die Evolutionstheorie einschränkt. Die Frage also ist, ob auf der Grundlage dieser Theorie eine umfassende Erklärung der menschlichen Entwicklung möglich ist.
Die Evolutionstheorie besagt nun, dass die Natur keine Sprünge macht, dass sich Lebewesen genetisch verändern (Mutation) und dass diese Veränderung Auswirkungen hat, die mit der Umwelt des Lebewesens rückgekoppelt sind (Selektion). Jenseits dieser Voraussetzungen gibt es keinen wissenschaftlichen Ansatz, den die Paläoanthropologen gegen Ansprüche der auf Aristoteles zurückgehenden Teleologie und von religiös-ideologisch fundierten Kreationsvorstellungen verteidigen. Alles, was gegen die spezifisch verstandene Evolutionstheorie geht, seien »inkonsistente Spekulationen«.11 Das Grundproblem liege dabei im Zufall: Die evolutionären Veränderungen sind völlig offen, erst nachträglich erweisen sie sich als zweckmäßig.
Nun wird die Teleologie heute (im Anschluss an Kant) als eine Erklärungsmethode verwendet, wenn wir keine kausale Erklärung haben. Sie umfasst alles Vor- und Zurückrechnen, die Annahme von Handlungen und damit auch historische Betrachtungen. Die aristotelische Lehre davon, dass sich Lebewesen nach einem inneren Prinzip, ihrem Telos, entwickeln (entelecheia), steht auf einem anderen Blatt, weil dies eine Art der Erklärung ist, die metaphysisch-ontologische Annahmen machen muss. Dass die Kausalverhältnisse in der Paläoanthropologie geklärt sind, davon kann freilich keine Rede sein. Die physischen Vorgänge werden interpoliert, d. h. es wird angenommen, dass die Veränderungen und der Lebensprozess kausalen Bedingungen unterliegen. Das ist eine für biologische Vorgänge, welche eine naturwissenschaftliche Erklärung geben wollen, höchst sinnvolle, ja unabdingbare Voraussetzung; dennoch ist es eine Hypothese, eine Annahme.
Der Paläoanthropologe sagt, er wolle die Vorgänge erklären. Dabei geht es nicht um ein kausales Geschehen, sondern in der Erklärung wird ein Ziel formuliert. Der Erkenntnisgewinn in sämtlichen mit naturwissenschaftlichen und mathematischen Methoden arbeitenden Wissenschaften ist selbstredend teleologisch verfasst. Die Methoden, welche dabei verwendet werden, haben das Ziel, etwas...