Die große Überraschung des 21. Jahrhunderts
Afrika ist fast so groß wie der Mond. Die Fläche des Kontinents ist größer als die der USA, Chinas, Indiens, Japans und Europas zusammen. In Afrika leben heute 1,1 Milliarden Menschen. 2050 könnten es schon zwei Milliarden sein. Eine Mittelschicht von 300 Millionen Menschen ist inzwischen entstanden, die konsumieren wie die Menschen anderswo auch. Sie ist größer als die Mittelschicht Indiens. In keinem anderen Kontinent wachsen die Mobilfunkkunden so schnell wie in Afrika. Neue moderne Megastädte entstehen. Sechs von zehn der am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt liegen in Afrika. Die Wirtschaft in den afrikanischen Vorreiterstaaten wächst heute schon dynamischer als in Asien. Seit einer Dekade legt Subsahara-Afrika mit jährlich über fünf Prozent zu. 2014 waren es sogar über sechs, bei einer moderaten Neuverschuldung in Subsahara-Afrika von 3,9 Prozent des BIP und einer mäßigen Inflation von sechs Prozent. Auch die Auslandsverschuldung ist nicht mehr belastend, seit dem großen Schuldenerlass 2005. Der Grund: Der Kontinent ist eines der wichtigsten Rohstofflager der Welt, das nicht nur vom stark schwankenden Ölpreis abhängig ist. Öl, Gold, Diamanten, Platin, Uran, Nickel und Kupfer gibt es in Afrika ebenfalls in Hülle und Fülle – von einigen ist Afrika weltweit der Hauptproduzent. Alles Rohstoffe, die vor allem die asiatische Industrie als Fabrik der Welt dringend braucht. Und kaum jemand im Westen weiß, dass 60 Prozent der heute weltweit nicht genutzten Landwirtschaftsflächen in Afrika liegen. Um ein Gefühl für das Potential zu bekommen, was sich hinter modernen Anbaumethoden verbirgt: Seit 1960 wuchs die weltweite Agrarproduktion pro Ackerfläche um 145 Prozent, in Afrika schrumpfte sie im gleichen Zeitraum um zehn Prozent.
Um es kurz zu machen: Der Afrika-Boom war überfällig. Er ist nur eine historische Überraschung für diejenigen, die bisher keine Zeit fanden, sich mit dem Kontinent zu beschäftigen. Aber auch sie kommen um Afrika nicht mehr herum. »Ich sehe Afrika als die nächste große Erfolgsstory der Welt«, sagt inzwischen selbst US-Präsident Barack Obama, der als erster Präsident afroamerikanischer Herkunft aus innenpolitischen Erwägungen mit solchen Äußerungen leider vorsichtig sein muss. Die konservativen Weißen sind schnell dabei, ihn der Vetternwirtschaft zu bezichtigen. Mit großen Erfolgsaussichten.
Die meisten Menschen im Westen können nach wie vor nicht glauben, dass Afrika boomt. Mit dem Schwarzen Kontinent verbinden die meisten Europäer und Amerikaner noch immer Armut, HIV/Aids, Ebola, Krieg und Terrorismus. Sie nehmen die aktuelle Entwicklung nicht wahr – während die Asiaten, allen voran die Chinesen, aber auch die Inder und Südkoreaner, schon lange und eng mit den Afrikanern zusammenarbeiten und Geschäfte machen. Die Asiaten haben keine Anwandlungen postkolonialer Herablassung. Viele kommen aus Ländern, die selbst einmal kolonisiert waren. Sie sind nachsichtiger gegenüber den Schwächen Afrikas, weil bei ihnen selbst noch nicht alles perfekt läuft und sie in Aufbruchszeiten leben. Umgekehrt sind die Emerging Markets den Afrikanern denn auch näher als die westlichen Gesellschaften, die ihren Zenit erreicht haben, bei denen die Schulden so hoch und die Sozialsysteme so teuer sind und die Wirtschaft so schwach ist, dass man sich Neuem nicht mehr öffnen mag, selbst wenn das Neue mit großen Chancen verbunden ist.
Vor allem jedoch kennen die Chinesen und Inder das, was die Afrikaner jetzt erleben, noch aus eigener Erfahrung. Sie haben einen ähnlichen Aufstieg von großen Teilen der Bevölkerung aus einer einfachen Bauerngesellschaft in eine Industriegesellschaft erlebt. Sie wissen noch sehr genau, was dies bedeutet und was man in relativ kurzer Zeit schaffen kann. Allein die zwanzig Jahre chinesischer Investitionen in Afrika haben dem Kontinent mehr geholfen als ein halbes Jahrhundert westlicher Entwicklungshilfe.
Am Westen dagegen geht der Afrika-Boom weitgehend vorbei. Nicht nur an den Medien und damit an der Aufmerksamkeit der Europäer und Amerikaner, sondern auch an weiten Teilen der Wirtschaft – vor allem der Deutschen. Überraschungen sind nett bei Kindergeburtstagen. Im geostrategischen Kräftespiel können sie sehr unangenehm sein. Paart sich Ahnungslosigkeit mit Arroganz, macht sie den Überraschten zum Düpierten, der nichts mitbekommen hat und dadurch in die Defensive gerät. Im Falle Afrikas müssen sich die Düpierten nun eingestehen, dass der Aufstieg des Kontinents eine Normalität ist, die nur lange auf sich warten ließ.
Ja, Afrika ist unübersichtlich: Die 20 Länder mit der größten ethnischen Diversität weltweit liegen ausnahmslos in Afrika. Kein Kontinent hat mehr Religionen und mehr Sprachen als Afrika. Aber die Afrikaner sind nicht – wie es viele im Westen glauben, die Afrika als hilflosen Sonderfall der Geschichte sehen – schlechter geeignet, einen Boom zu entfachen, als andere Menschen. Nur müssen wie anderswo in der Welt auch die Voraussetzungen dafür vorhanden sein. Es lohnt wieder ein Blick auf die historische Parallele: Unter Mao Zedong war ein Wirtschaftswachstum wie in den 1980er-Jahren in China auch nicht möglich. Noch in den 1970ern waren die Zweifel im Westen sehr groß, ob die Chinesen das je schaffen würden. Damals konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die besten Hightech-Produkte der Welt einmal in der Volksrepublik hergestellt werden würden und westliche Unternehmen Schlange stehen, um ihre Produkte in China verkaufen zu dürfen.
Die Skeptiker sollten nicht vergessen: Von Ausnahmen abgesehen, wie Ghana in den 1950er Jahren, waren in Afrika die Umstände sehr lange sehr viel ungünstiger als in anderen Weltregionen. Woran der Westen mit seiner Kolonial- und Postkolonialpolitik nicht unschuldig ist. Mag der Aufschwung in Afrika ein wenig länger dauern als in Asien. Mag China die viel effizientere Verwaltung haben, mag es bremsen, dass Afrika aus 54 einzelnen Ländern besteht – der Weg nach oben wird der gleiche sein.
Wir erleben derzeit den Befreiungsschlag. Und dass die Jüngsten in einer Familie zu den Verwöhntesten gehören, aber gleichzeitig auch die Pfiffigsten sind, gilt auch für den Aufstieg von Ländern. Das sind die Umstände, unter denen Afrika gegenwärtig aufsteigt, und die Mentalität, die den Boom begleitet.
Der Kontinent wird ein Teil der eng vernetzten Weltwirtschaft. Neue Megastädte entstehen, wie Modderfontein in der Nähe der südafrikanischen Metropole Johannesburg, eine Acht-Milliarden-US-Dollar-Investition für 100 000 Menschen. Oder Konza Techno City, eine 15-Milliarden-US-Dollar-Investition in Kenia für 185 000 Menschen, eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Nairobi entfernt. Dabei gibt es schon jetzt 46 Millionenstädte in Afrika, in Europa dagegen nur 23. Eisenbahnlinien werden nun endlich saniert, wie die vor 120 Jahren gebaute Strecke zwischen Mombasa und Nairobi, die in dem Film Jenseits von Afrika weltberühmt wurde. Häfen wie Durban Dig-Out Port in Südafrika und Bagamoyo in Tansania werden mit Milliardeninvestitionen errichtet, um nur einige Beispiele zu nennen. Die selbstbewusste Mittelschicht nimmt ihren Aufschwung nun in die Hand. Sie zelebriert ihren wirtschaftlichen Erfolg und konsumiert mit noch größerer Lust als die Mittelklasse im Westen. Gleichzeitig fordert sie ihre Regierungen. Sie sollen sich nun gefälligst an allgemeingültige Spielregeln halten und im Dienst des Volkes stehen, statt sich selbst zu bereichern. Sie warten nicht mehr auf die Hilfe des Westens, sondern entwickeln sich ihre Hightech-Produkte inzwischen selbst. Produkte, die ihr Leben beschleunigen und ihre Chancen erhöhen.
Mit dem in Kenia entwickelten Banking Tool M-Pesa überweisen inzwischen 18 Millionen Menschen ihr Geld über Handys, ohne dass sie über ein reguläres Konto verfügen müssen. Das sind mehr als zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung, die Geld im Wert der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Kenias herumschicken. Und Technologietransfer ist nun auch für Afrika keine Einbahnstraße mehr. M-Pesa trat aus Kenia seinen Siegeszug um die Welt an. Inzwischen kann man in Afghanistan damit bezahlen, und in Indien hat das Programm bereits über eine Millionen Kunden. Seit 2014 ist M-Pesa auch in Europa erfolgreich: Es wurde in Rumänien eingeführt. M-Pesa ist kein Einzelerfolg: Ein ähnliches System in Nigeria hatte 2014 bereits über 1,3 Millionen User. Im Sudan und in Gabun wickeln bereits jeweils die Hälfte der Erwachsenen ihre Geldgeschäfte mobil ab. Das sind die neuen Geschichten aus Afrika. So wie die eines jungen 28-jährigen angehenden Arztes aus Ghana namens Bright Simon. Er hat eine simple Text-Message-Lösung erfunden, mit der man gefälschte Medikamente entlarven kann. Die Medikamente werden mit einer Nummer versehen, die man aufrubbeln kann und zur Echtheitsprüfung dann ins Handy eingibt. Laut Schätzungen der Weltbank sind etwa ein Drittel der Medikamente in Afrika gefälscht. »In zehn kurzen Jahren«, sagt Ruandas Präsident Paul Kagame »wurde aus dem Luxusprodukt Mobiltelefon in Afrika ein grundlegendes alltägliches Gebrauchsgerät.«
Die westliche Berichterstattung über den Kontinent trägt währenddessen eher dazu bei, die Klischees des Kontinents zu festigen, als seinen Wandel zu dokumentieren. Boatpeople, Terrorismus, kriegerische Konflikte, die Klischees halten sich hartnäckig.
Das gilt 2014 für die Berichterstattung über Ebola. Ebola wird Afrika nicht um »Jahrzehnte zurückwerfen«, wie in einer...