DAS LEBEN FEIERN
Kennst du die unbestimmte Sehnsucht nach dem echten Leben – nach einem Leben voller Schönheit, Kraft und Energie? Und kennst du diesen Wunsch, endlich im Leben anzukommen – im Gleichgewicht mit dir und anderen, voller Lebendigkeit und voller Freude?
Wenn ja, dann bist du nicht allein. Ich glaube, alle Menschen kennen diese Sehnsucht. In meiner Heimat feiern wir deshalb die Zeremonien. Sie heben deinen Geist, sie öffnen dir das Herz, sie helfen dir, dein Gleichgewicht zu finden und das in dir noch schlummernde Potenzial zu wecken. Sie laden dich ein, deiner Bestimmung zu folgen und aufrecht, stark und schön auf der Erde zu wandeln.
WAS DICH LEBENDIG MACHT
- ZEREMONIEN -
Spürst du das Leben? Bist du wach? Und nimmst du wahr, was um dich ist? Ja, kennst du diese unbändige Freude, die dich durchströmt, wenn deine Seele hoch gestimmt ist? Um lebendig zu sein, brauchst du Zeremonien.
Meine Großmutter Aanakasaa wurde nicht müde, uns diese Worte zu lehren. Sie forderte uns damit auf, achtsam und wach durch das Leben zu gehen, mit gehobenem Geist und in klarem Bewusstsein – in Festtagsstimmung gewissermaßen. Sie machte uns darauf aufmerksam, dass die Zeremonien, die wir Grönländer bei jeder sich bietenden Gelegenheit feiern, eigentlich dazu dienen, uns immer wieder einzustimmen in die wirkliche Lebendigkeit.
Das Leben selbst ist eine Zeremonie – wert, mit einer Zeremonie gefeiert zu werden.
Und du? Fühlst du dich lebendig? Wandelst du in deiner Kraft? Nicht? Dir fehlen die Zeremonien. Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus einem Land, in dem sich nicht leicht leben lässt. Sechs Monate lang sehen wir die Sonne nicht, die Erde ist mit Eis bedeckt, das Leben ist ein steter Kampf.
Weißt du, was uns die Kraft gegeben hat, unter diesen Bedingungen über Jahrzehntausende zu bestehen? Die Zeremonien. Und weißt du, was das Schlimmste ist, was meinem Volk vom weißen Mann angetan wurde? Dass man sie uns nahm und uns eine fremde Religion aufzwang.
Zeremonien heben den Geist
Zeremonien öffnen dir die Augen. Sie lassen dich die Schönheit in der Welt erkennen, sie schärfen deinen Sinn für all die kleinen, guten Dinge, die um dich sind und die dich jeden Tag begleiten. Sie bringen dir zu Bewusstsein, wie kurz und wie zerbrechlich dein Leben ist – und dass die Tage viel zu kostbar sind, um sie in Klagen und mit Sorgen zu vergeuden. Sie heben deinen Geist und füllen ihn mit Dankbarkeit und Freude, anstatt dass du dich in dein Leid vergräbst und bitter, kalt, bedrückt dein Dasein fristest.
Sie zaubern dir ein Lächeln auf die Lippen und richten dir den Körper und die Seele auf. Wenn du sie feierst, öffnen sich dein Herz und deine Sinne. Alles wird schön und leicht und frei. Dann kannst du wieder atmen und das Leben fühlen.
Zeremonien sind viel größer als dein Denken – sie stimmen dich als Ganzes auf das Leben ein.
In allen Situationen deines Lebens erlauben dir die Zeremonien, dir selbst zu begegnen. Sie lenken dich auf deine Bestimmung. Und das ist das Allerwichtigste im Leben. Die Alten meines Volkes sagen: »Wir leben nicht, wenn wir ohne Zeremonien leben.« Ohne Zeremonien bist du einfach nur da: Du schläfst, stehst auf, isst, gehst zur Arbeit, schaust Fernsehen, surfst im Internet, gehst zu Bett. Du bist den ganzen Tag beschäftigt, aber keinen Augenblick lebendig. Und so geht es immer weiter, bis du dich eines Tages fragst, ob das nun dein ganzes Leben sein soll. Ich sage dir: Das ist es nicht. Es ist nicht, was es sein soll. Es ist ein schattenhaftes Leben und nicht das Fest, das es zu sein bestimmt ist.
Wacher Geist und liebendes Herz
Das Leben ist eine Zeremonie – wert, mit einer Zeremonie gefeiert zu werden. Es geht dabei um keine große Sache. Das habe ich von meiner Mutter Aanaa Aanaqqii gelernt. Sie war eine große Heilerin. Und es verging kein Tag, an dem sie nicht zur nachmittäglichen Stunde ihre Gebetskerze entzündet hätte. Sorgsam nahm sie das Streichholz, entflammte den Docht und wandte sich mit liebevollem Blick dem Licht zu. Lange Zeit verharrte sie so – in Gedanken bei denen, die ihren Beistand erbeten hatten. Jeden Tag hielt sie es so. Fünfundsechzig Jahre lang, immer in größter Achtsamkeit und mit einem wachen Herzen.
Die Absicht ist das Entscheidende. Sie macht aus einer unscheinbaren Handlung eine kraftvolle, lebendige Zeremonie.
Fehlt dir diese Haltung, ist deine Zeremonie nichts wert. Sie erstarrt zum leeren Ritual, das nur noch deshalb begangen wird, weil es halt so üblich ist. Wie viele leere Rituale habe ich schon in der Welt gesehen! Im Fernsehen, bei Gesellschaften, bei Festlichkeiten und auch in den Kirchen. Selten sah ich eine echte Zeremonie. Deshalb weiß ich, was den Menschen fehlt, was dir fehlt.
Du musst es nur tun
Du fragst mich, was du tun kannst? Tief in dir steckt ein Sinn fürs echte Leben. Ihn musst du wecken. Du kannst es. Indem du Zeremonien feierst. Und wenn du sagst, dass du nicht weißt, wie das geht, dann sage ich dir: Es gibt genügend Möglichkeiten. Ein paar davon findest du hier, in diesem Buch. Und wenn sie nicht recht zu dir passen, dann schaffe deine eigenen Zeremonien.
Jeden Morgen stehst du auf. Warum begrüßt du nicht den Tag mit einer kleinen Geste – in Achtsamkeit und ganz bewusst? Schon hast du eine Zeremonie für dich gefunden. Oder wie wäre es, dich vor dem Essen kurz zu sammeln und in der Stille einen Dank zu sprechen? Und wäre es nicht schön, wenn du am Abend vor dem Schlafengehen noch einmal zum Himmel aufschaust und seine Weite in dich aufnimmst? Es gibt so viele Zeremonien, die nur darauf warten, von dir entdeckt und gefeiert zu werden.
Glaube mir: Es ist nicht schwer. Es geht ja nur darum, eine Form zu finden, die es dir erlaubt und die dich darin unterstützt, achtsam zu sein – eine Form, die dir zu Bewusstsein bringt, dass du da bist, inmitten einer wunderbaren Welt. »Beobachte und sei achtsam, was außen geschieht – in dir drin«, sagte meine Großmutter. Sie wollte, dass wir jeden noch so unscheinbaren Augenblick in uns lebendig werden lassen – einfach nur, indem wir ihn mit liebevoller Achtsamkeit wahrnehmen. Fang einfach damit an und du wirst sehen, dass Zeremonien wie Pflanzen sind: Sie wachsen in dir, sie entfalten sich zu vollem Leben, wenn du sie sorgsam hegst und pflegst. Und mit der Zeit, wenn sie in dir verwurzelt sind, werden sie dich von innen her verwandeln. Dann wird ihre Schönheit in dir strahlen.
WIE DU DICH ERDEST
- BETEN -
Hast du schon einmal gebetet? Hast du schon einmal mit deinem Schöpfer gesprochen? Hast du schon einmal dein Herz vor ihm ausgeschüttet? Hast du schon einmal erfahren, wie es ist, selbst ein Gebet zu sein?
Die Ältesten meines Volkes sagen: »Beten heißt, die Sprache des Schöpfers sprechen.« Sie sagen auch: »Im Laufe deines Lebens wirst du diese Sprache lernen.« Du fragst, wer dich diese Sprache lehren kann? Öffne die Augen! Die Steine beten mit ihren Farben, mit dem Funkeln ihrer Einlagerungen und dem metallischen Glanz der Erze. Das Meer betet mit seinem Rauschen und den Schaumkronen seiner Wellen. Die Blumen beten mit ihren prächtigen Blüten und die Bäume mit ihren mächtigen Kronen. Sieh die Tiere! Sie beten mit ihren eleganten Leibern, mit ihren Spielen und ihren Lauten.
Und du? Wie betest du? Das schönste Gebet ist ein blühender Mensch, der aufrecht, kraftvoll und in Schönheit auf der Erde wandelt.
Das schönste Gebet ist ein Mensch, der die Gaben seines Herzens entfaltet und dessen Taten die Sprache des Schöpfers sprechen.
Bist du so ein Mensch? Wenn du zu mir nach Grönland kommst, wirst du hier und da Menschen sehen, die auf der Kuppe eines Berges stehen und mit ihrem Schöpfer reden. Du wirst ihr Gebet vernehmen, denn sie beten mit lauter Stimme, um sicher zu sein, dass ihr Schöpfer sie hört.
Geh in die Natur
Wir brauchen keine Kirche, um unsere Gebete zu sprechen. Unsere Kirche ist die Natur. Dort spüren wir den Boden unter unseren Füßen. Dort spüren wir den Atem von Pinngortittisoq – des Mannes, »der uns gemacht hat«. Er trägt bei uns auch den Namen Sila, was »die Luft« bedeutet, weil er uns wie sie von allen Seiten her umgibt.
In der Natur kommen wir zu uns. Dort sind wir zu Hause. Wie kannst du von Herzen beten, wenn du nicht bei dir bist?
Wenn du zu mir nach Grönland kommst, wirst du hier und da alten Menschen begegnen, die fortwährend ein Lied auf ihren Lippen tragen. Oft sind sie sich dessen gar nicht mehr bewusst. Sie singen einfach. Sie singen, weil sie dankbar sind. Nicht nur bei den Zeremonien, sondern im täglichen Leben, bei der Arbeit, im Bus, in der Küche. Die Ältesten sagen: »Ein Lied ist das Gebet des Geistes.« Wenn du mit dem Herzen singst, steigt das Lied aus deinem Geist empor. Dann sucht er sich die schönsten Melodien. Ein schönes Lied ist Nahrung für den Geist. Wenn er in dir zu singen anhebt, spielt...