DIE WISSENSCHAFT, UND WAS DER ZUCKER MIT MIR ANSTELLTE
DAS ZUCKER-FAMILIENALBUM
Bevor wir loslegen, sollten Sie die Familie Zucker besser kennenlernen. Für die meisten Menschen sind die verschiedenen Zuckerarten wie Cousins zweiten Grades, die man nur zu Weihnachten sieht. Um unserer Gesundheit willen sollten wir uns jedoch mit ihnen vertraut machen. Einige Zuckerarten sind unentbehrlich (wie Tantchen, das uns jede Weihnachten Socken und Unterwäsche schenkt), andere können in unserem fein justierten Körper eine schädliche Wirkung entfalten (für mich wäre das dann der Onkel mit dem zermalmenden Händedruck, der immer peinliche Ausländerwitze macht.)
ZUCKER IN DER NATUR
DIES SIND DIE VIER WICHTIGSTEN ZUCKERARTEN, DIE IN DER NATUR VORKOMMEN:
GLUKOSE oder TRAUBENZUCKER findet sich in fast jedem Nahrungsmittel und ist eine wichtige Energiequelle für unseren Körper. Tatsächlich ist für den Körper das meiste, was wir essen, nichts anderes als Glukose in abgewandelter Form: Brot, Getreide, Reis, Nudeln, Obst und Gemüse werden in unserem Innern zu Glukose umgewandelt. Ist also von »Blutzucker« die Rede, ist damit Glukose gemeint.
LAKTOSE oder MILCHZUCKER ist ein Disaccharid, besteht also aus zwei Zuckerarten: Glukose (siehe >) und Galaktose (klingt nach einem gigantischen Planeten aus Milch, der von riesigen Kühen beherrscht wird). Laktose kommt nur in Milch vor und ist oft der erste Zucker, den wir schmecken, weil er auch in der Muttermilch enthalten ist.
SACCHAROSE oder KRISTALLZUCKER ist ebenfalls ein Disaccharid, bestehend je zur Hälfte aus Glukose und Fruktose. Zuckerrohr, Zuckerrüben und die meisten Früchte enthalten natürliche Saccharose. Zuckerrohr enthält nur zehn Prozent Saccharose, aber nach dem Raffinieren wird es zu dem, was meine Oma in Mengen in ihren Tee rührte – und die Lebensmittelindustrie fügt es liebend gern verarbeiteten Lebensmitteln hinzu.
FRUKTOSE oder FRUCHTZUCKER ist wie Glukose ein Monosaccharid, d. h. sie besteht aus nur einem Zuckermolekül. Im Gegensatz zur Glukose, die überall in der Natur vorkommt und seit Urzeiten Bestandteil unserer Ernährung ist, ist Fruktose in der Natur eher selten und vor allem in Baumobst, Weintrauben, einigen Wurzeln und in Honig vorhanden. Heute ist Fruktose allgegenwärtig. Während unser Körper jedoch im Lauf der Evolution gelernt hat, mit Glukose klarzukommen, ist die große Menge Fruktose, die wir heutzutage konsumieren, eher problematisch (siehe >).
Die Fruktosequellen unserer Vorfahren waren Honig (aus einem Bienenstock, wenn man es wagte), Obst der Saison, einige Gemüsesorten und der Hinterleib der Honigameise. Heutzutage steckt Fruchtzucker in Obstsäften, Softdrinks, Sportdrinks, Eiscreme, Schokolade, Bonbons und allen anderen Lebensmitteln, die Kristallzucker enthalten (rund achtzig Prozent aller verarbeiteten Lebensmittel), sowie in Honig, Obst, getrockneten Früchten und in Süßungsmitteln wie Agavendicksaft oder Fruktose-Glukose-Sirup.
ANDERE NATÜRLICHE ZUCKERARTEN:
MALTOSE oder MALZZUCKER besteht aus zwei Glukosemolekülen und kommt in gekeimtem Getreide wie Gerste vor. Maltose findet sich normalerweise in Bier.
STEVIA ist eine aus Brasilien und Paraguay stammende Pflanze. Sie erfreut sich zunehmender Beliebtheit als alternatives Süßungsmittel. Manche Leute haben Stevia im Blumentopf auf dem Fensterbrett und zupfen bei Bedarf ein Blättchen ab. Im Supermarkt findet man in der Regel nur (hochgradig) industriell verarbeitete Stevia-Produkte.
DAS FAMILIENALBUM DES ZUCKERS
GEWISSE NAHRUNGSMITTEL, DIE WIR ESSEN, WERDEN AUFGETRENNT, SIE ZERFALLEN ZU TRAUBENZUCKER, DEN UNSER KÖRPER GERN VERBRENNT.
BROT, NUDELN, GEMÜSE UND KORN,
WIRD ALLES ZU TRAUBENZUCKER UND BRINGT UNSER GEHIRN NACH VORN.
ABER AUCH DIE ZELLEN UND ORGANE, VERSTEHT SICH.
GÄBE ES KEINEN TRAUBENZUCKER, GÄBE ES KEINE MENSCHEN WIE DICH.
ALS NÄCHSTES MILCHZUCKER, sO SAMTIG WIE SEIDE.
MIT DIESEM ZUCKER FÄNGT JEDER AN. SCHON AUF DER WEIDE.
ER BEFINDET SICH IN KÄSE, DER MILCH UND IM JOGHURT SOWIESO.
NUR WER IHN NICHT VERTRÄGT, HOCKT STETS AUF DEM KLO.
DER KRISTALLZUCKER IST ES, DER SO VERDRIESSLICH IST UND DEN GANZEN WIRBEL MACHT.
Der eine findet ihn heikel, wo der andere nur lacht.
KRISTALLZUCKER IST DER TAFELZUCKER, DEN WIR HABEN. ER VERSÜSST UNS TEE ODER KAFFEE.
IN DER ZUCKERFAMILIE IST ER DER SÜSSE KLEINE ENGEL – ODER IST DAS NUR EIN KLISCHEE?
FRUCHTZUCKER IST IN DER ZUCKERFAMILIE DAS SCHWARZE SCHAF – DOCH HEUTE EIN STAR.
DENN FRÜHER, DA WAR DIESER FRUCHTZUCKER MEIST WAHNSINNIG RAR.
MAN FAND IHN IN OBST UND IM GEMÜSE. HONIG GAB’S NUR FÜR LEUTE MIT WAGEMUT.
JETZT GIBT ES FRUCHTZUCKER ÜBERALL, UND DAS IST GAR NICHT SO GUT.
UND WIR WISSEN AUCH IMMER, OB FRUCHTZUCKER DRIN IST. DENN ER IST ES, AN DEM EIN JEDER DIE SÜSSE BEMISST.
INDUSTRIELL VERARBEITETER ZUCKER
SACCHAROSE oder Kristallzucker – also der Zucker, den ich während meines Experiments aß – besteht je zur Hälfte aus Glukose und Fruktose. Er findet sich heutzutage in rund achtzig Prozent aller verarbeiteten Lebensmittel und wird aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben hergestellt. Je nachdem, ob beim Raffinieren ein Teil der Melasse im Zucker bleibt oder nicht, hat er eine braune oder weiße Färbung. Manche halten braunen Zucker für eine gesündere Variante, tatsächlich reagiert unser Körper praktisch auf alle Arten von Kristallzucker gleich.
FRUKTOSE-GLUKOSE-SIRUP oder HOCHKONZENTRIERTER MAISSIRUP wird hergestellt, indem man einen Teil der Glukosemoleküle im Mais in Fruktose umwandelt. Der Fruktosegehalt kann zwischen 42 und 90 Prozent liegen und wird in Deutschland auf Lebensmitteletiketten je nachdem als Fruktose-Glukose- oder Glukose-Fruktose-Sirup deklariert. Der Sirup ist preiswert und wird daher vor allem in den USA zum Süßen von Getränken und Lebensmitteln verwendet.
AGAVENSIRUP oder AGAVENDICKSAFT wird aus dem Herz der Agavenpflanze gewonnen, Hauptanbauland ist Mexiko. Er wird als gesunde Alternative zum Zucker vermarktet, angesichts des hohen Fruktosegehalts (90 Prozent) ist er tatsächlich genauso schädlich oder sogar noch schlimmer als Kristallzucker.
AHORNSIRUP wird aus dem Saft des Ahornbaumes gewonnen und besteht zu 66 Prozent aus Saccharose.
KOKOSZUCKER wird aus den Blütenständen der Kokospalme gewonnen. Er besteht zu 70 bis 79 Prozent aus Saccharose. Er enthält einige pflanzliche Nährstoffe, in Studien wurden Mineralien, Antioxidantien und Ballaststoffe nachgewiesen.
PALMZUCKER, oft mit Kokoszucker verwechselt, wird aus dem Saft von Palmyra- und Dattelpalmen gewonnen.
REISMALZ ist ein Sirup, der aus Reisstärke hergestellt wird. Er besteht aus einem Glukose- und einem Maltosemolekül und enthält keine Fruktose. Er gilt als das gesündeste Süßungsmittel für alle, die auf Süßes nicht verzichten möchten.
DIE SÜSSKRAFT
Die Süßkraft der verschiedenen Zuckerarten ist unterschiedlich. Zum Vergleich der Süßegrade wird Saccharose (Kristallzucker) als Maßstab verwendet, die eine Süßkraft von 1,0 hat. (In Klammern habe ich dazugeschrieben, wie ein Zehnjähriger auf den Geschmack reagieren könnte.)
Saccharose 1,0 (Noch mehr bitte!)
Glukose-Fruktose-Sirup 1,0 (Noch mehr, hab ich gesagt!)
Fruktose 1,4 (Ich hab dich echt lieb, Papi.)
Glukose 0,7 (Langweilig.)
Maltose 0,3 (Igittigitt!)
Laktose 0,2 (Das soll Zucker sein?)
Stevia 300 (Wow!)
Beim Genuss von Kristallzucker sorgt vor allem das Fruktosemolekül für den süßen Kick am Gaumen. Man nimmt an, dass Früchte die süße Fruktose entwickelten, damit sie von Tieren gegessen werden, die die Samen an anderer Stelle wieder ausscheiden und weiterverbreiten.
Königin Elisabeth I. war so versessen auf Zucker, dass ihre Zähne verfaulten und schwarz wurden. (Dieses Bild aus Puderzucker stammt von der Künstlerin Marieka Walsh.)
»ZUCKER HAT IN DER VERGANGENHEIT MASSIVE BEVÖLKERUNGSVERSCHIEBUNGEN HERVORGERUFEN … SEINETWEGEN WURDEN BUCHSTÄBLICH MILLIONEN VERSKLAVTER AFRIKANER IN DIE NEUE WELT VERSCHLEPPT.«
SIDNEY MINTZ, AUTOR VON SWEETNESS AND POWER
DIE GESCHICHTE DES ZUCKERS
Erste Berichte über Zucker stammen aus Neuguinea, um 8000 v. Chr. Einem dortigen Mythos zufolge entstand die Menschheit, nachdem sich der erste Mann an einem Zuckerrohrstängel vergangen hatte (muss unglaublich schmerzhaft gewesen sein!). In traditionellen Zeremonien der Ureinwohner schlürften die Priester Zuckerwasser aus Kokosschalen. Heute verwenden sie Coca-Cola.
Um 6000 v. Chr. gelangt Zucker nach Indien und auf die Philippinen.
Im Jahr 327 v. Chr. entdeckt Nearchos, ein Admiral Alexanders des Großen, das Zuckerrohr und erklärt: »In Indien gibt es ein Schilfrohr, das Honig ohne Mithilfe von Bienen hervorbringt und aus dem ein berauschendes Getränk gebraut wird, obgleich die Pflanze keine...